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verschiedene: Die Gartenlaube (1866)

ist und zu wirthschaftlichen Zwecken verwendet wird. Da, wo einst der nordwestliche Eckthurm gestanden, dem gewaltig aus der Tiefe heraufstarrenden „Mehlsack“ gerade gegenüber, steht ein mit zahlreichen Glasfenstern versehener Pavillon, der Lieblingsplatz der Ravensburger Stammgäste. Hierher führten mich meine Zwangsgastfreunde, hier ist die Zinne ihres Tempels, von wo ich ihre Herrlichkeiten bewundern sollte. Und ich that’s aus vollem Herzen. Tritt man an die Mauerzinne der Westseite, so blickt man wie aus der Vogelflugperspective nach der in unmittelbarer Nähe unten liegenden Stadt mit ihren grauen Mauern und Thürmen. Die langgestreckten Bahnhofsgebäude jenseits der Stadt und die dampfenden Kamine der um die Stadt zerstreuten Fabriken fügen das Bild des modernen Culturlebens zum alterthümlichen Wesen. Nordwärts schweift der Blick an den residenzartigen Klostergebäuden von Weingarten vorbei nach den waldigen Höhen, welche die Wasserscheide zwischen Bodensee und Donaugegend bilden. Westlich glänzen im Morgenlichte die zahlreichen Landsitze der Ravensburger und die Hofgüter der „lateinischen Bauern“, wie man hier zu Lande die akademisch gebildeten Oekonomen zu nennen beliebt.

An hellem Tage bietet nach Süden hin, dem Schussenthale entlang, das herrliche Alpengebirge ein Panorama, das in Verbindung mit so fruchtbarem, vielbelebtem Vordergrund nur an wenigen Punkten des südlichen Schwabens zu finden ist. Bis tief in das Innere der Schweiz dringt der Blick von den nahen Appenzeller Bergen bis zu dem gegen vierzig Stunden entfernten Berner Oberland. Der gewaltig dominirende Säntis, in gerader Linie fünfzehn Stunden entfernt, bildet den westlichen Flügelmann der aus alpinischer Kreide bestehenden Alpsteingruppe, den östlichen der nahezu gleichhohe Alte Mann. In der Einsattlung zwischen den beiden Riesen streckt der Wildhauser Schafberg sein zierliches Pyramidenhaupt empor; an seinem Fuße ist in der noch erhaltenen schwarzen Hütte Zwingli geboren. Ueber dem am jenseitigen Seeufer sichtbaren Arbon erglänzen die eisigen Firnen des Hausstocks, darunter die westlichen Glieder der Churfirstenkette und aus den grünen Matten der unteren Stufen schimmern in der Abendbeleuchtung, gleich flimmernden Sternen, die den Sonnenstrahl reflectirenden Fenster der Gebäude von St. Gallen. Wer nennt die Berge und Thäler, die Hörner und Schluchten all’, die dort drüben leuchten und dunkeln? Und was hätten wir auch von alle den Namen! Kurz, die Schweiz zeigt uns auf dieser Welfenburg ihr Reizendstes, die Riesen der Alpen und die Geister der Geschichte der Alpenvölker reden gleich mächtig zu uns herüber, das Auge wagt seine kühnsten Sprünge vom Berner Oberland bis zum Silberspiegel des Bodensees bei Romanshorn und wieder hinauf zu den drei Wetterhörnern, die so regelmäßig geformt sind, wie die drei großen Pyramiden von Memphis, und läßt endlich das Dreigestirn Mönch, Jungfrau und Eiger den Reigen schließen.

„Ja, Ihr Männer, hier oben war’s schwer, ein Welfe sein und nicht nach Deutschlands Kaiserkrone greifen! Ueber Alles, was das Auge hier sieht, erstreckte sich des Reiches Scepter, – und Herrlicheres kann das Auge nicht sehen! Habt Dank für den Zwang, der mich so hoch erhoben! Nun sollen Tausende von Deutschen es durch die ‚Gartenlaube‘ erfahren, welches Kleinod Ravensburg für Jeden bietet, der ein solches Rundbild hoch genug zu schätzen weiß!“

