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verschiedene: Die Gartenlaube (1866)

„Ich – glaube nicht!“

„Ich glaub’s auch nicht,“ sagte Vroni. „Aber sag’ Niemandem etwas von der ganzen Sache. Jetzt steht Alles anders. Wenn Du ein Wort sagtest, ich könnte den größten Verdruß haben. Herr Seeburg wird mich nicht heirathen – was meinst Du?“

„Ja, freilich, das thut er schwerlich.“

„Er thut es nicht. Man darf gar nicht dran denken,“ sagte Vroni. „Träume sind Träume.“ Sie ging in’s Haus.




Drei bis vier Wochen waren vergangen, ohne daß Seeburg eine Nachricht von seinem Gebirgsmädchen erhalten hätte. Nicht einmal die Bestätigung des Empfangs der Kette war eingetroffen. Er wartete und wartete und überließ sich dem ganzen Heer von Besorgnissen und Zweifeln, welchen liebende Herzen in ähnlichen Fällen unterliegen. Zu allen möglichen Annahmen hatte er Zuflucht genommen, um die saumselige Geliebte zu entschuldigen und sich süß zu täuschen. Er nahm an, daß das Geschenk nicht in ihre Hand gekommen, daß Vroni schwer erkrankt sei, daß sie, durch ganz besondere Schicksale verhindert, nicht schreiben könne. Nur das Richtige, daß sie einen Andern gefunden habe, das fiel ihm nie ein.

Vroni hatte ihm erzählt, welche wilde Gebirgspfade sie oft zur Winterszeit gehe, wenn diese durch hohen Schnee doppelt gefährlich geworden, und wie manches Opfer auf solchen Wanderungen, von Schneestürmen überrascht, verweht worden und erfroren sei. Schaudernd malte er sich eine solche Katastrophe mit allen Details aus und nahm lieber an, daß Vroni erfroren, als blos, bildlich gesprochen, erkaltet sei.

Sie hatte ihm oft erzählt, wie auf dem See, der selbst im strengsten Winter nie ganz zufriere, die Stürme wütheten und wie oft Kähne, welche Leute vom Markt heimführten, umgeschlagen und zu Grunde gegangen seien. Er erinnerte sich daran und nahm eher an, daß Vroni bei einem solchen Sturme ertrunken, als daß ihre Liebe untergegangen sei.

Vroni war indeß aus dem Dienste getreten und in’s Wirthshaus ihrer zukünftigen Schwiegerelten übersiedelt, die Hochzeit sollte schon im Fasching stattfinden. Ihr neuer Aufenthaltsort war mehrere Meilen weit entfernt und lag im tiefsten Gebirge. Umsonst hatte sie der Schulmeister, der gern einen Gulden verdient hätte, jedesmal, wenn er sie an Markttagen oder an Kirchfesten sah und in Abwesenheit ihres Bräutigams sprechen konnte, gemahnt, Herrn Seeburg zu schreiben. Sie kam zu keinem Entschlusse.

Weihnachten stand vor der Thür. Der Schullehrer saß zu Hause, im übelsten Humor. Seine bereits chronisch gewordene Geldklemme hatte wieder einen unerträglich acuten Charakter gewonnen. Er wußte nicht, wo aus, wo ein. Alle Credite waren erschöpft. Von allen Seiten gemahnt, konnte er nirgends zahlen; doch daran war er gewöhnt, eine neue Schuld jedoch, die erst seit dem vorigen Abend hinzugekommen, brachte ihn zur Verzweiflung. Sie betrug zwar nur sieben Gulden, aber es war anvertrautes Geld, das er für seinen Chef, den Herrn Pfarrer, für Stolagebühren eingetrieben und im Kartenspiel leichtsinnig verloren hatte.

„Was fang’ ich nur an?“ klagte er verzweiflungsvoll. „Wo leihen und nicht stehlen? Ich weiß keinen Menschen auf Gottes weitem Erdboden, der mir die sieben Gulden leiht. Der Pfarrer wartet auf’s Geld, wie der Teufel auf die Seele. Ich kann ihn kaum ein paar Tage lang hinhalten. Die Vroni, die einzige Seele, die mir was geliehen hätte, ist fortgezogen. Was fange ich an?“

Nach längerem Nachdenken fuhr er fort: „Wie wäre es, wenn ich – vielleicht gelingt’s – wenn ich im Namen der Vroni Herrn Seeburg für die Halskette dankte und ihn ersuchte, mir mit sieben Gulden auszuhelfen? Ja, wenn ich wüßte, daß er das Geld schickte, dann setzte ich mich über Alles hinweg. Aber: ‚Was?‘ wird er sagen, ‚die Vroni dankt mir nicht früher für Eines, als bis sie das Zweite verlangt?‘ Da hätte ich eine unsaubere Handlung begangen, die Gott weiß was für ein schlechtes Ende nehmen kann, und nichts dafür erhalten! Es geht nicht, es geht nicht! Dummes Zeug!“

Da klopfte es, die „Pfarrköchin“ trat ein, die sieben Gulden abzuholen. Die Bestürzung Balthasar Saiblinger’s war unbeschreiblich. Stotternd entschuldigte er sich und sagte, daß er aus Mangel an Zeit das Geld nicht eingetrieben habe. Er versprach, es sobald als möglich zu bringen. Dieser Zwischenfall hatte zur Folge, daß es ihn trieb, allen Gewissensbissen zum Trotz da anzuklopfen, wo noch der stärkste Hoffnungsschimmer einer Erhörung dämmerte. Er beschloß, vor Seeburg sein schweres Herz auszuschütten. Er ging zum Krämer hinüber und kaufte einen Briefbogen, auf dessen Randvignette ein brennendes Herz, von einem Taubenpaar umflattert, abgebildet war. Wieder in seiner Stube angelangt, setzte er sich hin und schrieb, das Bewußtsein seiner äußersten Geldnoth als Inspiration citirend, Folgendes:

     „Heißgeliebter Herr Seeburg!

