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verschiedene: Die Gartenlaube (1866)

wenigstens zum Theil die frühere Unbefangenheit zurück. Das konnte um so leichter geschehen, als sie nicht viel an die Nachbarschaft erinnert wurde. Die Hofräthin hielt unverrückbar fest an ihrem Ausspruch, daß mit ihrem Willen kein Ziegel an dem Pavillon fortgerückt werden solle, betrat nie jenen Theil des Gartens und erwähnte den Vorfall mit keiner Silbe. Sie hatte die Absicht, den Feind sein Zerstörungswerk vollenden zu lassen, so weit das Recht ihm zustand, und dann den Rest des Häuschens durch eine Rückwand zu stützen und zu erhalten, somit meinte sie, nach Kräften der Pietät zu genügen. Aber der alte Sauer, der hier und da nachsah, erzählte Lilli heimlicherweise, daß das Loch in der Wand sich nicht vergrößere; er könne sich gar nicht denken, was daraus werden solle, und dabei käme es ihm vor, als steige öfter Jemand durch die Wandöffnung, denn der Schutt auf dem Fußboden sähe ganz zertreten aus, und draußen auf dem Kiesweg fände er immer frische Kalkspuren, die nur an den Füßen dahin getragen sein könnten. Der Thurm schaute freilich nach wie vor herüber in den Garten, aber hinter den vier Fenstern, die ihn früher völlig durchsichtig gemacht hatten, hingen plötzlich dichte, schwerseidene Vorhänge. Manchmal, wenn die Fensterflügel offen standen, konnte Lilli von der Frühstückslaube aus sehen, wie sich diese Damastfalten leise bewegten; ja es sah aus, als erschiene ein schmaler, dunkler Spalt in Mitte derselben, und das junge Mädchen dachte dann an die verhangenen Fenster im Orient, hinter denen die Augen der Odalisken sprühen, und sah im Geiste jene zwei zarten Hände, „die wie von Marzipan, und an denen es blitzte wie Karfunkel“, die knisternde Seide lauschend und vorsichtig theilen; sie vermuthete, daß die Fremde jetzt den Thurm bewohne. Das Cello hatte sie nicht wieder gehört. Sonderbar, schien es doch fast, als ob sich die Töne vor lautem Geräusch und lebhafterem Menschenverkehr versteckten! Seit Lilli’s Besuchen in der Stadt brachte beinahe jeder Abend eine Schaar junger Freundinnen, die den Thee bei Tante Bärbchen tranken; dann brannte bei einbrechendem Dunkel die Lampe in der Frühstückslaube, und man blieb, ganz gegen die Hausordnung der Hofräthin, meist bis um elf Uhr zusammen. In diesen Kreisen wurde der Name des Nachbars nie genannt, man respectirte streng Tante Bärbchens Wünsche; nur hier und da fragte wohl eines der jungen Mädchen flüsternd, ob Lilli den verrufenen Einsiedler nebenan noch nicht gesehen, eine Frage, deren Beantwortung sie geschickt zu umgehen wußte. Freilich wurde damit auch stets seine Erscheinung vor ihr inneres Auge heraufbeschworen, und obwohl sich ihr Gründe genug aufdrängten, in ihm einen Schuldbelasteten zu sehen, zuckte doch jedes Mal ein geheimes Weh durch ihr Inneres, und sie hatte mit einer Art von schmerzlicher Entrüstung zu kämpfen, wenn ein fremder Mund seinen Namen mit Verachtung nannte. Aber sie grübelte mit Recht nicht über diese ihr neuen, seltsamen Empfindungen, und wer sie sah, wie sie mit dem ganzen Behagen des Kindes ihre kleinen Füße in den hohen Graswuchs der Wiesenplätze versenkte, oder im Wettlauf den Berg hinaufflog, der ahnte nicht, daß im Grunde ihrer Seele ein verschwiegenes Etwas liege, aber so tief, tief drunten, daß nicht einmal die Augen einen Strahl davon wiederspiegelten.

Ein beträchtliches Stück des Buchenwaldes, der hinter dem Hause begann und welcher die von da an ziemlich steil in die Lüfte steigende Bergwand bedeckte, gehörte zu Tante Bärbchens Besitzung. Sauer hatte unter unsäglichen, jahrelangen Mühen einen Schlangenpfad durch das wildverwachsene Unterholz gebahnt, und dieser Weg war mit der Zeit sein Steckenpferd geworden. Wie die Hofräthin behauptete, hatte er die Massen großer, hübsch abgerundeter Bachkiesel, die den Weg befestigten, allmählich in den Rocktaschen hinaufgetragen. Der Pfad mündete hoch droben unter einer schönen Buche, an deren Stamm eine sehr dürftige, aus Aesten zusammengenagelte Bank stand. Dies Gesammtwerk seiner Hände und Ausdauer nannte Sauer stets mit unbeschreiblichem Pathos „die Anlagen“. Sein schmunzelndes Gesicht ließ sich nur schwer wieder in die ursprünglichen, würdevollen Falten bringen, wenn er sah, daß die jungen Damen vor dem Theetrinken erst noch einmal auf seinem Weg den Berg hinaufeilten, um frische Bergluft zu athmen und Jubelrufe hinauszuschicken in die weite Welt.

