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verschiedene: Die Gartenlaube (1866)

Dresdner Straße Leipzigs in ihrem Gange festbannte, an dies Fenster trieb und alle Geschirre zur Seite scheuchte. Ein preußischer Dragoner mit hochgehaltener Pistole sprengte daher, hinter ihm jagte ein einspänniges Geschirr mit escortirten Sonntagsreisenden, zu beiden Seiten Dragoner mit gezogenem Säbel, ein Vierter hinterher, so ging’s wie Wetter in die Stadt hinein. Hinter diesen noch ein Reitertrüppchen, von denen immer je ein Mann an einzelnen Straßenecken mit der Pistole in der Faust Posto faßte. Das ging Alles blitzartig. Auch Contraste fehlten nicht. Einer der Reiter sprengt in wiegendem Galopp an einer Frauengruppe vorüber und grüßt sie mit der Hand am Helm auf’s Eleganteste, während vor meinen Augen ein anderer einem Vorübergehenden die Pistole vor die Brust hält und eine barsche Frage an ihn richtet. Der Mensch kam mir leichenblaß entgegen. Ich hatte von Weitem den Dragoner die Pistole erst laden sehen und konnte, zu ihm herangekommen, die Bemerkung nicht unterdrücken, daß er in dem friedlichen Leipzig keine Ursache finden werde, von seiner Waffe Gebrauch zu machen. „In Leipzig vielleicht nicht,“ erwiderte der Reiter, aber da im Dorfe vorher (es war Reudnitz) seien sie von halbwüchsigen Buben und trunkenen Männern beschimpft und sogar mit Steinen geworfen worden. Uebrigens sei die geladene Waffe Kriegsbrauch. – Im Moment galoppirten die ersten Reiter von der Stadt her zurück, die Einzelposten schlossen sich an, rascher, energischer Hufschlag, als ob in jedem Roß eine Soldatenseele stecke, und fort und vorüber ist das blitzende Kriegsbild. Es war wirklich wie ein Wetterleuchten.

Jetzt erst quollen aus der Innerstadt die Volksströme zum Grimmaischen Thore und nach Reudnitz hinaus, denn nun war’s sicher, daß die Preußen einziehen mußten. Fast bis Mitternacht wallten die Harrenden auf und ab und einzelne Familienglieder belagerten, wie Pikets der Neugierde, die Fenster. Es blieb ruhig.

Am kommenden Morgen, am 18., ging über Deutschland zum einundfünfzigsten Male die Sonne von Waterloo auf. Wer gedachte heute dieses weltgeschichtlichen Tags? Vor der Sorge des Augenblicks erblassen alle Sterne am Himmel unserer Vergangenheit. – Auf den Straßen dasselbe ruhe- und ziellose Treiben, Gerüchte, welche von blutigen Kämpfen der Sachsen, vom Brennen Löbaus, vom Nahen der Baiern erzählen, Gerüchte von Dresden und Oschatz und Meißen, welche Tage hierher brauchen, wo man durch die Telegraphendrähte und von fünf Bahnhöfen früher die Nachrichten aus den fernsten Theilen Europas in wenigen Stunden, aus allen Theilen Deutschlands in wenigen Minuten zu empfangen gewohnt war! Dieses plötzliche Abgesperrtsein von der Außenwelt machte den Zustand mehr und mehr zu einem unheimlichen, der die Sehnsucht nach einer Entscheidung, wie immer auch, erweckte. Dazu kam immer noch die Ungewißheit: wer wird Leipzig besetzen? Werden’s die Baiern noch sein? Werden ihnen die Preußen zuvorkommen? So verging auch der Achtzehnte und täuschte alle Erwartungen.

Und die Preußen kamen, aber wiederum ganz anders, als man sich ihren Einzug nun einmal ausgemalt hatte.