„Bravo!“ riefen die Männer, und mein Reisenachbar nahm das Wort: „Es ist unsern Altvordern da drunten im Thale nicht billig zu stehen gekommen, dieses Kleinod auf dem Berge. Die Burg ist älter, als die Stadt, und diese verdankt jener auch ihren Namen, denn sie selbst hieß in der ältesten Zeit die Ravensburg, und nur weil sie eine dem St. Vitus geweihte Capelle umschloß, nannte man, als der Name Ravensburg längst auf die Stadt übergegangen war, die Burg Veitsburg. – Auch die Stadt ist eine echte Welfengründung. Welf der Zweite war es, der um das Jahr 1000 für seine Ministerialen den alten Häuserkern baute, dessen Erker und Gewölbe bis heute der Zeit getrotzt haben und um welchen die Stadt sich allgemach ansetzte. Dieser Welf erhob die Ravensburg zu seinem ständigen Sitz und sein Sohn nannte sich sogar Welf von Ravensburg – und von diesem Augenblick an spielt sie eine nicht geringe Rolle in der deutschen Geschichte. Hierher brachte der Welfe Heinrich, Herzog von Baiern, seinen Feind, Graf Conrad von Wolfratshausen, und 1125 seine Gattin Gertrud, Kaiser Lothar’s Tochter, nach den Vermählungsfeierlichkeiten zu Gunzlach in Baiern. Hier wurde Heinrich der Löwe, Heinrich’s des Schwarzen Sohn, um 1128 geboren und hat der Stolzeste der Welfen, der einen Barbarossa vor sich auf den Knieen liegen sah, der Stammvater der Welfen von England, Hannover und Braunschweig, seine ersten Lebenstage zugebracht. Aber unter Barbarossa ging auch die Burg mit der seit 1138 ummauerten Stadt aus dem Welfischen Besitz in den Hohenstaufischen über. Das erzählt unser Stälin in seiner Geschichte von Württemberg ungefähr so: ‚Nach einem vielbewegten Leben, nach Römerzügen und Kreuzfahrt, verlebte Welf, der Sechste seines Namens, die späteren Tage seines Lebens, vom politischen Schauplatz zurückgezogen, auf seinen oberschwäbischen Besitzungen, wo er Festgelagen und Jagden und andern minder gefährlichen Abenteuern nachging, geldarme Glücksritter beherbergte, prächtige Kleidungen und Waffen verschenkte und darüber in Geldverlegenheiten gerieth. Sein einziger Sohn war ihm in der hoffnungsvollsten Blüthe seiner Jahre von der Pest in Italien weggerafft worden und sein Neffe, Heinrich der Löwe, der der Erbe seiner Güter werden sollte, verscherzte seine Gunst, indem er dem alten, genußsüchtigen Welfen aus kurzsichtiger Sparsamkeit das Geld verweigerte, dessen derselbe bedurfte, um sich aus seinen Geldverlegenheiten zu ziehen. Um so bereitwilliger kam ihm der Kaiser Friedrich Barbarossa mit großen Geldsummen zu Hülfe. Zum Lohne hierfür wurden dem Kaiser und seinem Hause die oberschwäbischen Güter auf die Zeit des Ablebens des alten Welf zugesichert und schon während dessen Lebzeiten Einiges zu eigen gegeben. So kam die Ravensburg in friedlicher Weise aus der Welfen Hand in den Besitz der Hohenstaufen.‘“

– „Wunderbares Schicksal, das nur eines so geringen Mittels bedurfte, um die mächtigste deutsche Dynastie jener Zeit, deren Gebiet, ein wahres Welfenreich, von den Gestaden der Nord- und Ostsee bis zu den Alpen und bis zum adriatischen Meer reichte, so zu erschüttern, daß sie die Grundsäule ihrer Macht in Süddeutschland verlor, um später dem Norden allein noch anzugehören – und selbst dort in unsern Tagen so traurig zu enden!“

– „Sie haben Recht, norddeutscher Landsmann!“ erwiderte mir mein Burgfreund, „umsomehr ist es zu beklagen, daß auch dem Süden kein Heil daraus erwuchs – schon damals nicht – und Gott weiß, ob heute! – Aber gehen wir zur alten Zeit zurück. Auch die Hohenstaufischen Herrscher hielten ihre Hoftage oft auf der Ravensburg. Hier thronte im Jahr 1203 der unglückliche Philipp von Schwaben, damals noch ein Jüngling von blonden Haaren, der Gemahl der griechischen Kaisertochter Irene, und um ihn her ein glänzender Hofstaat von Rittern und Knappen. Auch der letzte Hohenstaufe, jener unglückliche Heldenjüngling Conradin, hielt sich kurz vor seinem verhängnißvollen Zuge nach Italien längere Zeit hier oben auf, und während er der scheinbaren Ruhe sich hingab, im Anblick des herrlichen Schussenthals und der helvetischen Schneegebirge, sang das Volk Spottlieder auf den müßigen Jüngling. Nach der traurigen Zeit des Interregnums kam durch die Wahl der Fürsten Rudolph von Habsburg auf den Thron, und er war es, der 1276 Ravensburg zur freien Reichsstadt erklärte. Eben damit wird das geschichtliche Band zwischen Burg und Stadt gelöst. Die Burg verblieb dem Reichsoberhaupt und war von da an bis 1641 die Residenz der kaiserlichen Vögte. Die Mauer, welche bis dahin Stadt und Burg als gemeinschaftlichen Besitz verbunden hatte, wurde niedergerissen und aus ihren Bausteinen von der Stadt der gewaltige „Mehlsack“ erbaut. Die Burg war aus den Stürmen des dreißigjährigen Kriegs unversehrt hervorgegangen und nicht in ruhmvollem Kampfe, sondern durch niederträchtige Rohheit ruchloser Hände sollte sie fallen. Am 20. August 1647 wurde sie von einem Papiermüllergesellen und von einem österreichischen Soldaten, welche dafür am 23. September an einen Nußbaum auf dem Schloßberg aufgehängt wurden, angezündet und verbrannt. Seitdem wurde die Burg nicht mehr aufgebaut. Von 1748 an wurde das Besitzthum der Stadt in lehnbarer Eigenschaft überlassen; seit 1798 befindet sich die Burgruine im Privatbesitz von Ravensburger Bürgern.“

– Die Welfenburg in Privatbesitz – und das Welfenhaus in den Privatstand zurückgekehrt! So ist das Schicksal von Burg und Haus gleichmäßig abgeschlossen. Und nicht weniger deutungsvoll ist das Schicksal dreier anderer Stammburgen mächtiger Herrschergeschlechter im Süden des alten deutschen Reichs: die Wiege der Habsburger steht durch ihre eigene Schuld seit

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verschiedene: Die Gartenlaube (1866). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1866, Seite 516. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1866)_516.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)