Seite:Die Gartenlaube (1866) 479.jpg

Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
verschiedene: Die Gartenlaube (1866)

Länge eingerammt, die sich schachbretartig kreuzen. An diese Pfahlwerke werden Steine, Erde und Schutt aufgeschüttet, bis sie zu Molen werden; dann werden von diesen aus die dazwischen liegenden Gevierte bewältigt. Binnen einem Jahrzehnt hat man einen neuen Stadttheil und – die Hauptsache – wieder einige Meilen Hafenfront.

So arbeitet hier die Menschenhand rastlos an der Verbesserung der Natur in einer Richtung und auf eine Weise, wie sie in Europa fast völlig unbekannt ist. Nicht blos der fruchtbare Urwald- oder Prairieboden, nicht blos Kohlenfelder und Minerallager, sondern selbst Meeresbuchten, Ströme und Uferbildung sind dem rastlos sinnenden und schaffenden Amerikaner nur Rohmaterial, aus welchem der Mensch erst etwas machen muß. Und welch’ ein Hafen ist auf diese Weise bereits aus New-York gemacht worden! Größer, als je die Welt einen gekannt hat. Die vollständig fertige Hafenlinie, d. h. die Linie der Uferstraßen, an welchen die Schiffe so unmittelbar anlegen können, daß man zwischen der Schiffswand und der Straße sich den Fuß zerquetschen, oder aus einer Kutsche auf die Schiffstreppe steigen kann, ohne den Erdboden zu betreten, beträgt in New-York, Brooklyn, Jersey und Hoboken zusammen bereits zwei und eine halbe deutsche Meile. Und auch das drückt noch bei Weitem nicht die Capacität des Hafens aus. Denn von den Quais springen in rechten Winkeln, auf dem Plane wie Borsten oder Franzen aussehend, die von dreihundert bis sechshundert Fuß langen und fünfzig Fuß breiten Docks (Piers) in das Wasser hinaus, an deren einem bis zu fünf oder sechs Schiffe zum Löschen und Einnehmen von Fracht Raum finden. Die Zahl dieser Piers im ganzen Hafen übersteigt bereits einhundert. Durch sie wird der Uferrand so verlängert, daß ungefähr ebensoviel Schiffe Raum für ihre Längenseite finden, als in Abwesenheit der Piers mit dem Bug am Ufer nebeneinander Platz haben würden. Und überdies bilden die Räume zwischen den Piers (Bulkheads) sichere und bequeme Bassins für Hunderte, ja Tausende kleinerer Fahrzeuge: Schleppboote, Canalboote, Prahmen, Schaluppen, Flachkähne, Jollen, Yachten etc. Wenn, woran nicht zu zweifeln, die ganze Wasserfronte des Hafens zu beiden Seiten beider Ströme in gleicher Weise verbessert wird, so wird binnen hundert Jahren der Hafen von New-York eine Quai-, resp. Docklinie von zwölf bis fünfzehn deutschen Meilen, d. h. mehr als alle Häfen des europäischen Festlandes zusammengenommen, haben.

Doch das hat uns weit von Brooklyn abgeführt und es wird Zeit, daß wir dahin zurückkehren. In jeder Beziehung ist Brooklyn als ein Theil Dessen zu betrachten, was man in Europa unter dem Namen New-York versteht. Der Unterschied zwischen beiden ist kaum so groß, wie der zwischen der Altstadt und der Neustadt von Dresden. In commercieller, industrieller und gesellschaftlicher Beziehung sind beide zusammen nur eine Stadt; blos die communalen Verwaltungsinteressen sind geschieden. Der East-River, durch zahllose Dampffährboote auf wirksamere und bequemere Weise überbrückt, als es durch eine steinerne Brücke geschehen könnte, ist schon heute kaum noch etwas Anderes für New-York und Brooklyn, als die Themse für London, oder die Seine für Paris. Aber so weit es das Wachsthum der Bevölkerung betrifft, hat Brooklyn glänzendere Aussichten als New-York. Das letztere bildet einen geschlossenen Raum und wird mit Bequemlichkeit nicht leicht mehr, als eine Million, mit Unbequemlichkeit höchstens anderthalb Millionen Einwohner fassen können. Für Brooklyn dagegen giebt es gar keine Grenze. Es ist bis jetzt noch nicht zur Hälfte ausgebaut. Meilen über Meilen von Straßen, die auf dem Plane bereits als solche mit Namen bezeichnet sind, sind noch Aecker, Wiesen, Triften und Wald, Hügel, die abgetragen, und Thäler, die aufgefüllt werden wollen. Ist erst die ganze Stadt, so wie sie jetzt auf der Karte aussieht, vollgebaut, so kann sie recht gut eine Million Einwohner haben. Dann aber steht ihr noch in dem Bezirke (County), zu welchem sie gehört, ein doppelt so großer Flächenraum, wie ihr jetziger, als Ellbogenraum zur Verfügung. Die ganze Südwestspitze von Long-Island bis zu der Meerenge hinab, welche zwischen ihr und Staten-Island aus der innern auf die äußere Rhede führt, und ostwärts bis zur Jamaica-Bai wird binnen hundert Jahren zur Stadt Brooklyn gehören. Es sind über zwei deutsche Quadratmeilen, jetzt vertheilt unter die Ortschaften Flatbush, New-Utrecht, Gravesend, Flatlands und New-Lots.

