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verschiedene: Die Gartenlaube (1866)

und kleine Säcke und Beutel, alle geöffnet und alle angefüllt mit Proben aller möglichen cerealischen Erzeugnisse. An einigen der Stands bemerkt man außerdem Hinterthüren, die sich entweder in kleine Vorrathsstübchen öffnen, welche nach der Marktzeit zur Aufbewahrung der Proben dienen, oder in Privatzimmerchen, wo der Großhändler seine Correspondenz besorgt, oder mit seinen Kunden wichtige Geschäfte in Ruhe bespricht. Doch diese Stands an den Wänden sind nicht die einzigen Verkaufsplätze. Verkaufsplätze anderer Art befinden sich an den Säulen im innern Raum der Börse. Dort sind es keine hochlehnigen Stühle, Bänke und Tische, sondern kreisrunde, der Form der Säulen angepaßte Holzladen, die ungefähr zwei Fuß hoch bei etwa zwölf Fuß Umfang auf dem Boden ruhen. Ueber diesen untersten und breitesten Laden erheben sich ähnliche von geringerem Umfang; über diesen wieder kleinere im verjüngtesten Maßstabe. Die Kaufleute stehen daneben, und den Verkaufstellen entsprechend, sieht man die untersten Läden mit den größeren Kornsäcken angefüllt, indeß die kleineren und kleinsten im Verhältniß von unten nach oben folgen. Wie sich von selbst versteht, trägt jeder Verkaufsplatz, an den Säulen wie an den Wänden, Schilder mit den Namen der Firmen, deren Waaren ausgestellt sind. Ich betrachtete mir eine Anzahl derselben, um womöglich fremde, deutsche Namen zu entdecken, war jedoch in diesem Bemühen nicht erfolgreich, obgleich die einzigen nicht englischen Worte, die mir in dem Sprachgewirr zu Ohren kamen, deutsche Worte waren. Auch von der israelitischen Physiognomie, die man sonst gewöhnlich mit der Vorstellung einer Kornbörse in Verbindung setzt, fand ich keine Spur. Dagegen wurde ich durch eine andere Einrichtung befähigt, auf den Umfang des in der alten Kornbörse getriebenen Handels einen Schluß zu ziehen. Die Verkaufsplätze sind nämlich außer mit den Namen der Firmen auch mit fortlaufenden Nummern versehen und die höchste mir zu Gesicht kommende Nummer war die Zahl vierundachtzig, woraus sich die bemerkenswerthe Thatsache ergiebt, daß innerhalb der alten Kornbörse nicht weniger als vierundachtzig Kornhandlungshäuser en gros vertreten sind.

Um diese Verkaufsplätze herum, durch das Hauptschiff, durch die Seitenschiffe, durch die Passagen, drängt und wogt der summende geschäftige Menschenschwarm, der die Börse am Markttage füllt. Neben dem eleganten, feingekleideten Citymann sieht man den wohlbeleibten provinciellen John Bull, in altmodischem Frack, in Lederhosen und Stulpenstiefeln; neben dem blassen, grauröckigen Mühlenbesitzer den Supercargo mit pelzverbrämter Mütze und wettergebräunten, pockennarbigen Zügen; neben dem stattlichen Kaufmann, der satt und vornehm mit dem Gold in seiner Tasche klimpert, den kleinen Agenten, der unruhig von Ort zu Ort eilt, den Commis, der an dem Pult seines Verkaufsplatzes eifrig in Courantzettel und Rechnungsbücher vertieft ist. An dieser Säule conversirt eine Gruppe Börsenmänner über Kornschiffe, die von Odessa und Asow, an jener eine andere über Sendungen, die von Danzig und Reval, oder von New-York erwartet werden. Dort an den Verkaufsplätzen in den Passagen bespricht man die Aussichten des Korngeschäfts in Schottland und Irland, oder in Kent und Essex (den vorzugsweise auf dem Londoner Kornmarkt vertretenen Grafschaften Englands), und ein paar hingeworfene Worte geben so ein Bild der gewaltigen Operationen, welche von diesem Mittelpunkte aus und nach ihm zu den Handel ferner Continente und Meere sich bewegen. Kein Klang von Gold und Silber unterbricht das Rauschen der Conversation, die sich um den Austausch von Tausenden und Hunderttausenden dreht. Man sieht nichts als die Probesäckchen an den Verkaufstellen, als die gedruckten und geschriebenen Zettel, die an den Comptoirs von Hand zu Hand wandern. Aber jedes Säckchen mit Proben repräsentirt ein fruchttragendes Ackerfeld; jede Verkaufsstelle hochgespeicherte Vorrathskammern in den Waarenhäusern an der Themse und schwerbeladene Kauffahrteischiffe auf der Ostsee, dem Schwarzen Meere, dem Atlantischen Ocean; jeder Wechsel und jede Bestellung Erzeugnisse, welche Tausende von hungrigen Mägen mit Nahrung füllen und im besten Falle Käufern und Verkäufern zu gleichem Gewinnste ausschlagen werden. In allen diesen Dingen trägt (wie es in einer Stadt wie London ganz in der Ordnung ist) die Kornbörse einen entschieden großhändlerischen Anstrich, und wenn etwas geeignet ist, den Eindruck dieses großhändlerischen Wesens zu verstärken, so ist dies die durchgehende Nonchalance des Verkehrs, die sorglose Verschwendung, mit welcher die Habitués der Börse an den Verkaufstellen herumoperiren und den Inhalt der Probesäckchen verstreuen. Daß der Käufer die Güte des Artikels nicht ohne Weiteres auf Treu und Glauben annimmt, sondern sie auf die Probe stellt, ist nicht mehr als billig, und wenn die Kornbörsenmänner sich begnügten, die Körner in den Händen zu sichten und zu wägen, oder auch zum Zeitvertreib daran zu knuspern und zu beißen, so könnte das nicht weiter überraschen. Aber die Kornbörse sichtet und wägt und knuspert und kaut nicht allein, sie schüttelt sich auch gleichsam und streut den goldenen Regen nach allen Seiten aus. Hundert Mal sieht man, bald an dieser, bald an jener Verkaufstelle, dasselbe Manöver intendirender Käufer wiederholt. Der Käufer tritt heran, stößt seine Hand tief in einen Getreidesack, sichtet und wägt das herausgenommene Korn, beriecht es, ob es feucht oder trocken, behält ein oder zwei Körner im Munde und läßt endlich den Rest nachlässig auf die Erde fallen. So geschieht es, daß, indem die Zeit vorrückt, der ganze Steinboden der Börse dichter und dichter mit Korn bedeckt wird, bis die Menge im eigentlichsten Sinne des Wortes nicht mehr auf dem Stein-, sondern auf einem Kornboden umherwandert.

