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verschiedene: Die Gartenlaube (1866)

eine Menschenseele leidet unaussprechliche Qualen in dem Gedanken, Sie dort zu wissen‘?“

In dem Innern des jungen Mädchens wogten alle gewaltsam niedergekämpften Empfindungen wieder durcheinander bei diesen Worten. Unwillkürlich sah sie zu ihm auf. In dem Augenblick faßte er ihre beiden Hände; wie weggewischt waren plötzlich jene grimme Ironie, jenes wilde Weh von seiner Stimme, es war, als ob ihn die Waffen des ungestümen Trotzes für einen Moment treulos verließen und nun einem Gemisch von leidenschaftlicher Angst und Befürchtung freien Spielraum gewährten.

„Gehen Sie nicht, ich bitte Sie darum!“ flüsterte er.

Was waren das für Töne und wie schmolz sein kaum noch so höhnisch funkelnder Blick dabei in unaussprechlicher Zärtlichkeit und Weichheit! Aber bei aller inneren Erschütterung, bei allen aufgestürmten Regungen, die sie unwiderstehlich hinüberzogen zu ihm, war sich Lilli doch klar bewußt, daß sie sein Verlangen zurückweisen müsse. Sie entzog ihm hastig die Hände, und lediglich infolge des inneren Ringens ward ihre Stimme so schneidend und herb, als sie entgegnete: „Das ist eine seltsame Bitte, es steht nicht in meiner Macht, sie zu erfüllen!“

Eine hohe Röthe flog über das Gesicht des Blaubartes und mit ihr kehrte seine frühere Haltung zurück.

„Ich hätte diese Antwort vorher wissen können!“ rief er. „Aber wie, wenn ich nun um jeden Preis auf meiner Forderung bestehen müßte? … Meinen Sie nicht, daß es ein Leichtes für mich sein würde, die Widerspenstige auf diesen meinen Armen im Fluge hinüberzutragen in mein Haus und dort zurückzuhalten, bis das Fest vorüber? Es wäre nicht das erste Mal, daß es einem kühnen Sterblichen gelungen, eine Nixe zu rauben.“

„Und nicht das erste Mal, daß da drüben in dem Hause eine Gefangene weinte!“ stieß Lilli mit bebenden Lippen hervor.

„Eine Gefangene, in meinem Hause?“ rief er im Ton höchster Ueberraschung und trat einen Schritt zurück, aber als ob ihn plötzlich die Lösung eines Räthsels überrasche, schlug er sich in demselben Moment mit der Hand vor die Stirn.

„O, ich Thor!“ rief er, seine Stimme klang völlig verwandelt. „Wie konnte ich vergessen, daß ich im Weichbild einer kleinen Stadt lebe, umlauert von neugierigen Augen und müßigen Zungen, für die ein scheinbares Geheimniß willkommen ist, wie die unglückliche Fliege im Netz der Spinne! … Also Muhmen und Basen erzählen sich da drinnen,“ er streckte den Arm aus nach der Stadt, „von einem weinenden, gefangenen Weib in meinem Hause? Und ich spiele ohne Zweifel in diesem Drama nothgedrungen die Rolle eines Währwolfs oder Blaubartes?“

Trotz der peinlichen Lage, in der das junge Mädchen sich befand und die ihr sogar in diesem Augenblick das brennende Roth der Beschämung über ihre unwillkürlich herausgestoßene Aeußerung in die Wangen trieb, trotz all’ diesem kam ihr fast ein Lächeln darüber, daß er selbst die ihr so geläufig gewordene Bezeichnung seiner Persönlichkeit brauchte.

„Und Sie hatten natürlicherweise nichts Eiligeres zu thun, als an dieses Geheimniß zu glauben und mich zu verabscheuen?“ fuhr er mit bitterem Vorwurf fort. „Würde ich gewagt haben, in Ihre reinen Augen zu sehen Angesichts des Schauplatzes jener muthmaßlichen Gräuel? … Es ficht mich übrigens nicht im Mindesten an, was die da drinnen von mir denken und sagen, ich würde nicht einmal die Lippen öffnen, um das Gewäsch zu widerlegen. In Ihrer Seele aber darf dieser häßliche Wahn auch nicht um einen Athemzug länger Raum finden… Ja, es lebt ein armes, unglückliches, weibliches Wesen in meinem Hause, allein nicht gezwungen oder gar gefangen, sondern geschützt und behütet von mir. Beatrice ist meine Schwester, aber wir sind nicht von einer Mutter, die meine ist gestorben, ohne je um die Existenz dieses armen Geschöpfes zu wissen, und mir hat mein Vater erst auf dem Sterbebett das Geheimniß und die Sorge um die Tochter anvertraut. Er hat sie stets zärtlicher geliebt als mich, den legitimen Sohn, und ich begreife das vollkommen, denn sie ist ein wunderbar befähigtes Wesen. Aber ihr Dasein ist auch für ihn eine Quelle unaussprechlicher Sorgen geworden… Sie, in deren Antlitz die Menschen lächelnd und erquickt schauen, Sie können nicht ahnen, was jenes unglückselige Wesen leidet! Von ihrer Geburt an kränklich, hat sie plötzlich, und zwar kurz vor dem Tode des Vaters, eine entsetzliche, verheerende Krankheit heimgesucht. Ihre Gesichtszüge, die früher von bezaubernder Schönheit gewesen sein sollen, sind völlig zerstört; sie verbirgt diesen Anblick hinter einem Schleier, ich kenne sie nicht anders. Ihr Leiden ist unheilbar und, wie sie selbst stets behauptet, ansteckend, und aus dem Grunde hat sie nie gestattet, daß ich auch nur ihre Hand berühre. Sie flieht die Nähe der Menschen; es beugt sie schwer darnieder, ein Gegenstand des Schreckens zu sein, deshalb habe ich stets Sorge getragen, daß Niemand, außer ihrer Wärterin und meinem schwarzen Diener, der uns unerschütterlich anhänglich ist, um das Geheimniß hinter dem Schleier wisse. Das war auch der Grund, um dessen willen ich das Pavillonfenster aus meinem Garten entfernt haben wollte.“

