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verschiedene: Die Gartenlaube (1866)

eine gegen die Frankfurter Weingärten vorgehende Abtheilung leichter hessischer Infanterie zu kommen, welche schon nach der neuen Taktik, die sie in Amerika von den „Rebellen“ gelernt, eine aufgelöste Linie gebildet hatte. Man fragte ihn über die Franzosen aus und wies ihn auf seine Frage nach dem Lieutenant Ortenburg, der jetzt beim Jägercorps stand, zurecht. Im Lager fand er ihn aber nicht, Ortenburg war auf Feldwache und der Gesell mußte noch eine weite Wanderung machen, ehe er zu ihm kam. Der Officier erkannte ihn gleich und fragte dringend, ob er aus Frankfurt komme und etwas von seinen Verwandten wisse. Sperber entledigte sich seines Auftrages von der Frau Weidel, die den jungen Herrn grüßen und fragen ließ, ob er ihren Brief erhalten habe. Da verdüsterte sich Ortenburg’s männliches Gesicht und er schien mit der Antwort nicht gleich fertig zu sein: „Den Brief hab’ ich erhalten,“ sprach er dann, „sag’ ihr das – ob sie mir die Wahrheit geschrieben hat, werde ich morgen vielleicht schon erfahren, wenn ich lebend hineinkomme!“ Seine Handbewegung gegen die ferne Stadt ließ keinen Zweifel, was er meinte.

„Morgen schon?“ fragte Sperber eifrig.

„Morgen oder doch bald!“ erwiderte der Officier. „Geht nun mit Gott, ich werde Euch einen Jäger mitgeben, daß sie Euch vorn durchlassen. Es wird Zeit, wenn Ihr noch vor Thoresschluß kommen wollt.“

„Klopfen Sie nur bald bei uns an, Herr Lieutenant; wenn die Franzosen nicht ‚Herein‘ rufen, thun wir’s!“

Zum andern Morgen – am 2. December – war wirklich der Sturm festgesetzt und sollte nach der Disposition, welche der preußische Oberstlieutenant von Rüchel entworfen hatte, in vier hessischen Colonnen, davon eine auf Mainschiffen, ausgeführt werden. In der Nacht, bei hellem Mondschein, marschirten die Truppen nach ihren Sammelplätzen; gegen Morgen fiel ein dichter Nebel ein, unter dessen Schutz der Angriff zum Ueberfall werden konnte. Rüchel ritt selbst auf das Glacis vor der Stadt, um zu horchen, ob drinnen sich Unruhe hören lasse – Alles war still. Aber die preußische Reservecolonne ließ auf sich warten, der Herzog von Braunschweig, der überhaupt mit dem Sturm nicht einverstanden war, wie er schon bei Valmy im September den entscheidenden Angriff gegen den Wunsch des Königs verhindert, hatte jene Colonne angehalten. Rüchel jagte ihr entgegen und fand sie: „Wer hat Halt befohlen?“ schrie er wüthend.

„Der Herzog!“ antwortete man ihm von der Tête.

„Heilige Schock Donnerwetter!“ fluchte Rüchel. „Wo ist denn der große Herzog?“

„Hier!“ klang es ganz in der Nähe aus dem Nebel, es war des Herzogs Stimme.

Rüchel zog den Hut. „Durchlaucht, mir ist der Angriff übertragen, meine Ehre hängt davon ab. Niemand darf in meine Anordnungen eingreifen!“

„Lassen Sie gut sein,“ sprach aus der kaum erkennbaren Reitergruppe eine andere wohlbekannte Stimme, der König. „Ihre Disposition wird Niemand ändern.“

„Die Wege waren schlecht,“ sagte der Herzog, „die Regimenter kreuzten sich; deshalb wurde angehalten, um Alles zu sammeln.“

„Befehlen Eure Majestät also?“ fragte Rüchel und commandirte dann selbst: „Vorwärts, Marsch!“

Unterdessen war aber der Nebel gefallen, viel kostbare Zeit unbenutzt verstrichen, eine Versäumniß, die mit Blut bezahlt werden mußte. Zwar brachten zwei Fuhrleute, welche eben das Neue Thor passirt hatten, die Nachricht, daß das Thor offen stehe und der Wall unbesetzt sei; die zum Sturm auf dasselbe bestimmte vierte hessische Colonne eilte im Laufschritt vor, wurde aber schon vom Wall und Thurm mit einer Salve empfangen, während die Zugbrücke schnell aufgezogen wurde. Die dritte Colonne fand das Allerheiligen- (Hanauer-) Thor ebenfalls gesperrt und so entspann sich an beiden Punkten ein Feuergefecht, in welchem die gedeckt stehenden Franzosen den Hessen empfindliche Verluste beibrachten. Im Innern der Stadt zeigte sich jedoch unverhohlen der feindselige Geist der Bevölkerung, und General Helden, der nichts gethan, die Werke in vertheidigungsfähigen Stand zu setzen, mußte sehen, wie am Thore, wohin er sich begeben, ein tobender Volkshaufen, mit Aexten, Stangen und Knütteln bewaffnet, die Oeffnung des Thores von ihm verlangte. Viele Nationalgardisten hatten schon beim bloßen Angriff der Sturmcolonnen die Flucht ergriffen, die Wache aber ließ sich nicht beirren; die Menge wurde verjagt und Ordonnanzen sprengten zurück, die Reserve, die auf der Zeil zusammengezogen war, herbeizuholen und an jedes der angegriffenen Thore eins von den beiden Geschützen zu bringen.

