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verschiedene: Die Gartenlaube (1866)

mit dem Speisesaal anschließt, diese Caserne der Gastlichkeit mit ihren dreihundert Zimmern, ihren endlosen Corridoren, ihren Haupt- und Nebentreppen; gleich gegenüber dem Haupteingang die Portierloge mit dem Ministerium des Aeußeren und das Comptoir mit dem Ministerium des Innern, auf zwei riesigen Tafeln, gegen welche die Tafeln vom Sinai und die der Decemvirn verschwinden, die Häupter seiner Lieben nennend und zählend, die sich unter seinem gastlichen Dache versammelt haben! Und drinnen summt’s und schwirrt’s wie ein großer Bienenstock, denn das Haus ist voll bis in die Mansarden; in allen Corridoren schöne und häßliche Welt, „Kinder jammern, Mütter irren“ und Geheimräthe gehen so stattlich einher, als gingen sie über die Berliner Wilhelmsstraße.

Alle Vorurtheile schwinden mehr und mehr, auch in Bezug auf Reisen und Naturgenuß. Das lehren uns die Gesellschaftsreisen und das Hotel Zehnpfund in Thale. Früher glaubte man, die Natur am besten in stiller Einsamkeit zu genießen; jetzt rückt man ihr en masse auf den Leib, um ihr abzuzwingen, was sie uns nicht offenbaren will. Die ägyptischen Sphinxe sperren ihre Glotzaugen weit auf, wenn eine solche Louis Stangen’sche Gesellschaft ihre Steinbusen und Fischschwänze betastet und die Memnonssäule erklingt plötzlich wie in den Strahlen der aufgehenden Sonne, wenn sie so viel auf gemeinsame Kosten reisende Intelligenz sich gegenüber sieht. Ebenso ist’s mit den Villeggiaturen. Früher suchte man sich ein ländliches Häuschen am plaudernden Bach, ja selbst eine Bergmanns- und Köhlerhütte, um auf den Spuren der Mutter Natur zu gehen; jetzt genießt man „Comfort“ in größter Gesellschaft, im Umgang mit den lieben Nachbarn, welche derselbe Bahnzug am Fuße der Berge ausgespieen, in einem Riesenhotel, welches einem Phalanstère zum Verwechseln ähnlich sieht, nur daß in diesem Phalanstère gar nicht gearbeitet wird, daß das Familienglück in himmelschreiender Weise überwiegt und daß die freie Liebe nur die Ausnahme, nicht die Regel bildet.

Als wir ankamen, fanden wir die Table d’hôte so vollkommen besetzt, daß kein Platz für uns übrig war. Diese Ueberfüllung bei so wenig günstigem Wetter verdankte das Hotel Zehnpfund der Cholera. Meist waren es Choleraflüchtlinge aus Berlin und Stettin, welche die Gabeln, Teller und Gläser hier klappern ließen. Es war ein erbaulicher und großartiger Anblick, so viel essende Menschheit beisammen zu sehen. Dazu kommt das wohlthuende Gefühl, daß durch keinerlei Toaste oder sonstige geistige Störungen so frische und resolute Arbeit unterbrochen wird. Die vollkommene Hingabe an die Sache war bei jedem Einzelnen unverkennbar. Wir trennten uns um so schwerer von dem erhabenen Naturschauspiel, je schmerzlicher wir es empfanden, von dieser Weide abgesperrt zu sein. In ärgerlicher studentischer Stimmung verwünschten wir dieses Karawanserai mit sämmtlichen Kameelen, die hier gefüttert wurden, und flüchteten uns in die Bahnhofsrestauration, wo noch immer die Firma Zehnpfund ihre Flügel über uns ausbreitete. Anfangs waren wir erstaunt, als wir lauter Tassen und Teller, von denen kein einziges Stück, obgleich von dem gewöhnlichen leichten Gewicht, ohne das Zeichen 10 lb war, vor uns sahen, bis wir merkten, das sei das geheimnißvolle Pentagramm des Hotelbesitzers, das gewiß nicht blos auf die Schüsseln, sondern auch auf die Gäste seine magisch fesselnde Wirkung ausüben soll.

Unser erster Besuch galt dem Fräulein Selke, dem anspruchslosesten von den Harzfräuleins. Doch war kein officieller Führer aufzutreiben; trotz der zahllosen Drohnen, die im Bienenstock des Hotels sich füttern ließen, war auch eine nicht geringe Zahl seiner Insassen ausgeschwärmt. Ein Arbeiter aus der „Blechhütte“ geleitete uns durch das Steinthal hinauf, vorüber bei einigen keck aufgeworfenen Felsenmassen von Granit, mit freundlichem Rückblick durch das offene Land, immer bergauf durch Felsen und Wald. Die verregneten Wege waren etwas einförmig, die Waldeinsamkeit feucht und unwirthlich. Wir wanderten lange durch die verschiedenartigsten Waldpartien, bis wir kurz vor dem Dörfchen Friedrichsbrunn das Freie gewannen und mit einem Blick auf die blaue Kuppe des Brockens und seine Nachbarn aus dem Oberharz belohnt wurden. Die Winteridylle des hochgelegenen Dörfchens soll eine unerquickliche sein, denn die Häuser sind dann bis an die Dächer in Schnee vergraben. Von hier wandten wir uns dem Brocken des Niederharzes zu, dem Ramberg mit der gefeierten Victorshöhe. Dieser Berg ist von einem Kranz der schönsten lichten Buchenwälder umgeben, welche hin und wieder von einem verworrenen Tannendickicht abgelöst werden. Die Sonne neigte sich zum Untergang, der glühende Abendhimmel blickte blutfarben durch das Geäste:

Wie sanft in diesen grünen Hallen
Die Sonne durch die Zweige blickt,
Und in das Nest der Nachtigallen
Die letzten frommen Strahlen schickt.