Indem nun Tausende von Füßen über diese Aussaat hinstreichen, vermischt sie sich zu einem Ganzen, in dem es schwer halten würde, den Antheil der einzelnen Verkaufstellen zu bestimmen. Neugierige Köpfe haben daher speculirt, was aus diesem Kehricht der Kornbörse wird, wem er zu gute kommt. Denn Korn bleibt Korn, und wenn die Füße der Börsenmänner es für die Zwecke menschlicher Nahrung verderben, so behält es doch als Futter für Hühner, Enten, Schweine und Pferde seinen Werth, und was die verschüttete Quantität angeht, so möchte es an den Hauptmarkttagen nicht schwer sein, ein Dutzend Säcke damit zu füllen. Der Sage nach (denn auch die Londoner Kornbörse hat ihren Sagenkreis) fiel dieser Schatz in den guten alten Zeiten dem Feger (sweeper) der Börse anheim und der Mann machte damit ein brillantes Geschäft, hatte eine Einnahme von etwa eintausend fünfhundert Pfund Sterling jährlich und wurde, wie kaum versichert zu werden braucht, ein Gentleman, der eine elegante Villa in der Nähe von London bewohnte, Diener und Wagen und Pferde hielt und nur an den Markttagen in die Stadt fuhr, um das Einfegen des Kornes durch die von ihm besoldeten „Unterfeger“ zu beaufsichtigen. Aber ach! diese guten alten Zeiten sind dahin und der nivellirenden Geist unserer Tage hat, wie so manchen andern Sinecuren, auch der des „Fegers“ der Londoner Kornbörse ein Ende gemacht. Das Börsencomité hat den Kehricht als gemeinsames Börseneigenthum in Anspruch genommen und eine Anzahl „Feger“, die keine Gentlemen sind, besorgen das Geschäft und der Ertrag fließt in die Generalcasse der Börse, die ihn nach Gutdünken verwendet.

Tritt man aus der alten in die neue Kornbörse, so findet man in allen Hauptstücken dieselbe äußere Einrichtung, dasselbe Leben und Treiben. Die Architektur ist womöglich noch schmuckloser als drüben, aber die kirchenstuhlartigen Verkaufstellen mit den Zimmerchen dahinter und eine Anzahl Säulen mit den in verjüngtem Maßstabe aufsteigenden Laden findet man auch hier. Auch hier herrscht dieselbe Nonchalance des Verkehrs, auch hier knuspert und kaut und sichtet und wägt Alles, und auch hier liegt der Boden voll von verschüttetem Korn. Uebrigens ist der Verkaufskatalog der Kornbörse keineswegs auf diejenigen Cerealien beschränkt, die gemeinhin unter dem Namen „Korn“ zusammengefaßt werden. Neben den Säcken mit Weizen und Roggen, mit Gerste und Hafer stehen Säcke und Säckchen mit Bohnen und Erbsen, mit Raps- und Leinsamen, mit Mais und Johannisbrod. Ja, das schöne Johannisbrod, das uns in unserer Jugend so herrlich schmeckte, wird hier als Pferdefutter verkauft. Auch fertig fabricirtes Pferde- und Viehfutter in Form von cerealischen Kuchen ist ausgestellt und an mehreren Verkaufstellen handelt man ausschließlich mit Mehl. Nahe am Eingang haben die Agenten eines Sack- und Taugeschäfts und nicht weit davon die Agenten verschiedener Eisenbahn-, Dampfschiff- und Canalcompagnien ihre Bureaus aufgeschlagen, um Aufträge wegen Güterbeförderung in Empfang zu nehmen. Kurz, es fehlt an keinem cerealischen Producte und die Industrie, welche dieselben verarbeitet, der Handel, der sie zu allgemeinem Nutzen vertreibt, springen allerorten in die Augen.

Aus dem Innern der neuen Kornbörse führt eine Thür in das neue Corn Exchange Hotel, wo den Mitgliedern eine

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verschiedene: Die Gartenlaube (1866). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1866, Seite 576. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1866)_576.jpg&oldid=- (Version vom 12.12.2020)