In der Morgendämmerung des Neunzehnten weckte mich Männergesang und langandauerndes Räderrasseln auf der Dresdener Chaussee aus dem Schlafe. Ich eilte zum Fenster – und ein fröhliches „Gutmorgen!“ scholl mir aus einem Dutzend Kehlen entgegen. Die gemüthlichste Leiterwagenpartie zog daher: je acht bis zehn Landwehrmänner auf einem Wagen, so hielt singend und grüßend die erste Compagnie des schlesischen Garde-Grenadier-Landwehr-Regiments ihren Einzug in die schlafende Stadt.

Vor dreiundfünfzig Jahren waren es auch Landwehrmänner, die Helden von Königsberg, welche dieselbe Straße zogen, um als die ersten Stürmenden unter dem Kugelregen der Franzosen in das von ihnen befreite Leipzig einzudringen. An dem Denkmal, das dieser Landwehr und ihrem Führer an der Stätte ihres Kampfs und ihrer Ehre gesetzt und vor drei Jahren geweiht wurde, als die Veteranen der Befreiungskriege das fünfzigjährige Jubiläum des Völkersiegs bei Leipzig in der Begeisterung der Herzens-Einheit und Einmüthigkeit der ganzen deutschen Nation feierten, zog an diesem Morgen die schlesische Landwehr vorüber. Konnten sie sich als Feinde in dieser Stadt fühlen? Vor drei Jahren standen noch zwölf der greisen Königsberger Landwehrmänner, der letzte Rest der Heldenschaar vom Jahre Dreizehn, vor diesem ihrem Ehrendenkmal, die Thränen höchster Seelenerhebung in den Furchen der Wangen. Konnte dieselbe Stadt heute Feinde erkennen in Landwehrmännern, denen dasselbe Kreuz, wie jenen, das Haupt schmückt?

Auch der stattliche Einzug, wie die Menge ihn erwartet hatte, in Reih und Glied und unter dem Trommelwirbel, fand für sie noch selbigen Tages Statt. Um elf Uhr marschirte das zweite Bataillon des vierten Garderegiments, eintausend Mann stark, von Torgau und Eilenburg her, wiederum durch die Dresdener Straße in der Stadt ein. Die seit dem Abzug der Sachsen verödeten Garnisonräume der Pleißenburg füllten sich nun wieder, die friedlichen Männer der städtischen Communalgarde wurden von allen, außer ihrem alten Rathhaus-Posten, abgelöst, und am Abend lustwandelten in den Promenaden und Straßen die blauen Preußen so gemüthlich, wie wenige Tage vorher noch die grünen Landeskinder.

Das ist das äußere Bild. Aber es giebt auch ein inneres, und zwar das von den Tausenden von Fäden, durch die der heutige Geschäftsbetrieb eine solche Stadt wie Leipzig mit der ganzen Welt verknüpft und verbunden hat und die durch das Sperren aller heutigen Verkehrswege plötzlich zerrissen werden. Man muß die Großartigkeit dieser Verknüpfung kennen. Der Jäger am Hudson und der Pelzhändler an der chinesischen Mauer spüren den Schlag einer plötzlichen Stockung in den Lebensadern Leipzigs so gut, wie die Arbeiter im Erzgebirg oder um Naumburg und Weißenfels. Es ist ein millionenräderiges Triebwerk, das unter den Hufschlag des Kriegsrosses gekommen, – und solch ein Bild dieser Zeit gehört auch mit auf die Wage, wo das Schicksal der Völker gewogen wird.




Blätter und Blüthen.