„Dulden wir das, Brüder?“ schrie aus dem Volkshaufen bei der Constablerwache eine laute Stimme; es war die Sperber’s. Und mit wildem Geschrei stürzte die Menge auf die Kanonen, welche unter Bedeckung einer Compagnie vorgingen, hieb ihre Räder in Stücke und warf auch die Munitionswagen um. In demselben Augenblicke schlugen die ersten preußischen Bomben von der schweren Batterie, welche der dritten Colonne beigegeben war, auf der Zeil ein und bewirkten ein allgemeines Auseinanderstäuben, nicht blos der Frankfurter, sondern auch der Franzosen, welche mit Ausnahme zweier Liniencompagnien in unaufhaltsamer Flucht dem Bockenheimer Thore zustürzten. Sie rissen die dortige Wache sammt der Wallbesatzung mit sich fort, als der Ruf der Bürger erscholl: „Die Hessen sind in der Stadt! Sie geben keinen Pardon!“ Das war allerdings noch verfrüht. Helden dachte aber unter solchen Umständen an Capitulation, und als er am Thore von seinen eigenen Leuten verhindert wurde, Unterhandlungen anzuknüpfen, ritt er resignirt nach seiner Wohnung zurück und verbot sogar einer Abtheilung Linieninfanterie, die sich mit den Waffen einen Weg zum Thore bahnen wollte, ihr Vorhaben.

Das Feuer an beiden Thoren dauerte fort, für die Hessen ziemlich mörderisch, da gelang es ihren Geschützen, gegen halb zehn Uhr die kleine Zugbrücke für Fußgänger am Neuen oder Friedberger Thore herunterzuschießen.

„D’rauf und d’ran jetzt, Brüder!“ schrie wieder dieselbe Stimme von der Zeil, und Sperber’s Meister, der nun auch dabei war, schrie noch lauter „Hurrah!“ dazu. Die handfesten Gesellen warfen sich auf die französische Thorwache, entwaffneten sie, Andere, mit Schmiedehämmern, sprengten die Kette der großen Zugbrücke, daß diese herniederrasselte. „Victoria!“ brüllte es aus hundert Kehlen, und das erste Bataillon hessischer Gardegrenadiere stürmte in das Thor, auf den Wall, wo die Franzosen noch Widerstand leisteten, während das erste Bataillon Garde unter Oberst Benning mit Trommelschlag und Siegesgeschrei in die Stadt, die Friedberger Gasse zur Zeil hinauf, vordrang, Alles vor sich her zurückwerfend und, was sich zur Wehr setzte, niederstoßend. Andere Bataillone folgten. Ein unermeßlicher Jubel empfing die hessische Colonne; aus allen Fenstern wehten weiße Tücher, Damen eilten in ihrer Exaltation auf die Straße und umarmten den ersten Officier oder Gemeinen, den sie vor sich sahen. „Victoria, Victoria!“ überall, aber auch: „Tod dem Custinus! Der Custinus soll sterben!“ Der war nicht hier, aber einer seiner Adjutanten, dessen Milchgesicht man sich wohl gemerkt hatte, wurde abgefaßt, als er eben aus des Rathsherrn Hartinger Hause stürzte und, siehe da, den alten Herrn, von zwei Chasseurs gepackt, mit sich fortschleppen wollte. Hartinger war im Nu befreit und den Adjutanten hätte das Volk in Stücke zerrissen, wenn ihn nicht Einer, der die Menge geführt, geschützt hätte. „Thut ihm nichts,“ schrie er, den Todtblassen mit seinem Leibe deckend, „er hat mir einmal das Leben gerettet!“ Und als die Nächsten verdutzt abließen, brach sich der Beschützer mit dem Gefangenen Bahn zur nächsten Ecke. „Nun mach’, daß Du fortkommst. Du hast mir’s Leben gerettet, das vergißt ein deutsches Herz nicht! Vergiß Du’s auch nicht!“ Es war der Sperber.

Die Zeil entlang donnerte jetzt die Carriere einer geschlossenen Reitermasse. Es war die hessische Cavalerie, welche zur Verfolgung der Flüchtlinge ging. Vier- bis fünfhundert Mann wurden noch eingeholt; Viele warfen sich beim Herannahen der Reiter auf die Kniee und baten um ihr Leben, hatten aber in der Todesangst die Waffen nicht abgelegt. Um bei der Erbitterung der Hessen ein Blutbad zu verhüten, jagte der Oberst von Staal, Commandeur der Garde du corps, voraus und commandirte den Franzosen statt ihres Officiers: „déposez les armes!“ worauf die Gewehre zu Boden klirrten und Alles gefangen wurde, wie in der Stadt schon General Helden mit etwa achthundert Mann. Ein Versuch des Generals Neuwinger, von Bockenheim aus der Besatzung zu Hülfe zu kommen, wurde abgewiesen. Bald nach dem geglückten Sturme hielt der König von Preußen mit dem Herzoge von Braunschweig und einem glänzenden Gefolge unter einem neuerwachenden Jubel des Volkes seinen Einzug. Die alte Reichsstadt war befreit.

Auch aus Hartinger’s Fenstern hatten weiße Tücher geweht,

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