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verschiedene: Die Gartenlaube (1866)

No. 26.

1866.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. – Herausgeber Ernst Keil.

Wöchentlich bis 2 Bogen. Durch alle Buchhandlungen und Postämter vierteljährlich für 15 Ngr. zu beziehen.


Gefangen.[1]
Von A. Ewald.


Margarethe: Er kommt!
Faust: Ach Schelm, so neckst Du mich!
 Treff’ ich Dich!
Margarethe: Bester Mann! von Herzen lieb’ ich Dich.



Mein Steckenpferd ist die Anatomie. Sie hat die sichersten Grundlagen, sie hat keine Geheimnisse, sondern klare, sogar der Anschauung faßbare Gesetze; im Uebrigen bin ich der Allopathie aus demselben Grunde zugethan. Von jeher besaß ich für meine Wissenschaft zu viel Interesse und fand in ihr zu viel Beschäftigung, um daneben noch andere Zwecke zu verfolgen. Ohne rechts und links zu sehen, habe ich mich immer nur der Medicin gewidmet, die Politik hat mich selbst 1848 nur vom Standpunkte der Psychiatrie berührt, die Religion hat mir keine Scrupel gemacht; mein bescheidener Glaube ist doch am Ende so viel werth, wie das schönste Dogma. Damit hab’ ich’s denn sehr glücklich getroffen, denn ich curire Heiden und Christen, Bettler und Fürsten und nütze beständig mir und meiner Wissenschaft.

In einem Punkt sah es freilich bedenklich aus. Die Medicin ist eine Wissenschaft, die sich wenig mit andern Herzenskrankheiten beschäftigt, als physischen Erweiterungen und Verknöcherungen. Auch waren die Bekanntschaften, zu denen sie mich führte, nicht eben solche, die mich von einer andern als der ärztlichen Seite her beschäftigen konnten. Die schöne Welt ist, das versichere ich, zu einem großen Theile eine kranke Welt, und meistens in Folge verkehrter Erziehung und Gewöhnung. So ein kleines Mädchen in seiner Zartheit und Feinheit, mit seiner körperlichen Empfindlichkeit und geistigen Empfindsamkeit ist ein reizendes Ding und ganz zum Verhätscheln geschaffen. Von hundert Müttern und Vätern widerstehen keine zehn der Versuchung, das liebe Geschöpf körperlich und geistig gründlich zu verwöhnen; es wird eingewickelt in Tücher und Pelze und gefüttert mit Kuchen und Confect, seine lebhafte Phantasie wird gleichfalls mit Zucker genährt, jeder Wunsch wird erfüllt, jeder Laune wird nachgegeben; zuletzt ist der Engel so vollkommen, daß er dieser irdischen Welt nicht mehr angehört. Blutarm plagt er sich mit ewigen Unpäßlichkeiten, Nerven und Krämpfen, Zahnweh und Magenleiden, gehen und stehen kann er nicht, aber tanzen desto besser, und bei seiner Kränklichkeit ist er unleidlich und folgt dem Arzte nicht. Da verliebe sich ein Doctor! Wir Aerzte sind überhaupt so glücklich, von unserem Berufe selbst immer genöthigt zu werden, das Leben von der realen Seite zu nehmen. An jedem unserer Freunde und Freundinnen lernen wir am besten Krankheiten und Schwächen kennen und, weil Krankheiten und Schwächen vielfach aus Schuld entspringen, auch die Fehler und Laster. In Geist und Gemüth können wir freilich noch nicht mit Sicherheit hineinblicken, aber die Leiber können uns nichts verschweigen. Ja, hat ein Herr Patient uns einmal in die Beschaffenheit seines Innern blicken lassen müssen, dann hält er’s in der Regel gar nicht mehr für der Mühe werth, etwas zu verstecken, sondern macht den Arzt zum Vertrauten. Wie manche Schönheit hat vor unseren Augen einen ekelhaften Flecken, wie manche Liebenswürdigkeit wird uns zur Widerlichkeit! Ich bin überzeugt, wir beurtheilen die Menschen sehr richtig, aber wir erkaufen unser Urtheil sehr theuer, denn ein Bischen poetischer Illusion und sogar gründlicher Täuschung ist auf dieser Welt nicht wohl zu entbehren, und daß wir’s nicht entbehren können, wissen wir Aerzte leider am besten.

Dieser Schleier der Illusion ist vor Allem für das Familienleben ersprießlich. Fast überall giebt es da Dies oder Jenes zu beklagen; am glücklichsten leben die, welche am nachsichtigsten gegen einander sind; in das Innere mancher Ehen thut der Arzt einen Blick, bei dem er das Gruseln lernen kann, selbst Ehen, die für glücklich gelten, zeigen sich oft im stillen Frieden der Häuslichkeit sehr trübselig und wenig anziehend. Das ist gar selten, daß Eins mit dem Andern in voller Uebereinstimmung lebt und Eins das Andere fördert und erhebt. Ich war demnach auf dem besten Wege, ein Bruder Hagestolz zu werden, und hätte mich mit Freudigkeit in dieses Schicksal ergeben. Im Rathe der Götter war’s aber anders beschlossen.

Als lediger und wohlsituirter Mann hatte ich so zu sagen ganze Regimenter von Amazonen, jedoch heirathslustiger, zu bestehen, die Mütter waren die Aufmerksamkeit selbst, die Töchter bestrebten sich, mir zu gefallen, und zierten sich um so mehr und thaten um so gebildeter, die glücklichen Väter secundirten. Es regnete Einladungen in Häuser voll edler Weiblichkeit; die meisten dieser Angriffe, ja fast alle, schlug ich ab, ich wäre sonst vor der Zeit fett geworden, denn man wollte mir gründlich zeigen, was Küche und Keller leisten könnten. Die schönen Töchter wurden krank, damit ich gerufen werden konnte; für die meisten ihrer Krankheiten hat die Wissenschaft noch keine Lehre und keinen Namen gefunden, in der Regel war’s Kopfweh, Mattigkeit. Und wie

  1. Wir theilen hiermit die zweite Erzählung aus dem in Nr. 20 bereits erwähnten Cyclus von Novellen unter dem Titel „Nach siebenzehn Jahren“ mit, ein heiteres Gegenstück gegen die hochtragische erste. D. Red.     
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verschiedene: Die Gartenlaube (1866). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1866, Seite 401. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1866)_401.jpg&oldid=- (Version vom 12.12.2020)