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verschiedene: Die Gartenlaube (1866)

Scenen und Bilder aus dem Feld- und Lagerleben.
2. Der Ausmarsch.[1]


Es war am 3. Juni, als das elfte Husarenregiment von Düsseldorf ausmarschirte. Wohin? Die Leute wußten es nicht, aber daß es in einen schweren Krieg hineinging, das wußten sie, und deshalb auch waren sie so ernst, trotz den heiteren Klängen der Trompeten, die gar lustig in den Frühmorgen die alte Volksweise: „Muß i denn, muß i denn zum Städtle hinaus“[WS 1] hineinschmetterten.

Der alte Wachtmeister mit dem weißen Schnurrbart und der schweren umfangreichen Brieftasche ritt vorauf dicht hinter dem Rittmeister, und die Gedanken dieser beiden alten Herren mochten wohl auch bei den Angehörigen weilen, die zurückgeblieben waren.

Ueber’s Jahr, dann ist meine Zeit vorbei,
Dann gehör i mein und dein.
Bin i dann, bin i dann dein Schätzele noch,
So soll die Hochzeit sein!

Ach ja, wie manches Herz hatte gehofft und darauf vertraut, daß der nächste Lenz der Geliebten den Myrthenkranz bringen werde! Und nun? Ein Achselzucken nur kann diese Frage beantworten. Wie manches blaue oder braune Augenpaar blickte hinunter auf die schmucken Jünglinge und wie manches dieser schönen Augen war feucht! Es ist eine schwere, verhängnißvolle Zeit, eine Zeit, die den Scherz nicht mehr aufkommen läßt, die den Humor „Hochverrath“ nennt. Und doch ist der Humor der Freund, der in Tagen wie die jetzigen vor allen tröstend uns zur Seite steht!

Am Bahnhofe machten die Husaren Halt; die Waggons standen zu ihrer Aufnahme schon bereit. Wie aber die Pferde hineinbringen? Gar mancher alte Cavalerist würde bedenklich das Haupt geschüttelt und verschiedene unausführbare Vorschläge gemacht haben, der Staat hatte die Aufgabe bereits in praktischer Weise gelöst. Es sind hohe, ziemlich flach aufsteigende und mit einem Geländer versehene Gerüste, welche vor die Waggons gestellt werden, und dieses Verbindungsmittel zwischen Waggon und Perron ist in der That so bequem und einfach, daß man nicht begreift, weshalb es nicht früher schon erfunden und benutzt wurde. Die Gerüste kamen nämlich zuerst im Jahre 1862 in Anwendung, damals als Preußen den (nunmehr gefangenen) Kurfürsten von Kassel zwingen wollte, sein Volk verfassungsgemäß zu regieren, und seitdem heißen sie die „Hessenböcke“. Nun, es geht ja auch heute wieder gegen Hessen, gegen den ganzen Norden und den Süden Deutschlands. Das Hineinbringen der Pferde bereitete keine Schwierigkeiten; es geschah mit jener Schnelligkeit und Sicherheit, welche man in der preußischen Armee zu finden gewohnt ist. War auch hin und wieder ein Rößlein ungeduldig, nun, die Menschen waren’s mitunter auch, aber der alte Wachtmeister mit dem weißen Schnurrbart und der schweren Brieftasche wußte den Ungeduldigen gar rasch „Raison beizubringen“.

Wie manches Herz mag stürmisch gepocht haben, als der Zug sich langsam in Bewegung setzte! Wie manches Auge mag feucht gewesen sein, während es dem davonbrausenden Dampfroß nachblickte!

Unter Hurrahrufen rückten sie ab, unter dem Hurrahrufen der Volksmenge, die auf dem Bahnhofe sich versammelt hatte, und manches weiße Taschentuch schickte noch aus der Ferne den letzten Abschiedsgruß.

E. A. K.




Eine emporgedrehte Stadt.
Von A. Douai.


