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verschiedene: Die Gartenlaube (1866)

auch eine Last zu tragen; ich fühlte mich nicht mehr schwach, meine alten Knochen waren nur noch ungelenk und steif, sonst aber wieder kräftig geworden; ich drückte die alten, schmutzigen und werthlosen Kleidungsstücke fest an meine Brust, und ein Gefühl unaussprechlichen Wohlthuns und Behagens durchschauerte mich, als ich ohne Stütze aus dem Friedhofe hinausschritt und in meine Wohnung zurückzukommen suchte.

Die Verbindung zwischen mir und der Leiche ist gelöst, die sympathische Gemeinschaft aufgehoben, ich bin von da ab wieder gesund. Aber ich bin eine Verbrecherin geworden. Indem ich mich aus Liebe zum Leben von der Leiche losriß, verwirkte ich das Zuchthaus, denn ich verleitete den in Eid und Pflicht stehenden Todtengräber durch eine Summe Geldes zu einer Handlung, die eine Verletzung seiner amtlichen Pflicht enthält und mit Zuchthaus gestraft wird. Ich weiß jetzt, daß ich Theilnehmerin an dieser Handlung bin und daß mich als solche dieselbe Strafe trifft, die der Hauptthäter zu gewärtigen hat. Glauben Sie nicht, Herr Inspector, daß die Zukunft des von mir verführten Mannes mir gleichgültig ist und daß ich mich über meine eigene Zukunft einer Täuschung hingebe; ich fühle schwer, daß ich eine große Schuld auf mich genommen habe. Allein ich bin in meinem Gewissen ruhig, ich habe nichts Böses gewollt, nichts Ehrloses verübt. Der liebe Gott und die Menschen werden mein Unrecht milder beurtheilen und ich werde mir Mühe geben, dasselbe gut zu machen. Aber mein lieber Inspector,“ unterbrach Fräulein v. K. ihre Mittheilung, „Sie lachen ja nicht. Nicht wahr, Erlebnisse solcher Art sind doch zu ernst, um lächerlich gefunden zu werden?“

Das waren sie auch in der That, nur in anderer Weise, als die Gefangene meinte. Ich hielt diese wie alle meine Gefangenen für geistig krank, sogar für schwer krank. Der Aberglaube wurzelt tief, wo er überhaupt Wurzeln schlägt, und diese bis auf die letzte Faser herauszureißen macht nicht nur ungewöhnliche Kräfte, sondern auch beharrliche und unermüdliche Ausdauer in der Verwendung dieser Kräfte nothwendig. Daß der Aberglaube zu den beklagenswerthesten und zu den traurigsten Verirrungen führt, war mir natürlich bekannt, innerhalb des Gefangenenhauses aber hatte ich mit dieser Art geistiger Befangenheit noch nicht zu thun gehabt, und ich würde dieselbe im Jahre 1865 auch gar nicht für möglich gehalten haben, wenn mir Fräulein v. K. nicht gegenüber gestanden und wenn ich das Bekenntniß nicht aus ihrem Munde vernommen hätte. Die Heilung dieser Krankheit schien äußerst schwierig zu sein; ich wollte sie aber dennoch versuchen, ich wollte die Thatsachen nicht in Zweifel ziehen, mir nur Mühe geben, den natürlichen Zusammenhang zwischen Ursache und Wirkung nachzuweisen. Erst aber sollte die Patientin einige Tage hinter Schloß und Riegel verweilen; ich hoffte dann leichtere Arbeit zu finden.

Der Todtengräber hatte am Nachmittag seinen Rausch ausgeschlafen. Er war vollständig nüchtern, ich konnte mit ihm über seine Angelegenheiten sprechen. Der Ruf dieses Mannes war, wie ich bereits erwähnte, schlecht. Man hielt ihn allgemein für einen sittlich verwahrlosten Menschen, man sagte auch, daß er durch eigene Verschuldung in seine bedauerlichen Verhältnisse gekommen sei. Ich suchte ihn auf, um ihm eine Strafpredigt zu halten, und hatte mir vorgenommen, ihn tüchtig abzukanzeln. Dazu kam es jedoch nicht. Der Mann erwies sich besser als sein Ruf.

„Ach, Herr Inspector,“ redete er mich bei meinem Eintreten an, „es ist gut, daß Sie kommen, die Zeit ist mir schon erschrecklich lang geworden. Was wollen Sie denn mit mir altem Kerl eigentlich anfangen? Lassen Sie mich wieder laufen. Es ist ja nicht so sehr schlimm, was ich gethan habe, ich habe es ja auch nicht in böser Absicht gethan, obgleich ich dazu allen Grund gehabt hätte. Sehen Sie, Herr Inspector, der Vater des alten Fräuleins hat mir mein Weib verführt und mich dadurch elend gemacht. Ich hätte also Ursache gehabt, mich zu rächen, ich hätte die Schuld des Vaters an das Kind zurückzahlen können. Weiß Gott, ich wollte das auch thun. Als ich aber sah, wie elend das Kind bereits war, da wurde es in meiner Brust lebendig; das Mitleid kehrte ein, ich entsagte der Rache und versprach zu helfen.“

„Hat nicht das Geld Sie dazu bestimmt?“ fragte ich, als der Gefangene eine Pause machte.

