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verschiedene: Die Gartenlaube (1866)

dem Garten führte… Horch, war das nicht der volle, tiefe Klang einer unbeschreiblich rührenden Menschenstimme, der durch die Lüfte zitterte? … und noch einmal – und abermals! Die Töne reihten sich aneinander, in himmlischer Ruhe an- und abschwellend. War die melancholische Weise der Nachklang eines überwundenen Schmerzes, oder sang sie von verschwiegenem, unbeglücktem Sehnen? … Es war übrigens keine menschliche Stimme, sondern ein Cello, und die Töne quollen aus den jetzt geöffneten Thurmfenstern. Lilli lauschte bewegungslos. Sie dachte nicht daran, daß sie in ihren dünnen Pantöffelchen auf dem feuchten Kies stand und daß der Saum ihres hellen Muslinkleides morgen zum Verräther an ihr werden mußte… Das Wesen, das dem Instrument so sympathische Töne zu entlocken wußte, das in schweigender Nacht die Tiefen einer bewegten Seele im Lied öffnete – es konnte doch unmöglich jener Mann sein, der so wild und herrisch auf seinem Pferd einherbrauste, daß man sich fürchten mußte, der wehrlose Frauen einsperrte und sie wie ein Cerberus bewachte.

Unter den Schlußklängen des Adagios, die leise über ihrem Haupte zerflossen, schritt Lilli unhörbar nach dem Pavillon. Ueber den Zaun zu sehen vermochte sie nicht, das konnte nicht einmal der himmellange, alte Sauer, denn die grüne Wand war sehr hoch und undurchdringlich, aber da war ja das Fenster, um deswillen der alte Pavillon fallen sollte, wie Dorte behauptete. Wie oft war sie früher durch dasselbe geklettert, um mit den Kindern der Familie zu spielen, welche damals die angrenzende Besitzung gemiethet hatte. Es war ja so spät, gesehen wurde sie sicher nicht mehr, auch lag der Pavillon im Schatten. Der Fensterflügel war offenbar nicht mehr berührt worden, seit sie ihn zum letzten Mal geschlossen hatte, denn er war eingerostet, wie auch der Riegel an der Jalousie. Endlich schob sie vorsichtig den Laden zurück. Da lag es vor ihr, das mondbeglänzte Schloß des Blaubarts, und all jener bestrickende, geheimnißvolle Zauber, hinter welchem in dem schauerlichen Märchen Blutströme rieseln, er stieg auch hier aus fremdartigen Blüthenkelchen und webte um die glitzernden Wassergarben, die himmelan sprangen und als silberner Duft wieder herniederstäubten. Dort aus dämmerndem Gebüsch leuchtete ein weißes Marmorbild; der schlanke Frauenleib streckte die Arme gen Himmel, als suche er sich angstvoll den Umarmungen des Epheu zu entziehen, der das Piedestal umstrickte. Das Mondlicht schwamm in Millionen zitternder Funken auf der bewegten Wasserfläche der Bassins, aber es lag auch voll und beharrlich auf den Spiegelscheiben der hohen Fenster; es blickte ungestraft durch die seidenen Gardinen in das Geheimniß des Hauses und lächelte wohl in die zwei schönen Augen, von denen Niemand wußte, ob sie weinten oder in Glück strahlten… Oder wußten es die Fontainen, die fort und fort rauschten und flüsterten? die buntfarbigen Blumenhäupter am Wege, deren verschlossener Mund das Räthsel behütete? Vielleicht streifte der leichte Fuß der eifersüchtig Bewachten an ihnen vorüber und sie blickten hinauf in das gesenkte Auge…

Lilli hatte mechanisch den Laden immer weiter zurückgeschoben. An ihre Schulter legten sich riesige Aristolochia-Blätter, die zum Theil die Rückwand des Pavillons bedeckten und in deren grünen Schalen die letzten Tropfen des Gewitterregens rollten und blitzten, und da huschte es von den Zweigen des Baumes, den der Laden berührt hatte; ein aufgescheuchter Pfau flog auf die Erde nieder und schritt, das wundervolle Gefieder ausbreitend, majestätisch und geräuschlos über den mondbeleuchteten Rasenplatz. Wohl flutheten betäubende Duftströme durch die Lüfte, wohl rauschten die Springbrunnen und der schimmernde Vogel durchirrte lebend und athmend den Garten, und doch schien das Alles so geisterhaft und wesenlos, als müsse es, durch einen Zauberspruch berührt, sofort verschwinden.

Und jetzt hob die Melodie im Thurmzimmer von Neuem an. Lilli setzte sich auf die Fensterbrüstung, legte die gefalteten Hände auf die Kniee und blickte wie berauscht in die abgeschlossene fremdartige Welt hinein… Aber schien es nicht, als sei die Marmorstatue plötzlich vom Piedestal herabgestiegen und wandele durch den stillen Laubgang? Nein, die weißen, kalten Arme dort streckten sich fort und fort unbeweglich in die Luft, und der Mondstrahl und die laue Nachtluft glitten erfolglos über das starre Steingesicht! In jenem Wesen jedoch, das immer näher kam, pulsirte Leben – ein Seufzer schwebte zu Lilli hinüber. Das war sicher das schöne, junge Weib des Blaubartes. Es hemmte einen Augenblick seine Schritte und lauschte dem Adagio. Es war eine hohe, fast königliche Gestalt, aber das duftige, langherabfallende Gewand floß um überaus zarte, schlanke Formen. Die rechte Hand lag unter dem Busen, als wolle sie das stürmisch bewegte Herz beschwichtigen, während der linke Arm nachlässig an der Seite niederhing. In dieser Haltung lag eine unbeschreibliche Anmuth, aber auch etwas von der Hingebung und Hülflosigkeit der Trauerweide, die ihre schwachen Zweige zu Boden sinken läßt. Sicherlich flossen in diesem Augenblick Thränen über das tiefgesenkte Antlitz; welche Form, welchen Ausdruck hatten diese Züge, die sich, wie es schien, selbst der Mondbeleuchtung zu entziehen suchten? Das ließ sich nicht bestimmen; ein schwarzer Schleier fiel wie eine dunkle Mähne vom Haupt über den Nacken und zu beiden Seiten nieder und verdeckte das Gesicht.

