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verschiedene: Die Gartenlaube (1866)

Und wie willst Du denn über den nassen Kies kommen mit den Papiersöhlchen an den Füßen? … Sauer wird Dich tragen müssen.“

Der Mann mit dem rothen Regenschirm näherte sich sofort und breitete mit dem tiefsten Ernst seine langen Arme aus, aber das junge Mädchen floh lachend in den Garten.

In demselben Augenblick brauste eine elegante Equipage heran. Hinter den Spiegelscheiben des Wagenfensters hingen fest zugezogene, seidene Gardinen und auf dem Bock neben dem Kutscher saß ein Neger in Livree. Der Kutscher fuhr mit der ganzen Rücksichtslosigkeit seiner Classe, sobald sie einen reichen oder vornehmen Herrn hinter sich im Wagen weiß. Offenbar hatte er das Gefühl eines Souverains auf der breiten Chaussee, denn er fuhr so dicht an der altersschwachen Postkutsche vorüber, als existire sie ebensowenig wie der Bauernknecht, der mittlerweile vom Bock herabgestiegen war und sich bei seinem Pferd zu schaffen machte. Nur mittels eines gewaltigen Sprunges rettete der entsetzte Bursch seine gesunden Glieder vor den Pferdehufen und Rädern der vornehmen Equipage. Er brachte vor Schrecken kein Wort heraus, aber es war auch gar nicht nöthig, die Frau Hofräthin stand bereits neben ihm und schien den Kampf für ihn aufnehmen zu wollen.

„Ist das auch eine Art?“ rief sie mit kräftiger, weithin schallender Stimme dem Kutscher nach. „Ich werde Ihm die Polizei auf den Hals schicken für seine Unverschämtheit!“

Der Kutscher fuhr unbeirrt weiter; der Neger jedoch wandte sich um und zeigte hohnlachend seine zwei Reihen blendend weißer Zähne. Gleich darauf verschwand der Wagen in der Einfahrt der angrenzenden Besitzung.

„Das hat man davon, wenn solch’ ein erbärmlicher Kasten vor der Thür hält!“ wandte sich die Dame grimmig an ihren Diener, dem ein Paar kleiner, rother Flecken der Entrüstung über den Vatermördern glühten. „Das war wieder einmal Wasser auf die Mühle da drüben! … Mach’ Er, daß Er in’s Haus kommt, Sauer,“ fuhr sie beruhigter fort, „und hole Er dem Burschen da ein Glas Wein; der Schreck ist ihm in die Glieder gefahren, er sieht ja fast noch wackeliger aus, als seine alte Kalesche.“

Sauer eilte fort und auch die Hofräthin trat in den Garten zurück. Der Regen hatte plötzlich nachgelassen; es rieselte fein hernieder und nur noch von den Zweigen tropfte es klatschend und schwerfällig. Die eben angekommene junge Dame hatte sich während des Vorfalls auf der Chaussee unter einen dichtbelaubten Baum geflüchtet und sah mit großen, erstaunten Augen auf ein neues Haus, das seine glänzend weißen Mauern jenseit des hohen Gartenzauns erhob.

„Lilli, Du bist und bleibst doch ein Leichtsinn!“ schalt die Tante. „Weißt Du denn nicht, daß das der zugigste Platz im ganzen Garten ist? … Ich bitte Dich, Kind,“ fuhr sie erregt fort, indem sie den Blick des jungen Mädchens auffing, „sieh nicht dort hinüber. Ich stelle Dir die eine Bedingung – aber in allem Ernst – daß Du während Deines Hierseins thust, als höre da drüben mit dem Zaun die Welt auf. … Was dort lärmt, schwatzt und geigt, darf nicht für Dich existiren, wenn wir gute Freunde bleiben wollen; hast Du mich verstanden, Lilli?“

Die junge Dame öffnete ihre Augen noch weiter, aber sogleich flog ein reizendes Lächeln um ihre Lippen, sie verbeugte sich und legte die Hände auf Augen und Ohren, zum Zeichen, daß sie blind und taub sein wolle.

„Vorläufig sollst Du wissen,“ sagte die Hofräthin und deutete mit dem Schirm nach dem neuen Haus, „daß da drüben täglich ein neuer Nagel zu meinem Sarg geschmiedet wird. … Jetzt laufe, daß Du in’s Haus kommst… Nimm doch Dein Kleid in die Höhe; siehst Du denn nicht, daß der Buchsbaum schwimmt und den Firlefanz auf Deinem Rock jämmerlich zurichtet?“

Lilli warf einen schelmischen Seitenblick auf die stattliche, kernfeste Gestalt der Tante – die Sargarbeit derer da drüben gedieh anscheinend nicht besonders – dann schürzte sie ihr Kleid, sprang den ziemlich steilen Kiesweg hinauf, der nach dem Hause führte, nahm eine dicke, wohlgenährte Katze, die eben träge durch die Hausflur schlich, bei den Vorderpfoten und tanzte so lange mit ihr herum, bis die Tante lachend, aber mit drohend gehobenem Zeigefinger in der Thür erschien und eine alte Köchin entsetzt aus der Küche stürzte, um ihren am Asthma leidenden Liebling der übermüthigen Tänzerin zu entreißen.