Sie sind mir wohl sehr böse, daß ich so lange nicht geschrieben. O, wüßten Sie meine Lage! Sie würden eher weinen, als mir Vorwürfe machen. Oft denke ich: wenn er es wüßte, er würde mir gleich helfen! Zu meinem Unglück hab’ ich noch gestern Abend sieben Gulden verloren.“

Er hielt inne, überlas das Geschriebene und rief: „Da fall’ ich schrecklich mit der Thür in’s Haus! Ist es gut? Klar ist es und die Hauptsache ist gesagt; jetzt muß ich recht schwärmen oder, wie die Vroni sagt, recht närrisch thun.“

Er nahm ein paar starke Prisen aus der Dose und schrieb weiter: „Das ist freilich für ein armes Geschöpf, wie ich, ein Unglück, aber was würde ich mir daraus machen, wenn Sie, Herr Seeburg, da wären und ich an Ihrem Herzen ausruhen könnte! O, warum sind Sie hergekommen, o, warum haben Sie so viel schöne Worte gesprochen – Ihre Betheuerungen – aber es war doch eine selige Zeit! Jetzt härme ich mich und magere ab, – wenn Sie sehen würden, wie ich aussehe –“

Als er dies zu Papier gebracht, rief er aus: „Gott behüte, daß er mich sehe! Da hätte er eine schöne Freude!“

Mit schmunzelndem Lächeln und sich hinter dem Ohr kratzend fuhr er wieder fort: „Ich habe immer darüber gelacht, wenn ich hörte, daß ein Mädchen aus Liebe in’s Wasser gesprungen sei. Wenn ich jetzt vor unserem Wirthshaus am See stehe, so überfällt es mich so sonderbar, daß ich mich besinnen und mich zurückhalten muß, um nicht kopfüber zu stürzen!“

„Das ist ein bischen stark,“ murmelte Saiblinger, diesen Absatz prüfend. „Aber das schadet nichts! Je stärker, desto besser, desto sicherer wirkt es.“

Er fuhr fort: „Nennen Sie mich immerhin eine Närrin, wenn ich so spreche, aber wer hat mich so närrisch gemacht? Noch tröste ich mich, wenn ich denke, daß Sie im Frühjahr wiederkommen, aber wenn Sie nicht kommen sollten, dann wehe meinem armen Verstande!“

„Ganz gut,“ murmelte Saiblinger, diese Stelle überlesend. „Ganz gut. Nun noch eine Anspielung auf die sieben Gulden und zum Schluß etwas Rührendes!“

Er zog die buschigen, grauen Augenbrauen in die Höhe, den großen, unschönen Mund in die Breite und sagte unter der Wucht schweren Nachdenkens: „Wie komme ich nur wieder auf die sieben Gulden?“ Da durchleuchtete ihn ein Gedanke, er schrieb: „Eine Cameradin, der ich meine Noth geklagt, hat mir gerathen, die schöne Halskette, die ich von Ihnen habe, zu versetzen. Nicht für alle Schätze der Welt thäte ich das, viel weniger um sieben Gulden. Von der Halskette kann ich mich nicht trennen und wenn mich Gott so verlassen sollte, daß ich in’s Wasser spränge, so wird man, wenn man meinen Leichnam hervorzieht, Ihr Geschenk an meinem Halse finden.

Wie ich mich nach Ihrem Briefe sehne, kann ich Ihnen nicht sagen. Jede Stunde bis dahin werde ich zählen und ihn dem Postboten aus den Händen reißen. Eine zarte Ahnung sagt mir, daß ich darin Trost finde und den Balsam für mein Herz, den ich so dringend brauche!

Leben Sie wohl! Und gleich schreiben, gleich! Thränen ersticken mir die Stimme. Kaum habe ich die Kraft, die Feder zu halten. Seeburg, wenn Du mich verlassen könntest und wenn Dein Brief nicht das enthielte, wonach ich in meiner Herzensangst schmachte, so weiß ich nicht, was aus mir werden soll. Ach, wie drückt mich das Herz! Wie sprengt es meinen Busen! Doch einer Deiner Briefe machte Alles gut. Sei nochmals umarmt, theuerstes Herz! Noch diesen heißen Kuß von

Deiner armen     

20. December.

Veronica Schöllerin.




Seeburg hatte eben beim Postschluß dringend viel zu thun, als er diesen Brief erhielt. Dennoch ließ er Alles gehen und

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verschiedene: Die Gartenlaube (1866). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1866, Seite 555. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1866)_555.jpg&oldid=- (Version vom 12.12.2020)