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verschiedene: Die Gartenlaube (1866)

kein Belagerungsgeschütz, nur Bataillonskanonen (Dreipfünder) und zwei Batterien reitender Artillerie mit sich führte, in schmachvoller Capitulation ergeben. Man hat über Verrath geschrieen und dessen mehr als einen Namen beschuldigt, in Wahrheit aber war nur Feigheit und Dummheit, wie so oft, die Ursache der Schande, vorzüglich aber die Erbärmlichkeit aller Wehrverhältnisse nicht blos im Kurfürstenthum Mainz, sondern im ganzen deutschen Rheinland. Noch jetzt ist die am meisten bedrohte Grenze, wo eine starke, einheitliche Kriegsmacht am nöthigsten wäre, durch die Zersplitterung Deutschlands am wenigsten geschützt; alle Bundesfestungen werden das nicht ändern und „Germania auf der Wacht“ hat einen sehr gefährdeten Posten. Vom Rhein her bis in das Herz von Deutschland hinein ist die Kleinstaaterei, von Napoleon wohlweislich geschont und benutzt, nach seinem Sturze neu befestigt worden und die Franzosen wissen wohl, wo sie ihren Keil anzusetzen haben, um Deutschlands Eiche zu spalten. Vor der Auflösung des deutschen Reichs war es allerdings noch viel schlimmer, denn es gab mehrere Hundert reichsunmittelbarer Gebiete, von denen über zweihundert stimmberechtigt auf dem deutschen Reichstage waren; wir erwähnen nur, daß Deutschland 1792 neun Kurfürsten, dreiunddreißig geistliche und einundsechszig weltliche Reichsfürsten, fünfunddreißig stimmberechtigte Reichsprälaten (Aebte, Pröpste und Aebtissinnen), an einhundert reichsfreie Grafen und Herren, zweiundfünfzig freie Städte, eine zahlreiche unmittelbare Reichsritterschaft, in drei Ritterkreise getheilt, selbst freie Stifter, gauerbschaftliche (d. h. gemeinschaftlich besessene) Orte, ja Reichsdörfer und reichsunmittelbare Bauerhöfe besaß.

Nun denke man sich ein Bundesheer durch vereinbarte Reichsmatrikel auf die einzelnen Reichsstände vertheilt, und man wird sich einen Begriff von der Wehrhaftigkeit des deutschen Reichs machen, als Custine auf nichtige Beschuldigungen hin die Neutralität desselben durch frechen Einbruch verhöhnte! Auf diese Neutralität und noch mehr auf den Schutz der österreichischen und preußischen Armeen und ihrer Verbündeten bauend, hatte man aber auch am Rhein alle Wehranstalten versäumt. Der alte deutsche Wehrstand, der einst neben sich keinen andern geduldet und alle Kriege und Fehden geschlagen hatte, wir meinen den Adel – was war aus ihm unter dem Einflusse der Vielherrschaft, der Frivolität und Verweichlichung, besonders in den geistlichen Landen, geworden? Hat er am Rhein das Schwert gezogen für das Vaterland? Doch wir wollen ihn allein nicht anklagen, sondern die unheilvollen Zustände Deutschlands. So war es dem französischen General nicht schwer geworden, als die Heere Oesterreichs und Preußens den verhängnißvollen Rückzug aus der Champagne antraten, den ersten glücklichen Angriff auf Deutschland zu machen. „Mit einem raschen Handstreich,“ sagt einer unserer Meister historischer Darstellung, Häusser, „war die Revolution auf die wundeste Stelle des alten Reichs gefallen, warf die hülflose Ohnmacht geistlicher und weltlicher Kleinstaaterei ohne Mühe über den Haufen und feierte gerade an der Stelle ihre demokratischen Triumphe, wo drei Monate vorher sich die Fürsten und der Emigrantenadel zur Heerfahrt gegen die Revolution versammelt hatten.“

In Mainz! Noch hatte die Nachricht und mit ihr der Schrecken sich erst über die Nachbarschaft verbreiten können, und Frankfurt schien zunächst von einem Besuche der Franzosen bedroht.

Während im Sitzungssaale des Römers der Magistrat berieth, was bei einem solchen Besuche, dem man keinen Widerstand entgegensetzen könne, zu thun sei, um die Rechte der Stadt und die Wohlfahrt der Bürger zu wahren, ging es unten auf dem Platze ziemlich unruhig zu. Sympathien hatten die Franzosen hier nur sehr vereinzelt gewonnen, einen stärkern Gegensatz konnte man nicht finden, als Frankfurt und Mainz, und der Grund lag für jeden Einsichtigen sehr nahe. Unter dem geistlichen Regiment Erschlaffung der höhern Stände, Druck auf den Bürgern und Bauern lastend, daher keine Thatkraft gegen die Gefahr von außen und ein fruchtbarer Boden für die Verheißungen, welche von Frankreich herüber getragen wurden; in der freien Stadt dagegen, wo man „leidlich zufrieden“ mit seiner Verfassung war, ein Bürgersinn, welcher wohl eines nationalen Aufschwungs fähig war. Doch hörte man nicht die Prahlereien, welche vor Kurzem in Mainz und Koblenz Uebermuth und Siegeszuversicht ausgesprochen hatten, und wenn auch aufgeregte Worte genug, doch immer nur Aeußerungen entschlossener Nothwehr gegen ungerechte Gewalt. Am lautesten waren die Gesellen, die waren aber meist fremd eingewandert und hatten nichts zu verlieren, wie ein Schlossermeister dem handfesten Burschen, den er gestern erst in seine Werkstatt aufgenommen hatte, nachdrücklich vorhielt.