Eine deutsche Kriegssage. Wenn die Kyffhäuser Sage ein Wiederaufleben der deutschen Reichsherrlichkeit mit dem Wiedererwachen des Kaisers Friedrich Barbarossa verbindet, so führt uns eine andere Sage, die von dem „Birnbaum auf dem Walserfeld“, auf ein speciell baierisches Kampfgebiet zu einer Art „jüngster Gerichts-Schlacht“ und zu einem so originellen, ja unheimlichen Schluß, daß es uns wohl geeignet erscheint, auf diese merkwürdige Sage hier aufmerksam zu machen. Sie lautet (nach Grimm): „Bei Salzburg auf dem sogenannten Walserfeld soll dermaleinst eine schreckliche Schlacht geschehen, wo Alles hinzulaufen und ein so furchtbares Blutbad sein wird, daß den Streitenden das Blut vom Fußboden in die Schuh rinnt. Da werden die bösen von den guten Menschen erschlagen werden. Auf diesem Walserfeld steht ein ausgedorrter Birnbaum zum Angedenken dieser letzten Schlacht, schon dreimal wurde er umgehauen, aber seine Wurzel schlug immer aus, daß er wiederum anfing zu grünen und ein vollkommener Baum ward. Viele Jahre bleibt er noch dürr stehen, wann er aber zu grünen anhebt, wird die gräuliche Schlacht bald eintreten, und wann er Früchte trägt, wird sie anheben. Dann wird der Baierfürst seinen Wappenschild daran aufhängen und Niemand wissen, was es zu bedeuten hat.“




Die alterthümlichste deutsche Stadt. In einem Winkel deutscher Erde, der bald durch eine Eisenbahn erschlossen sein wird, liegt ein Städtchen mit fünftausend Einwohnern, Rotenburg an der Tauber. Weder Nürnberg noch Danzig stellt den Charakter mittelalterlicher Baukunst so rein zur Schau, als diese baierische Landstadt. Allerdings hat Rotenburg auch Gebäude im neuern Stil, aber sie verschwinden neben der Masse der gothischen Bauwerke, so daß dem Fremden, wenn er Rotenburg verlassen hat, nur die letztern allein im Gedächtniß bleiben. Alle diese Bauten stammen aus der Blüthezeit der Stadt, die in das vierzehnte und fünfzehnte Jahrhundert fällt. Das schönste Gebäude im Innern ist die Jakobskirche, deren Bau mit einem Capital bestritten wurde, das die Bürgerschaft allmählich durch wöchentliche Hellersteuern zusammenbrachte. Unvergeßlich wird Jedem der Eindruck sein, den das Aeußere der Stadt mit seinen Basteien, Thoren und Thürmen, Mauern und Gräben auf ihn gemacht hat. Man sieht eine vollständig erhaltene Festung des Mittelalters. Alle diese Befestigungen und die sehr zahlreichen, die Privathäuser ganz verdunkelnden städtischen und kirchlichen Gebäude erhält die Stadt aus ihren Mitteln. Was verschwunden ist oder in Trümmern liegt, das hat eine frühere Zeit untergehen lassen. Leider hat dieses Schicksal auch die alte Reichsburg getroffen, von der blos noch die Capelle steht, beschattet von den Bäumen eines schönen öffentlichen Gartens, den die Bürgerschaft auf der geschichtlichen Stätte angelegt hat.




Kleiner Briefkasten.


K. in L. Wiederholt erlauben wir uns, Sie und alle übrigen Leser darauf aufmerksam zu machen, daß die Herstellung einer Nummer der Gartenlaube drei volle Wochen in Anspruch nimmt, wir also – was die Schnelligkeit anlangt – in Abbildungen und Text andern illustrirten Wochenblättern, deren Auflage in zwei Tagen gedruckt ist, weder Concurrenz bieten können noch wollen. Die Gartenlaube glaubt ihre Leser mehr durch Werth und Gediegenheit, als durch leichtfertig fabricirende Hastigkeit zu befriedigen. Was die Vortrefflichkeit der militärischen Bilder der „Leipziger Illustrirten Zeitung“ anlangt, so stimmen wir mit Ihnen überein, daß sie die Censur Nr. 1 verdienen.

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verschiedene: Die Gartenlaube (1866). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1866, Seite 447. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1866)_447.jpg&oldid=- (Version vom 4.8.2020)