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verschiedene: Die Gartenlaube (1866)

Nach diesen Anzeichen mußte es von nicht geringem Interesse sein, denselben geheimnißvollen Kreis von eigentlich drei Personen, – denn neben dem Grafen und der Gräfin gehört auch der Kammerdiener, der zugleich zu gewissen Zeiten auch als Kutscher fungirte, zu den bis an ihr Ende vor der Welt im Dunkel Gebliebenen – wenige Jahre vor dessen Erscheinen in Hildburghausen ganz in derselben äußern Gestalt und zurückgezogenen Haltung in Ingelfingen zu finden.

Um das Jahr 1803 oder 1804, erzählt Dr. Kühner, erschien in dem Städtchen Ingelfingen im Würtembergischen ein Unbekannter, der sich Graf oder Baron nannte, und lebte daselbst einige Zeit in räthselhafter Dunkelheit. Er hatte eine Miethwohnung bezogen, zugleich mit einer Dame, die er selbst seine Gemahlin genannt haben soll, oder die man wenigstens allgemein dafür hielt. Die vornehme Einfachheit seiner Lebensweise ließ den hohen Rang, seine Zurückgezogenheit von der Welt ließ reiche Welterfahrung durchblicken. Er hatte eigene Equipage; sein einziger Diener, der zugleich Kutscher war, theilte die Abgeschiedenheit seines Herrn und zeigte in seiner noblen Haltung eine weit über seinen Stand gehende Bildung. Eine weibliche Dienerin war unter der Verpflichtung der Verschwiegenheit angenommen worden; sie durfte nur zu gewissen Stunden die Wohnung der Fremden betreten. In die Nähe der Dame aber ist selbst diese Dienerin nie gekommen. Der Graf war das einzige menschliche Wesen, mit welchem die Unbekannte in Berührung kam. Niemand in Ingelfingen hat sie gesprochen, oder auch nur sprechen hören. Wenn sie Tritte auf der Treppe hörte, flüchtete sie in ihr innerstes Gemach, das sie hinter sich verschloß. Sie soll viel geweint haben. Wenn sie am Arme ihres Gemahls spazieren ging, oder wenn sie mit ihm ausfuhr, war sie verschleiert, oder trug eine grüne Brille; doch wollten damals Personen, die sie sahen, behaupten, daß sie eine auffallende Aehnlichkeit mit der Tochter Ludwig’s des Sechszehnten zeige.

Der Graf mied nicht allen Umgang. Er kam z. B. öfters zu dem Apotheker, in dessen Hause er wohnte, interessirte sich für dessen chemische Arbeiten und sprach mit ihm einsichtsvoll über medicinische Gegenstände. Die Wenigen, die mit dem Grafen in nähere Berührung kamen, priesen mit Entzücken die Liebenswürdigkeit seines Charakters, sein edles, gemüthvolles Wesen, seine wissenschaftliche Bildung, seine tiefen Kenntnisse politischer Verhältnisse und bedeutender Personen.

Man erinnerte sich, daß er einst auf die Frage, ob er Kinder habe, mit tiefer Wehmuth antwortete: „Wenn ich so glücklich wäre!“ – Und doch war damals der Graf ein blühender Mann, höchstens ein Vierziger, und die Dame, die er begleitete, stand in der ersten Jugendblüthe!

Der Graf interessirte sich sehr für die politischen Gesinnungen der Vornehmen in Ingelfingen; er selbst zeigte Sympathie für die rechtmäßige Dynastie in Frankreich. Zeitungen in verschiedenen Sprachen hielt er für seine Person; von fernen Posten kamen häufige Briefe an ihn. Zu Ingelfingen war man allgemein der Meinung, daß er ein französischer Prinz sei; Viele hielten ihn für den Herzog von Angoulême selbst.

Eines Morgens waren die Unbekannten plötzlich verschwunden; für einige Bekannte hatte der Graf werthvolle Geschenke zurückgelassen. Gleich darauf kam die Nachricht, daß der Herzog von Enghien auf badischem Gebiet aufgegriffen und nach Paris abgeführt worden sei (März 1804). Man war in Ingelfingen allgemein der Meinung, daß der Graf, von diesem Vorfall zeitig benachrichtigt, sich einem ähnlichen Schicksale durch die Flucht habe entziehen wollen. Einige Monate später aber las man im Schwäbischen Mercur die Nachricht von dem Tode eines französischen Emigranten von Bedeutung, der sich einige Zeit in Ingelfingen aufgehalten habe.

Die Beschreibung des angeblich Verstorbenen paßte Zug für Zug auf den Grafen Vavel. Die Ingelfinger hielten jedoch ihren Unbekannten für todt, und er war fast vergessen, als im Jahre 1845 die öffentlichen Nachrichten über den Geheimnißvollen in Eishausen in den wenigen noch Lebenden die Erinnerung an ihn wieder weckten.

So weit die Mittheilung aus Ingelfingen.

