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verschiedene: Die Gartenlaube (1866)

Purpurgluth übergoß die Wangen des jungen Mannes; diese Zumuthung kränkte seine Ehre.

„Nimmermehr!“ rief er. „Der erste Schritt ist der schwerste; ist man über ihn hinweg, so geht’s schon besser. Wenn es denn sein muß, in Gottes Namen, dann auch tapfer darauf los.“

Marie schüttelte mißbilligend das Haupt. „Ich wende dagegen nichts ein,“ sagte sie, „aber mir zu Liebe könntest Du doch versuchen, durch Reclamation oder körperliche Untersuchung Dich frei zu machen.“

„Ich will’s versuchen,“ erwiderte Peter Schmitz, „eine Reclamation fruchtet nichts, da ich keine Gründe habe, aus welche ich mich stützen kann, dagegen hoffe ich durch die Untersuchung als dienstuntauglich bezeichnet zu werden.“

Der Montag brach an, Peter Schmitz nahm von seiner Braut Abschied und wanderte zum Bahnhofe.

„Seht die Häringsseele!“ donnerte eine Stimme ihm entgegen, als er in den Wartesaal trat. „Na, Er hat sich wohl vorgenommen, zu simuliren? Wird Ihm schlecht bekommen, guter Freund; die Kriegsgesetze spaßen nicht.“

Jakob Schulz, der ehemalige Hausknecht, war es, der sich erlaubte, in diesem Tone den entrüsteten Jüngling anzureden, während die zahlreich versammelten Cameraden sofort einen Kreis um die Beiden schlossen.

„Sehe schon, was dem schlappen Kerle fehlt!“ fuhr der Hausknecht fort, ohne den drohenden Blick seines ehemaligen Vorgesetzten zu beachten. „Ihm ist noch kein Licht aufgegangen, er hat noch kein Oel auf die Lampe gegossen. Gieße Er diesen Krätzmannshäuser hinter die Binde, dann wird’s Ihm wohl werden und Er hört die Engel im Himmel pfeifen.“

„Nehmen Sie die Flasche,“ flüsterte der Materialwaarenhändler, der sich unter den Umstehenden befand, seinem Commis zu; „mit den Wölfen muß man heulen und unser Hausknecht ist augenblicklich unser Vorgesetzter.“

Mechanisch ergriff der Jüngling die Flasche. Er that einen herzhaften Zug, der den ganzen innern Menschen erwärmte und durch das raschere Wallen des Blutes den schweren Druck vom Herzen wälzte.

„So noch Einer unter Euch sich befindet, der dieser Cur bedürftig ist, möge er vortreten!“ rief Schulz. „Ich verlange als Honorar für meine Bemühungen nur, daß er die Flasche wieder füllen läßt.“

„Hier ist Stoff genug!“ entgegnete ein elegant gekleideter junger Mann, während er dem Unterofficier einen Krug überreichte. „Echter Münsterländer.“

Jakob Schulz blickte fragend den freundlichen Spender an.

„Herr Lieutenant?“ fragte er.

„Gott bewahre,“ fuhr der junge Herr fort, „ich bin Gemeiner, aber drüben an der Thür steht unser Compagnieführer.“

„Donnerwetter, das ist ja der Buchbinder, der uns die Düten liefert!“ sagte Schmitz überrascht. „Der ist Officier?“

„Er hat sein Officierexamen schon vor zehn Jahren gemacht und das Officierpatent im Jahre 1859 erhalten,“ erwiderte der Materialwaarenhändler.

Jakob Schulz hatte den Krug entkorkt und nach einem kräftigen Zuge dem nächsten Nachbar überreicht.

„Lauter Münsterländer, lauter Geldverschwender!“ sang er, dann sich hoch emporrichtend, rief er: „Stillgestanden! Rechts und links schwenkt zum Kreise, marsch!“

Willig führten die Anwesenden den Befehl aus, der Spiritus hatte seine Wirkung schon gethan.

„Leute, wir sind zu der Fahne des stehenden Heeres einberufen,“ begann der ehemalige Hausknecht, während er gravitätisch an den Spitzen seines rothen Schnurrbartes drehte. „Weshalb? Das weiß wohl Niemand, aber im Grunde ist’s auch gleichgültig, wir sind einberufen und wir folgen dem Ruf als stramme Soldaten, nicht als schlappe Schwammklöpper, denen es, wie der ehemaligen Reichsarmee, nicht darauf ankommt, ob sie heute oder morgen das Quartier erreichen. Also stramme Haltung, Kopf in die Höhe, Brust heraus! Ich bitte mir aus, daß in Ordnung und geschlossenen Reihen eingerückt wird! Wollt Ihr Euch nicht schon jetzt an Disciplin gewöhnen, was soll es später geben?“

Ein donnerndes Hoch war die Antwort aus diese improvisirte Anrede.

„Unterofficier Schulz soll unser Führer sein!“ riefen Einige und die Uebrigen stimmten ihnen bei.