In dieser Richtung ist die materielle Möglichkeit für den Fortgang des beispiellos schnellen Wachsthums der Stadt New York zu suchen. Die Zeit wird kommen und manche der heute schon Lebenden werden sie sehen, wo die Stadt auf der Manhattan-Insel nur die City, die Isle de France der kolossalsten Weltstadt der Erde ist. Für diese Weltstadt werden der Hudsonstrom und der East-River nun nicht mehr Grenzen gegen Nachbarstädte, sondern Hauptstraßen, wie die Canäle in Venedig, sein und die anderthalb Quadratmeilen große Bai ein Marktplatz voll unabsehbaren Getümmels. Die Halbinsel zwischen dem Hudson und dem Hackensack, die der heutigen Generation noch ein Stück landschaftlicher Romantik darbietet, auf deren bewaldeten Hügeln und Wiesen sich der Städter dem Getöse des Erwerbslebens entrückt glauben kann, wird zu einer Großstadt werden, ähnlich dem heutigen New-York. Wahrscheinlich wird auch das drei Viertel Meilen breite Delta zwischen dem Hackensack und Passaiu, an welchem die blühende Stadt Newark, mit 80,000 Einwohnern, liegt und dessen größter Theil jetzt noch aus unbewohnbaren Salzwiesen besteht, mit Ansiedelungen überbrückt sein. Die Stadt Brooklyn wird das ganze heutige Kings-County bedecken und für sich allein so viel Einwohner haben, wie London heute hat. Endlich wird das ihr gegenüber liegende, das Südwestufer der innern Bai bildende, drei Viertel deutsche Meilen lange Nordostufer von Staten Island, welches auch heute schon in seinen vier Ortschaften New-Brighton, Stapleton, Tompkinsville und Clifton ebenso viele Vorstädte von New-York besitzt, in den unmittelbaren Bannkreis der Riesenstadt gezogen sein und diese wird auf die Zeit, wo sie sich mit der Insel Manhattan identificirte, ebenso mitleidig zurückblicken, wie sie heute auf die Zeit sieht, da sie als Neu-Amsterdam nur den untersten kleinen Zipfel jener Insel ausfüllte und die Wallstreet – die amerikanische Threadneedlestreet – die äußerste Nordgrenze des Städtchens bildete. Die Stadt New-York mit Allem, was jetzt nur drum und dran hängt, dann aber einen integrirenden Theil von ihr bilden wird, kann dann leicht (und wird) ihre sechs bis sieben Millionen Einwohner haben.

Wie ganz anders, als heute, wird es dann aussehen! Das, was dem heutigen Bewohner von New-York oder Brooklyn noch als Zufluchtsort für stille deutsche Gemüthlichkeit oder sinnigen Naturgenuß erscheint, wird verschwunden sein, wie hundert andere ähnliche Plätze schon in der Erinnerung der heutigen Generation verschwunden sind. Vor einem halben Menschenalter fand man wenig über eine halbe deutsche Meile nördlich vom Stadthause an der Stelle, wo jetzt eine steife Straße von langweiligen Backsteinhäusern steht, ein kleines, rings von felsigen Hügeln umschlossenes Thalkesselchen, in welchem ein geschwätziger Felsbach über Kiesel und Blumen nach dem Strome hinabsprang. Alles ist dahin: die Hügel sind abgetragen, das Thal ist aufgefüllt, der Bach in eine unterirdische Cloake abgeleitet, und man kennt nur noch eine 42. Straße mit denselben einförmigen Backsteinfaçaden, demselben glatten Trottoir und holprigen Pflaster, wie tausend andere Straßen. Um heute ein ähnlich Stück lieblicher Naturschönheit zu genießen, muß man Meilen weiter nach Norden fahren, oder westwärts über den Strom setzen. Doch so ergeht es überall, wie in New-York, so in Brooklyn.

Weit hinaus an das äußerste Südende von Brooklyn verlegte man vor fünfundzwanzig Jahren eine große Todtenstadt, nicht einen öden Gottesacker mit seinen schaurigen, ernsten Umgebungen, sondern einen paradiesisch schönen Gottespark, einen wonnigen Lustgarten des Todes. Man glaubte ihn für immer dem lärmenden Geschwirr und Getöse der Weltstadt entrückt zu haben. Vergebliche Hoffnung! Wie bei der steigenden Springfluth des Meeres die gierigen Wogen hier und da am Strande herauflecken, ehe der ganze Schwall ihn überschwemmt, so spielen schon jetzt die Straßen- und Häuserbauten rings an die Gehege jenes kleinen Paradieses hinan. O Greenwood, entzückendster aller heiligen Haine, welche jemals die Pietät eines seine dahingeschiedenen Lieben mit mehr als religiöser Innigkeit ehrenden Volks gepflanzt hat, auch du wirst bald in der höher und höher steigenden Fluth des rastlosen Schaffens, in welchem nur der Lebende Recht hat, zu einer Insel werden, die, wie die Halligen der Nordsee, im Getöse der Sturmfluthen allmählich zerbröckelt! Aber mag es darum sein: das Gemüth und das Herz werden sich neue Weihestätten errichten, wenn die alten vergehen. Denn über alle Wandlungen hinaus, welche der Verstand an den äußern Gestaltungen der Dinge vollzieht, behalten sie ihr ewiges Recht und ihre ewige Macht.



Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Die Gartenlaube (1866). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1866, Seite 479. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1866)_479.jpg&oldid=- (Version vom 5.7.2016)