Schon steh’n die Wipfel leis umdunkelt,
Doch all’ die schlanken Stämme glüh’n,
Der tief versteckte Waldsee funkelt
Und Lichter durch die Büsche sprüh’n.

Wie sanft dein abendlich Verbluten,
Dein Niedergang, wie friedlich mild!
Doch ach, ich sah in diesen Gluthen
Den Wiederschein vom Schlachtgefild.

Das ist ein Sterben, qualzerrissen
Das Herz und von den Lieben fern;
Hell strahlt mir in den Finsternissen.
Des Ruhmes Glanz, des Sieges Stern.

So neige dich, Erbarmen, nieder,
Zu jedem heil’gen Dienst bereit,
Und streu’ auf müde Augenlider
Den süßen Mohn: Vergessenheit!

Und wie die Sonne mögst du weben
Um’s Nachtgewölk den Purpursaum,
Mit Bildern friedensreich umschweben,
Verklärend jeden Fiebertraum!

Kurz ehe man die Victorshöhe erreicht, wandert man bei einer Felsengruppe vorüber, welche den Namen die Teufelsmühle führt. Unser Cicerone erzählte uns die Sage aus grauer Vorzeit, die sich an diese Felsen knüpft.[WS 1] Der gute Mann war der thörichten Ansicht, daß die Teufelsmühle jetzt nicht mehr mahle, sondern stille stehe. Und doch hört, wer feinere Ohren hat, noch immer das Geräusch ihrer Räder, und mit guten Augen erkennt man deutlich die Esel, welche die Säcke in diese Mühle tragen! Das bescheidene Forsthäuschen und der hochragende Aussichtsthurm auf der Höhe selbst stehen in einem auffallenden Contrast. Diese Aussichtsthürme mit ihren gerühmten Panoramen, diese hölzernen Gerüste unterbrechen unsern Zusammenhang mit der Natur in störender Weise; wir fühlen nicht mehr den grünen Waldboden unter unsern Füßen. Der Natur wird eine künstliche Etage aufgesetzt; lieber den steilsten Felsen erklettern, als diese bequemen Holztreppen. Auch geht es diesen Aussichtsthürmen, wie den berühmten Concertgebern: sie halten ihr Programm nicht ein. Bald ist der Brocken finster geworden und schnarcht mit vorgeschobenem Schleier in seinem Himmelsbette, bald ist der Dom zu Magdeburg durch irgend eine Benebelung verhindert mitzuwirken. Was soll man nicht Alles von der Victorshöhe sehen, wenn man die Herren Berlepsch und Bädeker befragt oder den Dichter, der die Herrlichkeiten dieses Rundgemäldes besungen hat, ohne einen einzigen Kirchthurm auszulassen! Und zuletzt ist man glücklich, wenn man mit dem Fernrohr die Thürme von Quedlinburg erblickt und eine leise Ahnung von Halberstadt vor unserer Seele aufdämmert. Ringsum freilich sind herrliche Waldhügel, und der tiefer Gebildete weiß, daß es herzoglich anhaltinische Forsten sind, welche ihm mit ihren Wipfeln zunicken. Man sieht auch die Einschnitte, in denen die Betten der Selke und der Bode sich befinden, diese Damen selbst aber sind, wenn nicht zu verschämt, doch zu vornehm, sich so von oben herab betrachten zu lassen. Dörfer und Städte sieht man genug in der Ebene, sie liegen aber da wie auf einer Landkarte hingezeichnet. Auf einen andern Aussichtspunkt, die Josephshöhe bei Stolberg, blickt man mit verachtender Rivalität herab. Die Gipfel des Oberharzes standen etwas verschleiert in dämmernden Umrissen. Blau war die Ferne, wie das Auge der gnädigen Frau, die mit dem Professor aus Berlin und einem großen Fernrohr auf dem Holzthurm stand und bei jeder neuen Entdeckung auf dem Gesichtsfelde des Teleskops den Professor aufschlug wie ein geographisches Lexikon. Und seine Weisheit war so galant, niemals zu versagen. Kirchthurm auf Kirchthurm erhielt seine Etikette, die gnädige Frau war so vertieft in dieses Kirchthurmrennen, daß sie nur wenig Zeit übrig behielt, über die ehrwürdige Gelehrsamkeit hinweg mit uns andern Sterblichen zu kokettiren.

Ich aber achtete nicht auf die einzige Naturschönheit, welche der hölzerne Thurm selbst besaß; denn ein ferner Berg fesselte meine Blicke und meine Seele wie mit magischer Gewalt. Es ist ein Berg wie die andern und der Professor wußte von ihm zu

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