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verschiedene: Die Gartenlaube (1866)

Stille der Nacht; – denn er scheute sichtlich die Nähe und Begleitung der erregten Menschen. – Auch sah man ihn zwei Mal als Leidtragenden hinter den Särgen gefallener Officiere einherschreiten, welche hier ihren tödtlichen Wunden erlegen waren und ihre letzte Ruhestatt auf dem städtischen Friedhof fanden. Seine großen, blinden, meist nach oben gekehrten Augen bewegten Aller Herzen zu innigem Mitleid und man verzieh ihm Viel um dieses seines körperlichen Gebrechens willen. Der Kronprinz, an dessen Arm er ging, weinte heiße Thränen an dem Grabe eines der Gefallenen, eines jungen hoffnungsvollen Officiers, des Sohnes des Obristen Friedrich. Er umarmte und küßte den tiefgebeugten Vater und überhäufte ihn mit den beweglichsten Trostworten. „Hätte ich Macht gehabt, das Alles wäre nicht geschehen,“ setzte er noch tiefbewegt hinzu.

(Schluß folgt.)




Scenen und Bilder aus dem Feld- und Lagerleben.
3. Eine kurze Erinnerung an das erste Wetterleuchten des Kriegs in Leipzig.


„Die Preußen kommen!“ – Wollen wir uns gestehen, mit welchem Gefühl die Mehrzahl der Bewohner Leipzigs diese Kunde vernahm? Furcht war es nicht; wenn auch auf jedem vaterlandsliebenden Herzen der Druck der Sorge vor einem Bürgerkrieg lastete, und wenn man die Befürchtungen nicht verschwieg über die Nachtheile, welche selbst bei einem auf Böhmen und Schlesien begrenzten Kampfgebiet aus einem solchen Kriege für Capital und Arbeit erwachsen würden, – so konnte sich doch Niemand die Preußen als Feinde denken. Seit der Völkerschlacht hatte keine preußische Armee Leipzig wieder betreten, und was sie damals der Stadt war? Vor dem Gerberthor stecken noch heute die preußischen Kanonenkugeln, die gegen die Stadt gezielt waren, in den Häuserwänden, während vor dem Grimmaischen Thor dem ersten preußischen Erstürmer der Stadt von dieser selbst eine Ehrensäule errichtet ist. Und in wie engen Beziehungen steht der wichtigste Handels- und Meßplatz des deutschen Binnenlandes mit dem nächsten Nachbar; fast kein Geschäft, keine Fabrik, kein Comptoir, in welchem nicht preußische Hände thätig, in weitem Umkreis fast keine größere Ortschaft, die nicht für Leipziger Häuser arbeitet, ein ewiges In- und Miteinandergehen von Fleiß und Lohn. Und all diese treuen Arbeitsgenossen sollen im Werktagskittel uns die Hände zum Abschied reichen, um im blauen Waffenrock als unsere Feinde zurückzukehren? Man muß nichts Unmögliches vom Volksgefühl verlangen. Durchgreifend war bei allem Volke nichts herauszufühlen, als neben den Befürchtungen des Geschäftsmanns und den Besorgnissen des Patrioten die nach so langem Frieden und endlosem Parteigezänke sehr natürliche Neugierde, einmal zu sehen, wie es ist, wenn es einmal anders ist, als bisher. Greife Jeder in seine Brust, und kein Ehrlicher wird von dieser Neugierde sein Theil verleugnen.

Sobald das Resultat der Bundestags-Abstimmung vom 14. Juni bekannt war, stand die Ueberzeugung fest: „Nun kommen die Preußen.“ Der Morgen des Funfzehnten fand die Straßen, besonders der Innerstadt, voll ungewöhnlich gedrängter Bewegung. Wer Leipzig außer der Meßzeit kennt, weiß, daß für die Bevölkerungsdichtigkeit dieser Stadt ihr Straßenleben während der allgemeinen Geschäfts- und Arbeitszeit ein verhältnißmäßig geringes ist, trotz der siebzehn- bis zwanzigtausend Menschen, welche jeden Morgen von den nächstliegenden sogenannten Vorstadt-Dörfern zu allen Thoren herein die Bevölkerung der Stadt noch vermehren. Von diesen Tausenden betreten von da an nur Wenige, und diese nur in eiligem Geschäftsschritt, die Straßen. Es wird rastlos in dieser Stadt gearbeitet, sie gehört zu den fleißigsten Deutschlands, ja vielleicht der Welt. An diesem Freitagmorgen kannte man sie jedoch kaum wieder, sie hatte ihre Straßenbevölkerung erhalten und leider nur allzu zahlreich durch die theilweise Schließung oder wenigstens Arbeitseinschränkung vieler Fabriken und Geschäfte. Blieb trotzdem die öffentliche Ordnung unverletzt, so war doch die volle Schwüle vor einem Unwetter über die ganze Stadt hereingebrochen.