„Nun, Meister,“ antwortete der dreiste Gesell, „wenn Ihr Euch von den Franschen das Fell über die Ohren ziehen laßt, werdet Ihr bald auch nicht mehr zu verlieren haben, als Unsereins. Der Custinus hat nicht viel übrig, nach Frankfurt zu schicken, und wenn Ihr die Thore sperrt und ein paar Schuß thut, ziehen sie ab.“

Der Meister verwies ihm die aufwiegelnde Rede, welche mit Beifall von den Umstehenden aufgenommen wurde, und eine beruhigende Mittheilung, welche eben der Rath dem Volke laut verkünden ließ, kam ihm zu Hülfe. Frankfurt hatte sich jeder Feindseligkeit gegen die französische Nation gewissenhaft enthalten, folglich von ihr auch nichts zu befürchten, die Bürgerschaft wurde ermahnt, sich nicht durch grundlose Besorgnisse zu unbedachten Aeußerungen oder Schritten hinreißen zu lassen. Ein Theil des Volkes verlief sich darauf, doch kehrte die Ruhe im Laufe des Tages nicht zurück.

Am folgenden Morgen hörte man aber ein Laufen auf den Straßen. „Sie sind da!“ klang es ängstlich von unten herauf, wenn ein Fenster sich öffnete und nach der Ursache der Bewegung gefragt wurde. Alles strömte nach dem Bockenheimer Thor, auf den Wall. Da konnte man die ungebetenen Gäste bereits sehen. Reitertrupps streiften daher, in der Ferne blitzten im Schein der Morgensonne Bajonnete. Die Franzosen!

Am 21. October hatte Mainz capitulirt und gleich nach Abschluß der Capitulation Custine zwei Colonnen nach Frankfurt entsendet, Oberst Houchard mit fünfhundert Mann über Höchst, General Neuwinger mit eintausend fünfhundert Mann über Oppenheim. Mit Tagesanbruch sollten sie vor den Thoren der Stadt sein. Diese waren freilich versperrt und die Brücken aufgezogen, aber konnte ihnen der Einlaß ernstlich verweigert werden? Der Rath that dazu, was an ihm war. Noch hatte sich nur Houchard’s Colonne genähert, ein Parlamentär forderte die Erlaubniß, in Frankfurt nach versteckten französischen Emigranten zu suchen. Diese Erlaubniß wurde nach einigen Unterhandlungen gewährt – war man sich doch bewußt, den Emigranten keine Zuflucht, noch weniger Schutz gewährt zu haben!

Ein paar französische Officiere wurden denn eingelassen, sie mußten gut bedient gewesen sein, denn sie wandten sich gleich an die rechten Orte und fanden wirklich drei unglückliche Aristokraten ihrer Nation, welche sie gefangen mit sich fortführten. Unterdessen hatte draußen die Infanterie, lauter Nationalgarden, die Gewehre zusammengesetzt und sich zum Bivouak eingerichtet. Die Thore waren noch immer verschlossen, die Unterhandlungen auf dem Römer wurden weiter gepflogen. Viele Frankfurter, da Alles so friedlich verlief, wandelte die Lust an, sich die Nationalgarden, die ganz gemüthlich schienen, in der Nähe zu betrachten. Bald gingen ein paar starkbesetzte Kähne, die man nicht aus den Thoren lassen konnte, den Main hinab und brachten die Neugierigen unterhalb der Stadt an das Land, wo sie harmlos sich dem Lager nähern und sich unter die Franzosen mischen konnten, um sie zu fragen, was sie eigentlich in Frankfurt wollten. Das wußten diese selbst nicht, wenigstens die nicht, welche man fragen durfte.

Ihr Oberanführer, der Oberst Houchard, der mit einigen Officieren bei der Bockenheimer Warte auf und abging, hätte es den Wißbegierigen wohl sagen können, aber der sah so grimmig aus, daß man sich vor ihm fürchten mußte. Ein paar Hiebwunden, welche schlecht geheilt sein mußten, hatten sein Gesicht gräulich entstellt. Der eine Mundwinkel zog sich bis auf die halbe Backe hinauf, das andere Augenlid war tief hinabgeschlitzt. Vom Thor her kamen jetzt – es war Mittag geworden – einige beladene Wagen, welche mit lautem Geschrei begrüßt wurden: der Rath von Frankfurt schickte den Franzosen Lebensmittel und Holz. Jetzt wurde gekocht und gesotten, einige Frankfurter nahmen an dem „ländlichen Mahle“, wie sie es nannten, Theil und amüsirten sich prächtig, die Meisten aber kehrten in die Stadt zurück, wo die Ausfallspforte am Thor wenigstens für Fußgänger geöffnet war. Alles hatte die Ueberzeugung, daß die Franzosen morgen weiter marschiren würden. Gegen drei Uhr rückte aber General Neuwinger mit seiner stärkern Colonne gegen das Sachsenhäuser Thor und forderte sogleich Einlaß. Die Menschen, welche noch immer alle Straßen füllten, strömten jetzt in dieser Richtung ab.

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verschiedene: Die Gartenlaube (1866). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1866, Seite 339. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1866)_339.jpg&oldid=- (Version vom 12.12.2020)