Lilli hatte ihm wie betäubt zugehört – er stand entsühnt vor ihr. Statt des vermeintlichen Verbrechens, das seiner kühnen, herausfordernden Erscheinung etwas Dämonisches verliehen hatte, las sie jetzt auf seiner Stirn nur die edelsten Gedanken… Es war von Kindheit an ein fest ausgesprochener Zug ihres Charakters gewesen, das Bewußtsein eines ungesühnten Unrechts gegen Andere nicht in ihrer Seele zu dulden. Bei all’ ihrem Trotz und Eigenwillen hatte man sie nie zu einer Abbitte zwingen müssen; war sie von ihrem Fehler gegen Andere überzeugt, dann that sie mit leidenschaftlicher Heftigkeit und Beredsamkeit Alles, um ihn gut zu machen. Aber noch nie war ihr das Gefühl eines unsäglichen Bedauerns und das Verlangen, die Kränkung vergessen machen zu dürfen, so unwiderstehlich zum Bewußtsein gekommen, wie in diesem Augenblick.

Vielleicht las sein durchdringender Blick diese Vorgänge in der Seele des jungen Mädchens. Er nahm abermals ihre Hand, diesmal indeß in sehr sanfter und doch so eindringlich beschwörender Weise; sein Gesicht überzog bis in die Lippen jene tiefe Blässe, die sehr häufig eine mächtige innere Erschütterung zu begleiten pflegt.

„Lilli,“ sagte er – ihr Name fiel zum ersten Male von seinen Lippen und wie unendlich süß klang er! – „ich habe bisher unwissentlich gegen ein Phantom ankämpfen müssen; nun es gefallen ist, meine ich, soll es auch heller um mich werden… Heben Sie nur ein einziges Mal fest und prüfend die Augen zu mir auf und Sie müssen finden, daß nur der Aberwitz ein solch’ abscheuliches Licht auf mich werfen konnte… Ich will mich durchaus nicht besser hinstellen, als ich bin, vor Ihnen am allerwenigsten. Ich könnte den Gedanken nicht ertragen, daß Sie, und sei es auch nur ein einziges Mal und selbst im verschwiegensten Winkel Ihrer Seele, dächten, ich hätte Sie getäuscht… Ich bin eine leidenschaftliche, heftige Natur; als einzigem Sohn eines angesehenen, reichen Hauses standen mir Thür und Thore der großen Welt weit offen und ich habe mich in den Strudel des Lebens gestürzt, wie tausend Andere in meinen Verhältnissen auch… Verurtheilen Sie mich nicht, Lilli, ich bin trotzdem nicht gesunken, ich habe nach der Erkenntniß nur um so energischer mein besseres Selbst zu retten gesucht… Ich darf getrost ein reines weibliches Wesen an meine Seite ziehen und sein Leben mit dem meinen verknüpfen. Diesem Gedanken gab ich übrigens in den letzten Jahren wenig Raum, ich hatte keine hohe Meinung von den Frauen… Da geschah es eines Morgens, daß ein zartes Geschöpfchen vor mir stand, an Gestalt ein elfenartiges Kind, sah es mich doch mit Augen an, aus denen der ganze herbe Trotz der Jungfrau, die Funken eines rasch denkenden, beweglichen Geistes sprühten.“

Ein Wagen rollte die Chaussee herauf und hielt draußen vor der Gartenthür. Lilli zuckte erschreckt auf und suchte ihre Hände dem Sprechenden zu entziehen, allein er zog sie nur um so fester an sich heran und fuhr mit gesteigerter Stimme und fliegendem Athem fort:

„Und da wurde es mir klar, wie sich urplötzlich eine dunkle, in meiner Seele ruhende Weissagung erfülle: daß nämlich die reine, wahre Liebe auf dieser Welt kein bloßes Ideal und daß sie mir beschieden sei… Lilli, ich schwur, ich müsse Sie um jeden Preis erringen, ich –“

Das junge Mädchen entriß ihm gewaltsam ihre Hände. Der Kies des Hauptweges knirschte unter näherkommenden, schweren Tritten, und in dem Augenblick rief die Tante laut nach ihr.

„Nie, nie!“ stammelte sie todtenbleich mit zuckenden Lippen, „Geben Sie alle Hoffnung auf und kreuzen Sie nie wieder meinen Weg!“

Sie lief nach dem Hauptweg und verschwand hinter dem Bohnengehege. Dort stand die Hofräthin, die Mantille des jungen Mädchens in der Hand, und ließ ihre suchenden Blicke über den

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verschiedene: Die Gartenlaube (1866). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1866, Seite 484. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1866)_484.jpg&oldid=- (Version vom 5.7.2016)