Das Gerücht und der Telegraph arbeiteten an diesem Tage wahrhaft in’s Große. Das erste Gerücht ließ die Preußen in Dahlen einrücken, das zweite ihre Heerzüge vom Nicolai-Kirchthurm aus von Eilenburg heranziehen sehen, das dritte die Brücken bei Riesa und Meißen gesprengt, das vierte die Preußen in Zittau und Bautzen eingedrungen sein, das fünfte meldete das Herannahen der Baiern und prophezeite bereits ein Zusammentreffen derselben mit den Preußen bei Leipzig, das sechste beruhigte mit der Besetzung des Altenburger Bahnhofs durch die Preußen von Zeitz her, das siebente sagte sogar die Einquartierung der Preußen für die kommende Nacht an. Tag und Nacht war indeß vergangen, aber die Preußen waren nicht gekommen.

Der Sechszehnte, ein ohnedies durch den großen Wochenmarkt stark belebter Tag, führte aus dem dumpfen Gefühl heraus in die bittere Wirklichkeit – durch die erste Verkehrshemmung. Die Leipzig-Dresdner Eisenbahn war nur bis Riesa offen; die alten gelben Postkutschen kamen wieder aus den Remisen, um die alte Landstraße zu befahren. Von den Gerüchten des vorigen Tags bestätigten sich einige, andere kamen hinzu. Den härtesten Schlag versetzte jedoch dem großen Verkehr die Erklärung der Postbehörde, daß sie für Werthsendungen keine Garantie mehr leisten könne. Wer bedenkt, daß, außer dem ungeheuren Waarentransport, täglich in Leipzig über fünfzehnhundert Geldsendungen ankommen und noch weit mehr abgehen, der erkennt, daß diese plötzliche Unsicherheit des wichtigsten Verkehrsmittels ein Stoß war, der fast in jedem Haus verspürt wurde. Dazu die telegraphische Botschaft von dem Bundesbeschluß in Frankfurt a. M., durch welchen Oesterreich und Baiern Sachsen ihre Bundeshülfe zusicherten, und das Gerücht, daß die Preußen bis Wurzen vorgerückt seien. Das Gerücht ließ Preußen schon in Grimma gesehen sein, aber in Leipzig hatten auch diesen Tag die Neugierigen vergeblich an allen Thoren gestanden.

Als am Siebzehnten die Leute in der Dresdner Vorstadt und dem daranstoßenden Dorfe Reudnitz (nebenbei bemerkt das größte Dorf Sachsens und eins der größten Deutschlands, denn es zählt über achttausend Einwohner) in den Sonntagmorgen hinaussahen, hatten die Meisten das lange erwartete Ereigniß verschlafen: die ersten Preußen waren in aller Frühe dagewesen, eine Dragoner-Patrouille, die auf der Dresdner Chaussee dahergesprengt kam, Erkundigungen einzog, ob und welches Militär in der Stadt liege, und in sausendem Galopp verschwand, wie sie gekommen war.

Die Kunde von diesem Morgenbesuch lief rasch durch die Stadt; es war nun ausgemacht, daß heute die Preußen kommen mußten. Auf allen Straßen hastige Bewegung, Fragende und Berichtende; an allen Straßenecken größere Gruppen vor den Proclamationen und Extrablättern der Zeitungen und der fliegende Zeitungshandel in vollem Flor; der Hauptzug der Volksbewegung drängte natürlich die Dresdner Straße und Chaussee entlang. Aber der Vormittag, der Mittag ging vorüber, und ebenso der Nachmittag, und der Abend kam, vergeblich hatten die gemüthlichen Familiengesellschaften, Mann und Weib, Kinder an der Hand, Kinder auf dem Arm, Kinder im Korbwagen, inmitten des freien, leichter beweglichen Volks des nach und nach, man möchte sagen, ersehnten Einzugs geharrt und wandten sich endlich unmuthig zur Heimkehr: – da führte die unbezähmbare Neugierde die Ueberraschung herbei, die nicht von selbst hatte kommen wollen.

„Um die Preußen zu sehen“, fuhren am Nachmittage nicht wenige Sonntags-Vergnügliche nach Wurzen. Dort fanden sie Bahnhof, Brücke und Stadt von den Preußen besetzt, sie selbst aber sollten zugleich einen Vorschmack kriegsmäßiger Behandlung empfinden. Alle, deren Reisezweck nur das Vergnügen war, wurden kurzweg von Wurzen zurückgewiesen, nur diejenigen, welche Geschäftsbesorgungen hatten oder vorgaben, bis zur Erledigung derselben von Soldaten begleitet und dann auf den Heimweg escortirt. Eine solche Escorte stillte auch den Leipzigern ihr Verlangen.

Es war zwischen acht und neun Uhr, als herankommendes und staubaufwirbelndes Reitertraben und Räderrasseln die Menschen auf der Chaussee durch Sellerhausen, Reudnitz und in der

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verschiedene: Die Gartenlaube (1866). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1866, Seite 446. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1866)_446.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)