Die Hofräthin Falk hatte bei den Bewohnern der Stadt R. einen großen Stein im Bret. War auch die Art und Weise, wie sie den Leuten die Wahrheit in’s Gesicht zu sagen pflegte, nicht gerade die feinste und schmeichelhafteste und hatte sie die üble Gewohnheit, sich stets mit großer Energie und Entschiedenheit Derjenigen anzunehmen, deren guter Leumund auf dem Marterrost kleinstädtischer Klatschzungen lag, so fielen diese Schattenseiten doch nur leicht in’s Gewicht der seltenen Großmuth gegenüber, mit der diese Frau von ihrem bedeutenden Reichthum Gebrauch machte. Der Bedrückte fand stets ihre Hand und Thür offen, ihre Freunde konnten in Verlegenheit und übler Lage unverrückbar auf ihre Hülfe und ihr Schweigen zählen, und weil in der ganzen Stadt kein Kind zu finden war, das nicht wenigstens einmal Obst und Kuchen bei der Frau Hofräthin gegessen und sich auf den Rasenplätzen ihres Gartens herumgetummelt hatte, so war es wohl sehr natürlich, daß sie eine Allerweltstante wurde. Der vornehm klingende Titel wollte durchaus nicht über die Lippen der Kleinen, desto leichter aber wurde ihnen das traute „Tante Bärbchen“.

Und diese Frau mit dem Herzen voll Liebe und Erbarmen, mit dem starken, unerschütterlichen Gerechtigkeitssinn, sie hatte diese Welt betreten, lieblos verkürzt in ihren natürlichsten Rechten: sie wurde nur mit einem Arm geboren. Die böse Welt suchte diese Missethat der Natur in Einklang zu bringen mit dem göttlichen Gesetz: „Ich will die Sünden der Väter heimsuchen an den Kindern.“ Man raunte sich zu, der Vater der Unglücklichen habe einem armen Mädchen die Ehe versprochen und sich dabei vermessen, der Allmächtige solle ihn an Armen und Beinen strafen, wenn er sein Wort nicht halte. Er habe den Schwur gebrochen und das einarmige Kind sei die nothwendige Erfüllung des göttlichen Drohwortes. Beschwören konnte indeß Niemand dies Gerücht, das auch niemals bis zu den Ohren der armen Verkürzten gedrungen war. Sie blieb das einzige Kind ihres Vaters, der sie vergötterte und dem auch sie anhing mit der ganzen Liebe, deren ihr Herz fähig war. Um ihn über ihre Zukunft zu beruhigen, reichte sie an seinem Sterbebette in ziemlich vorgerückten Jahren dem Hofrath Falk, einem alten Hausfreund, ihre Hand. Aber auch er starb nach einer kurzen, glücklichen Ehe und fortan lebte sie als Wittwe in ihrem väterlichen Hause, umgeben von zwei musterhaften Inventarstücken desselben, dem alten Bedienten Sauer und der sechszigjährigen Köchin Dorte.

Das Haus lag außerhalb der Stadt. Die Chaussee, die hart an dem alten, mit einem häßlichen Thurm gekrönten Stadtthor begann, mußte eine beträchtliche Strecke laufen, bevor sie den Berg erreichte, der, droben jäh emporsteigend, seinen greisenhaften, unbedeckten Scheitel aus einem Kranz prächtiger Buchenwaldung hob, während er drunten gleichsam ein Knie vorbog, auf welchem das Haus der Hofräthin lag. Es war alt und unschön. Ein ungeheures Ziegeldach mit zwei mächtigen Schornsteinen saß so anspruchsvoll auf der einstöckigen Fronte, als sei sie lediglich um seinetwillen da. Einige dickstämmige Weinstöcke umspannen zwar die Wände, aber sie vermochten nicht ganz, einzelne Streifen der schmucklosen, weißen Tünche und die vom Alter braungefärbten Holzrahmen der Fenster zu verstecken. Und doch lag es so traut und heimlich da, gleichsam auf den grünen Pfühl des Waldes gebettet, der seinen Athem darüber hinwehte, jenen Hauch der Romantik, in den sich auch alte, versteckte Jagdschlösser einspinnen… Trat man auf der Thalsohle weit zurück, so daß man die ganze untere Breite des Berges übersehen konnte, dann erhielt freilich das alte Haus einen Gegner, der höhnisch alle Schattenseiten des verunglückten Baues, alle Sünden seines Schöpfers hervorhob. Auf demselben Vorsprung des Berges, nur durch einen hohen lebendigen Zaun von Tante Bärbchens Besitzung getrennt, erhob sich die brillante Façade eines neuen Hauses. Ein viereckiger, stumpfer Thurm an der Südseite überragte das beinahe flache Dach des Hauptgebäudes um eines Stockwerkes Höhe. Droben schwebte zart durchsichtig wie Spinnengewebe eine zierliche Galerie um die Zinne, und die vier Fenster, die fast die ganzen Wandbreiten des Thurmes einnahmen, zeigten in blendendem Farbenschmelz kostbare Schildereien aus buntem Glas. Fast schien es, als verhauche die nordische Luft ihre ganze Kühle und Schärfe an der trennenden grünen Hecke. In Tante Bärbchens Garten strich sie über ehrliche deutsche Kraut- und Kohlhäupter, über ungekünstelten Graswuchs

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verschiedene: Die Gartenlaube (1866). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1866, Seite 418. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1866)_418.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)