Zu dem Wunderbarsten des an Wundern so reichen nordamerikanischen Freistaates gehört die allen Analogien in der alten Welt spottende riesenhafte Entwickelung vieler seiner Städte. Orte, die vor Jahrzehnten noch unbedeutende Dörfer, ja oft nur einsame Ansiedelungen waren, zählen jetzt ihre Einwohner bereits nach Zehn-, ja nach Hunderttausenden. Als das Wunder der Wunder aber muß unbedingt die Stadt Chicago im Staate Illinois bezeichnet werden: vor dreißig Jahren noch ein Dorf mit wenigen hunderten Bewohnern, ist sie jetzt ein Welthandelsplatz mit nahezu einer Viertelmillion Einwohnern, der mit Recht „die Königin des amerikanischen Westens“ genannt wird. Und Chicago verdankt dies selbst in Amerika beispielslose Wachsthum keiner Ausbeutung der Reichthümer ganzer Erdtheile, keinen aufgehäuften Capitalien, keiner Fernsicht großer Genies; nicht einmal seine Lage ist besonders günstig. Denn die Ufer des Michigan-Sees sind nirgends flacher und sumpfiger, als gerade da, wo der kleine, nur wenige Meilen aufwärts für mäßig große Flußkähne schiffbare Bach mündet, auf dessen beiden Seiten es sich ausbreitet, und die Einfahrt in die Mündung ist weniger leicht, als bei den Städten Milwaukee, Michigan City, Manitowoc und anderen Häfen des Michigan-Sees. Wenn also etwas aus der neuen Stadt werden sollte, so mußten die neuen Verkehrswege erst künstlich geschaffen werden, auf welchen derselben ihre Bedeutung zuwuchs, ein Canal, der den See mit dem Illinoisflusse da, wo er schiffbar wird, und Eisenbahnen, welche sie mit den Strömen Mississippi und Ohio, sowie mit dem fernen Osten verbänden. Somit ist die ungemein große Bedeutung Chicago’s fast lediglich das Geschöpf des Gemeinsinns und des Unternehmungsgeistes seiner Bürger, und wenn sich diese beiden Eigenschaften bei ihnen überaus glänzend belohnt haben, so war die Belohnung nirgends so wohlverdient und naturwüchsig. Es ist also nicht zuviel gesagt, wenn man behauptet, daß bei Chicago eine kleine Zahl freier Männer, welche ihren Mitbürgern ihren Geist einzuflößen verstanden, sich mächtiger erwiesen hat, als anderswo der Wille von Kaisern und Königen, die über die Gesammtmittel vieler Millionen Menschen geboten.

Es fehlte den Gründern der Größe Chicago’s sogar an den bescheidensten Geldmitteln, es hat daran gefehlt bis noch vor wenigen Jahren. Die zum Bau des Canals und der Eisenbahnen nöthigen Summen waren weit und breit im Staate und im ganzen Westen nicht vorhanden, denn als er begonnen werden sollte, war eben jene entsetzliche Geldkrisis von 1837 eingetreten, durch welche mehr als achthundert Banken der Vereinigten Staaten sich in ihr Nichts auflösten und der abzuschätzende Reichthum des Landes auf die Hälfte des früheren herabsank. Noch 1844, als Friedrich v. Raumer hier seinen Besuch abstattete, waren die Folgen der Geldkrise nicht vorüber. Selbst noch vor sechs Jahren mußten die Einwohner der Stadt Capitalien zu allen ihren Unternehmungen auswärts (besonders in Boston) zu dem ungeheuren Zinsfuße von fünfundzwanzig Procent borgen, obwohl schon damals der Glaube an die zukünftige Größe der Stadt im ganzen Lande feste Wurzel geschlagen hatte und die Sicherheit alles dort angelegten Capitales bewiesen war. Dennoch wurden Canal und Eisenbahnen gebaut, fast durchaus auf Credit gebaut, und mit ihnen baute sich die Stadt auf, eine Stadt von Palästen. Mit der Stadt wuchs der Anbau des Staates; die endlosen Prairien füllten sich auf beiden Seiten der nach ihr führenden Eisenbahnen mit der besten Classe von Ansiedlern, welche einen lohnenden Markt in Chicago fanden, und so trieben Stadt und Staat einander wechselseitig zu immer rascherem Gedeihen in die Höhe, welches sich auch den angrenzenden Staaten mittheilte.

Da entdeckte man – mitten in diesem lustigen Gedeihen – einen Krebsschaden, an welchem die Stadt kränkelte und unterzugehen drohte. Sie war auf einem so sumpfigen Boden erbaut worden, daß eine Ueberschwemmung durch den See sie höchlich gefährdete.

  1. Wir müssen unsere Leser um Entschuldigung bitten, wenn unser zweiter Kriegsartikel etwas mager ausgefallen ist. Sein Verfasser ist plötzlich ebenfalls zu den Fahnen einberufen worden und schreibt die obigen Zeilen mitten auf dem Marsche. Schon unsere nächsten „Bilder aus dem Feld- und Lagerleben“ werden zeigen, daß wir unseren in diesen Beziehungen gegebenen Versprechungen vollständig Genüge leisten werden.
    D. R.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. z. B. „Muß i denn, muß i denn“ (Heinrich Wagner)
Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Die Gartenlaube (1866). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1866, Seite 428. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1866)_428.jpg&oldid=- (Version vom 4.8.2020)