An einem Sonntagmorgen trat Lilli aus der Thür, die nach dem Walde führte. Sie war bis dahin nie allein droben aus dem Berg gewesen und hatte dies jedes Mal unangenehm empfunden; denn das oft sehr gedankenlose Plaudern und laute Lachen ihrer jugendlichen Begleiterinnen störte häßlich die feierliche Stille, den geheimnißvollen Reiz des Waldes. Heute wollte sie droben sein, wenn die Kirchenglocken der Stadt anhoben; sie hatte sich deshalb von dem sonst unerläßlichen Gang zur Kirche bei Tante Bärbchen frei gemacht. Während sie die Thür hinter sich schloß, fiel ihr Blick unwillkürlich auf das Thurmfenster des Nachbarhauses, die Vorhänge waren in heftiger Bewegung. Offenbar war Jemand bei ihrem Aufblicken rasch vom offenen Fenster zurückgetreten; höchstwahrscheinlich die arme Gefangene, deren Augen vielleicht neidisch dem jungen Mädchen folgten, wie es flinken, ungehemmten Fußes den Berg hinauflief.

Lilli saß bald droben auf der Bank. Die prächtige Rothbuche stand wie ein vorgeschobener Posten ziemlich isolirt außerhalb des Waldes. Kurzer, trockener Graswuchs bedeckte den hier sehr steil abfallenden Berg; aber diese kurze Strecke zu Lilli’s Füßen sah aus wie eine niedrige, von einem verblichenen Teppich bedeckte Stufe, so täuschend schloß sich das blühende Gelände drunten im Thal an seine äußerste Linie. Das Sonnenlicht, ob es auch glühende Tinten über den unbedeckten Himmel, die gewaltigen Bergrücken und das Ackerland voll wogender Halme hinwarf, hatte noch wenig Macht über die thaufunkelnde Frische des Morgens. Drunten auf den Dächern der Stadt lagen noch Schatten und sonntägiges Schweigen; aber auf dem Heerd brodelte wohl der braune, erquickende Morgentrank; in einzelnen, leichten Wolken floh der Rauch aus den Schornsteinen, er zerstob sofort wie geblendet und erschrocken in der sonnenklaren Luft, oder flüchtete sich, von einem feinen Lufthauch getrieben in dünnen, durchsichtigen Streifen nach dem alten, finsteren Kirchthurm; allein auch da blitzte es eben hell auf über dem dunklen Schieferdach, ein Sonnenstrahl hatte den Thurmknopf erreicht und schlüpfte zugleich in die Luken der Glockenstube, und, als solle sich das tausendjährige ägyptische Wunder der Tonerweckung hier erneuen, schwebte in diesem Augenblick der erste Glockenklang hinaus in die Lüfte. Tauben und Dohlen verließen, entsetzt aufkreischend, das Thurmdach; noch einen Moment kreisten sie ängstlich über der Stadt und rauschten dann nahe an Lilli’s Füßen vorüber weit, weit hinaus, wo sie als sonnenbeschienene Pünktchen auf das Feld niedersanken. Lilli hatte ihren Flug verfolgt, aber dann kehrte ihr Blick geblendet zurück und haftete auf ihrer nächsten Umgebung. Neben der Bank lag ein großer Felsblock, vor Zeiten mochte ihn das Schneewasser vom Berggipfel herabgerissen haben; er hatte es in seiner isolirten, Wind und Wetter preisgegebenen Stellung für geeignet gehalten, sich in eine dicke, warme Moosdecke zu hüllen. Lange Brombeerranken kletterten über seinen Rücken, und an seiner Basis, da, wo die Sonne sich nicht breit machen durfte, zog sich ein Streifen frischgrüner Halme hin, zwischen denen sogar einige versprengte, zarte Waldblumen nickten. Die Moosdecke wimmelte von Käfern und anderem kleinen Gethier, das blutwenig von der Sabbathfeier zu wissen schien und sich rührig unter dem Urwaldsdunkel der Brombeerblätter tummelte. Lilli bog sich nieder und beobachtete sinnend und ergötzt diese kleine Welt voll wichtiger Geschäfte und Sorgen. Sie überhörte dabei, daß es plötzlich hinter ihr rauschte und knisterte, als ob ein starker Arm das Gestrüpp theile, zudem dämpfte der weiche Waldboden die sich nähernden raschen Schritte.

„Forschen Sie nicht nach Runenzügen; die alten Germanen haben einen Zauber hineingelegt, er könnte verderblich auf Sie zurückwirken!“ sagte plötzlich die Stimme des Blaubartes scherzend hinter ihr.

Hätte sich in diesem Augenblick die Erde vor ihr aufgethan, um unterirdische Gestalten emporsteigen zu lassen, sie hätte in keine größere Aufregung versetzt werden können, als durch die unerwartete Nähe dieses Mannes; aber trotz des heftigen Schreckens, der sie durchzuckte, blieb sie doch im ersten Moment unbeweglich.

„Ich gebe gern zu,“ fuhr er fort – die schwache Lehne der Bank erzitterte leicht unter seiner Hand – „daß auch die Steine reden können; muß man aber deshalb einer bittenden menschlichen Stimme sein Ohr verschließen?“

Welches Ausdrucks war doch gerade diese bittende menschliche Stimme fähig! Lilli hatte den Kopf noch nicht nach ihm umgewendet, und doch zweifelte sie nicht, daß, während seine Lippen zu scherzen versuchten, ein Blick voll Groll und Weichheit zugleich auf ihr ruhe. Aber jetzt galt es, diesen unerklärlichen Zauber für alle Zeiten abzuwehren. Die Warnung der Tante und ihre eigenen

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verschiedene: Die Gartenlaube (1866). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1866, Seite 466. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1866)_466.jpg&oldid=- (Version vom 5.7.2016)