„Ich nehme die auf mich gefallene Wahl an, Kinder,“ erwiderte Schulz mit herablassendem Kopfnicken. „Wer führt einen Stock bei sich?“

Sofort erschienen ein Dutzend Stöcke über den Köpfen der Versammelten.

„Wohlan, sucht den größten aus und bindet ein weißes Taschentuch an ihn, auf daß wir eine Fahne haben, die uns voranweht,“ fuhr der Unterofficier fort. „Aber hoch zu Roß muß Euer Führer an der Spitze sein, wer will mir den Liebesdienst erzeigen?“

Ein stämmiger Metzgergeselle trat vor.

„Bon, ich will Ihm die Ehre erzeigen, auf dem Bahnhofe in Düsseldorf meldet Er sich. Lieber wäre es mir gewesen, wenn Er sich dazu gemeldet hätte, Peter Schmitz, Er hat so oft auf mir geritten, daß Er mir nun wohl auch erlauben könnte, einmal auf Ihm zu reiten.“

Die Glocke läutete, die Thüren zum Perron wurden geöffnet. Jakob Schulz machte dem Posten, auf den er erhoben worden war, Ehre; er trug dafür Sorge, daß Niemand, sei es wissentlich oder unwissentlich, zurückblieb, er warnte die, welche bereits allzutief in die Flasche geblickt hatten, und reichte den zur Hälfte noch gefüllten Krug allen denen, in deren Gesichtszügen er las, daß sie sich mit dem eisernen Walten des Geschicks nicht befreunden konnten. Und als der Zug sich in Bewegung setzte, war es wieder Jakob Schulz, der das alte Volkslied: „Muß i denn, muß i denn zum Städtle hinaus“[WS 1] anstimmte und gar manches bedrückte Herz durch den Vers: „Ueber’s Jahr, da ist meine Zeit vorbei“ aufrichtete.

Inzwischen machten die Flaschen und der gespendete Krug gar fleißig die Runde, und als der Zug an der ersten Station hielt, versäumte Niemand, seine Flasche wieder füllen zu lassen. In Düsseldorf angekommen, versammelte Schulz seine Mannschaften um sich.

„Angetreten! Stillgestanden! Man führe mein Roß vor! Rechts um! Marsch!“

Jakob Schulz saß stolz auf den Schultern des Metzgergesellen; Peter Schmitz, der bereits seine Braut, sein eigenes, noch zu gründendes Geschäft, seine blaue Ladenschürze und die Häringstonnen vergessen hatte, trug die Fahne. In wohlgeordneten Reihen marschirten die Reservisten und Landwehrmänner hinter ihrem Führer; sie hatten sich, Dank dem Geiste, der in sie gefahren war, in das Unvermeidliche gefügt und nur wenige befanden sich noch unter ihnen, die an die Fleischtöpfe Aegyptens zurückdachten. Es war eine stille, einsame Straße, in der Jakob Schulz plötzlich „Halt!“ commandirte. Er schwang sich von seinem Sitz herunter und warf einen Blick des Wohlwollens über die Köpfe seiner Cameraden.

„Nach diesen Strapazen und Mühen, liebe Kinder, dürfen wir uns eine kurze Ruhe erlauben,“ sagte er, während er auf das Schild einer Bierbrauerei zeigte.

„Aber es ist bereits zehn,“ wandte der Fahnenträger ein.

„Wäre ich nicht so gutmüthig, wie ich es leider stets gewesen bin, würde ich Ihm augenblicklich drei Tage Arrest dictiren, Er Sacramenter!“ donnerte der Unterofficier. „Denkt Er vielleicht, Er stehe noch hinter der Schnupftabakwage? Binnen fünf Minuten hat Jeder sein Glas geleert und dann geht’s weiter, verstanden?“

„Zu Befehl.“

„Er treibt mir’s zu bunt,“ flüsterte Schmitz seinem ehemaligen Principale zu.

„Lassen Sie ihn,“ erwiderte der Spender des Münsterländers, „wir kommen höchstens fünf Minuten zu spät und bei solchen Gelegenheiten darf Niemand den Spaß verderben.“

Jakob Schulz hatte nicht ohne tieferen Grund seiner Mannschaft diese Erholung erlaubt. Er war mit dem Schenkmädchen befreundet und unter den obwaltenden Umständen hielt er es für rathsam, die alte Freundschaft zu erneuern, bevor ein gefährlicher Nebenbuhler ihm zuvorkam. Nach einem Aufenthalt von fünf Minuten marschirte die kleine Schaar wieder ab. Als sie auf dem Exercirplatze anlangte, ließ der Unterofficier seine Mannschaft aufmarschiren. Der Regen goß in Strömen, nichtsdestoweniger hatte eine unübersehbare Menschenmenge sich eingefunden, um ihre Neugierde zu befriedigen. Einige Compagnien Infanterie hielten den Platz besetzt, die Zuschauer mußten sich hinter den Canal, der den Exercirplatz von der Allee trennt, zurückziehen.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. z. B. „Muß i denn, muß i denn“ (Heinrich Wagner)
Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Die Gartenlaube (1866). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1866, Seite 407. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1866)_407.jpg&oldid=- (Version vom 4.8.2020)