„Das Geld?“ versetzte er, „nein, das hat es nicht gethan. Halten Sie mich für einen Lump, der ich auch bin, aber halten Sie mich nicht für schlecht. Ich habe das Geld allerdings angenommen, ich dachte dabei an meine arme kranke Schwester und an ihre hungernden Kinder, ich dachte, daß denselben mit dem Gelde ein Theil ihrer Noth und Sorge abgenommen werden könnte und daß das alte Fräulein den Verlust nicht besonders empfinden würde. Das Alles bestimmte mich, das Geld nicht zurückzuweisen.“

„Versprachen Sie sich denn einen Erfolg?“ fragte ich, um auch in dieser Richtung auszuforschen.

„Weiß Gott, nein; ich hielt das Ganze für Unsinn, aber ich dachte, daß vielleicht Angst und Schreck dem Fräulein wieder auf die Beine helfen könnten.“

„Und das Geld, wo ist das geblieben?“

„Das hat von Heller zu Pfennig meine Schwester erhalten. Ach, wie glücklich war sie!“

Der alte Mann sagte das mit nassen Augen. Konnte ich ihm Vorwürfe machen? – Ich ging still aus der Zelle hinaus und schloß still hinter mir zu.

Die Strafe war für beide Gefangene eine milde. Bei dem offenen Geständnisse derselben wurde ohne Zuziehung der Geschworenen verhandelt und von der Staatsanwaltschaft und dem Gerichtshofe das Vorhandensein mildernder Umstände angenommen. Ich behielt die Gefangenen vom Tage ihrer Verurtheilung noch sechs Monate in Gewahrsam, arbeitete rüstig und unausgesetzt an ihrer Bekehrung und wurde darin auch von dem Anstalts-Geistlichen unterstützt. Ob aber die Cur gelungen ist, darüber habe ich keine Gewißheit erhalten können.




Noch einmal vom Langensalzaer Schlachtfelde.


Der Frieden ist vor der Thür, der Krieg von „sieben Tagen“, der dennoch gewaltiger und blutiger war, als jener andere von sieben Jahren, beendet, auch der Bruderkampf im Süden und Südwesten scheint ausgekämpft, die Brust athmet wieder leichter, daß Zündnadel und Kanone, Schwert und Säbel, Bajonnet und Lanze nun ihre Mordarbeit einstellen, die über so viele deutsche Häuser und Herzen eine unsägliche Fluth des Jammers ergossen hat. „Werden nun,“ fragt jetzt jeder deutsche Mann, „die Resultate des Krieges, des leidigen deutschen Bruderkrieges werth sein der furchtbaren Opfer, die er gefordert hat; werden die politischen Ergebnisse dieses entsetzlichen Kampfes, der so viele bewunderungswürdige Thaten des Heldenmuthes aufzuweisen hat, Deutschland und seiner nationalen Entwickelung und Erstarkung wahrhaft und ausgiebig zu Gute kommen? Werden die „Diplomatiker“, wie der alte Marschall Vorwärts sagte, nicht verderben, was die Schwerter errungen haben? Wir wollen dies nicht fürchten, ob auch dieser und jener Zweifel das Gemüth beschleichen will, wir wollen nur dem sehnlichen, dem wohlbegründeten Wunsche Ausdruck leihen, daß die blutige Saat die Früchte trage, welche das deutsche Volk in seiner Opferfreudigkeit und nach solchen Beschwerden und Leiden zu erwarten berechtigt ist; daß die lang erstrebte Neugestaltung Deutschlands, d. h. die von allen Patrioten ersehnte Einheit, erreicht werde und die Phrase, die bei allen Friedensschlüssen stereotyp zu sein pflegt, „auf ewige Zeiten“ einmal in Wahrheit sich erfüllen möge.

Die nächsten Wochen werden hoffentlich unsern zagenden Herzen darüber Beruhigung bringen; inzwischen aber wird die Gartenlaube fortfahren, von den zahlreichen Beweisen deutscher Tapferkeit und den denkwürdigen Episoden und Einzelzügen, welche den gegenwärtigen Krieg charakterisiren, einerlei ob unter schwarz-gelber oder unter schwarz-weißer Fahne, zur Kenntniß auch späterer Geschlechter zu verzeichnen, was ihr Zuverlässiges darüber gemeldet wird. Dies wird sie rechtfertigen, wenn sie im Nachstehenden noch einmal auf die Schlacht von Langensalza zurückkommt.

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verschiedene: Die Gartenlaube (1866). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1866, Seite 499. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1866)_499.jpg&oldid=- (Version vom 15.9.2022)