In Lilli’s Kopfe wirbelten noch einen Moment Märchen und Wirklichkeit durcheinander; sie fühlte instinctmäßig, daß sie um keinen Preis gesehen werden dürfe, und versuchte, geräuschlos vom Fensterbret herniederzugleiten; allein ihr Blick heftete sich immer wieder wie gebannt an die Erscheinung da drüben… Warum, wenn sie sich elend und unglücklich fühlte, entfloh die Gefangene nicht? Ueber den Zaun zu klettern und in Tante Bärbchens Garten und Schutz zu flüchten, das wäre nach Lilli’s Ansicht durchaus kein unausführbares Wagestück gewesen, sie selbst hätte jedenfalls weit Größeres unternommen, um jenem Tyrannen dort in dem Hause Trotz zu bieten … lieber sterben, als in solcher Gefangenschaft leben! Daß jenes gebeugte Weib sein Joch möglicherweise freiwillig trug, weil es seinen Kerkermeister liebte, das fiel Lilli nicht im Entferntesten ein; sie hatte keine Ahnung von den Widersprüchen und Seltsamkeiten der Liebe, einfach darum, weil ihr dies Gefühl noch gänzlich fern lag. Ihr Herz wallte auf bei dem Gedanken, jener Unglücklichen vielleicht beistehen und ihr helfen zu können, und deshalb verließ sie das Fenster nicht, sondern bog ihr wunderfeines Köpfchen voll heldenmüthiger Entschlüsse weit hinaus und ließ ihre leichte Gestalt, die wie ein schaukelndes Elfenkind aus den breitblätterigen Schlingpflanzen auftauchte, vom Mondschein voll beleuchten… Ein markerschütternder Schrei bebte in diesem Augenblick durch die Lüfte. Die Fremde riß den Schleier über das Gesicht, hielt ihn mit gekreuzten Händen auf der Brust fest und floh wie gehetzt querfeldein über den Rasenplatz und die äußere Steintreppe des Hauses hinauf. Eine nach der Terrasse mündende Thür wurde von innen aufgerissen, und von dem Licht mehrerer Lampen grell überstrahlt, erschien der Neger auf der Schwelle. Die Dame brach neben ihm fast zusammen; aber sie raffte sich wieder auf, deutete mit dem Arm zurück nach dem Pavillon und verschwand im Hintergrund der Halle.

Dies Alles hatte Lilli wie erstarrt mit angesehen; aber nun haschte sie angstvoll nach den Flügeln der Jalousie und zog sie heran, denn der Schwarze stürzte wie wüthend die Terrassentreppe herab. Sie hatte eben mit unsicheren Händen die Riegel vorgeschoben, als draußen der Kies unter seinen Schritten kreischte; er schlug mit der Faust gegen den Laden, daß das alte Holz dröhnte, und stieß in gebrochenem Deutsch einen Schwall von Flüchen und Verwünschungen hervor. Die Finger des jungen Mädchens umschlossen krampfhaft den untern Riegel und drückten ihn nieder. Dicht neben ihrem Ohr, durch die Spalten der Jalousie klang die heisere Stimme des zornigen Schwarzen, sie meinte, seinen Athem im Gesicht zu fühlen. Ein unsägliches Grauen bemächtigte sich ihrer, aber sie harrte bewegungslos aus auf ihrem Vertheidigungsposten. Zum Glück wurde ihr Heldenmuth auf keine weitere Probe gestellt. Eine befehlende Männerstimme, die aus den Lüften, vermuthlich vom Thurm herab scholl, berief den Neger in das Haus; er verstummte sofort und entfernte sich mit hastigen Schritten.

Es war das erste Mal in ihrem Leben, daß sich das junge Mädchen sagen mußte, es habe eine Unannehmlichkeit für Tante Bärbchen herbeigeführt. Jeder Nerv an ihr hatte gezittert bei dem Geschrei des Tobenden, das sicher bis in das Schlafzimmer der Hofräthin gedrungen war, … und morgen, ja morgen rächte sich der Blaubart voraussichtlich auf eclatante Weise, weil man versucht hatte, in sein Geheimniß einzudringen… Sie verließ den Pavillon unter bitteren Selbstvorwürfen und huschte nach dem Hause zurück. Sauer und Dorte standen mit nicht zu verkennender Wißbegierde und langen Hälsen auf einer Gartenbank und versuchten, dem unüberwindlichen Zaun ein Stückchen Einblick abzuringen;

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verschiedene: Die Gartenlaube (1866). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1866, Seite 435. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1866)_435.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)