Dr. Kühner findet nun die Vermuthung naheliegend, daß der Zeitungsartikel von dem Tode des Emigranten fingirt war und die Absicht hatte, die Spur des Unbekannten von der Erde zu verwischen. Außer allem Zweifel findet er es, daß dasselbe Geheimniß, welches den Augen der Ingelfinger entschwunden war, drei oder vier Jahre später von einem Grafen Vavel de Versay in Hildburghausen eingeführt wurde. Es ist dieselbe einsiedlerische Dame mit Schleier und grüner Brille, es ist derselbe seltsame Diener, der zugleich Kutscher war, und der Graf Vavel scheint nach Allem der aus dem Grabe erstandene Mann von Ingelfingen; die Beschreibung seiner äußeren Erscheinung und seiner Lebensweise, wie wir sie von Ingelfingen erhielten, spricht für die Identität der Person.

War der Geheimnißvolle von Ingelfingen wirklich gestorben, – so schließt Dr. Kühner diese Ingelfinger Episode seiner Mittheilung – so war es ein Mann, der die Rolle jenes Geheimnißvollen in demselben Augenblick aufnahm, als sie dem Sterbenden aus der Hand fiel, und sie bis zu seinem eigenen Tode fortspielte.

Diese Frage der Identität, die hier ziemlich müßig erscheinen mag, wird sich noch von hoher Bedeutung zeigen.

Der dichteste Schleier des Eishäuser Geheimnisses lag auf der Geldquelle. Nach der Angabe der Post betrug die jährliche Einnahme des Grafen etwa zwölftausend Gulden. Nach den Ermittelungen der Behörden (nach seinem Tode) soll sie nur siebentausend Gulden betragen haben. Jedenfalls standen ihm die Mittel nach seinem Bedürfniß zu Gebote, das nicht immer ein gleiches sein konnte. Wie sehr er selbst auf die Verheimlichung dieser Geldquelle bedacht war, dafür zeugt der wichtige Umstand, daß er die letzte ihm angemeldete Geldsendung, im Vorgefühl seines nahen Todes, zurückschrieb. Wäre nach seinem Tode noch eine solche Sendung angelangt, so würde sie in die Hände des Gerichts gekommen sein. Mit solch’ eiserner Consequenz bewahrte der Greis sein Geheimniß.

Und in die Hand eines solchen Mannes war das Schicksal eines hülflosen weiblichen Wesens gelegt. Als die „Gräfin“ (1810) nach Eishausen kam, schätzten die wenigen Menschen, die sie einmal im Freien an des Grafen Seite oder am Fenster des Schlosses sahen, sie auf ungefähr achtzehn Jahre. Indeß war eine Täuschung in dieser Beziehung leicht möglich, da die Gräfin nur von wenigen Personen und zwar nur aus ziemlicher Entfernung, oder im raschen Vorbeifahren im Wagen oder tief verschleiert gesehen worden ist.

Der sicherste Beweis gegen alle Hypothesen, welche eine geheime, wohl mit Entführung und schwereren Verbrechen verbundene Liebesgeschichte aus diesem Dunkel herauserklären wollten, ist der eine Umstand, daß der hochgebildete Graf es vermochte, das arme Weib in der tiefsten Unwissenheit neben sich geistig vegetiren zu lassen. Und wäre die Selbstsucht in dem Manne bis zum äußersten Grade ausgebildet gewesen, um des eigenen Genusses am geliebten Wesen willen würde er dafür gesorgt haben, der schönen Blume den höheren Reiz geistigen Duftes zu verleihen.

Nein! Die „Gräfin“ war eine Gefangene. Daraus erklärt sich ihre ganze Behandlung oder vielmehr Mißhandlung. Von sichtbaren Spuren dieser Gefangenschaft erzählt man sich dort noch heute. In dem Garten, hoch am Stadtberg bei Hildburghausen, in welchem das arme Weib begraben liegt, steht ein freundliches, großes Garten- oder kleines Wohnhaus. Der Graf hatte das Grundstück gekauft und verbrachte im Sommer bisweilen einige Tage dort. Der prächtige Blick in’s farbenreiche Thal mit den buschigen Werrakrümmungen, der freundlichen Stadt, den Dörfern und ihren Fluren und dem Thüringer Waldkranz am fernen Himmelsrand mochte der immer hinter hohe Gartenzäune oder die Vorhänge ihres einsamen Schloßfensters Verbannten wohlthun, und darum bat sie, auf dem Fleckchen Erde, wo sie einige Male glücklich war, begraben zu werden. In diesem Hause, wie auch in Eishausen, sollen die Riegel an der Schlafkammer der „Gräfin“ von außen angebracht gewesen sein. Auch der Zaun um den Garten in Eishausen – oder vielmehr das umzäunte Stück Wiese, weiter war es nichts – spricht dafür, denn um jede Annäherung an die acht Fuß hohe Breterwand von innen unmöglich zu machen, war dieselbe ringsum mehrere Fuß dick mit Dornenwerk aller Art verwahrt. Gegen jede Annäherung von außen wachte der Graf selbst, der das Fenster im Schloß nicht eher verließ, bis die Gefangene in das Haus zurückgeleitet worden war. Der Graf war für alle Fälle auch mit Schießwaffen versehen.

Und dieser Garten! Wer für ein geliebtes Wesen ein

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