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es ist genug.“ Die Jehuiten umringten ihn, wilde Proteste hervorschreiend. Da sagte er: „Nun wohl, ich gehe. Thut euer Werk!“ Gerade so hatte der Chef der Thermidorier, Tallien, als Secretair der „Commune“ vordem zu den Septembermördern gesprochen. Selbstverständlich blieben die Verüber der Gräuel im Fort Saint-Jean unbelästigt und unbestraft. Der Commandant Le Cesne hat bezeugt, daß seine Grenadiere, empört über das Gräßliche, was sie mit ansehen mußten, verschiedene der Schlächter ergriffen, daß aber Cadroy dieselben sofort eigenhändig befreite. Am Schlusse der Blutorgie wurden dann freilich vierzehn Jehuiten gefangen genommen, aber schon zwei Tage darauf wieder freigelassen. Das am 6. Juni aufgenommene Protokoll zählt achtundachtzig Ermordete mit Namen auf. Die Gesammtzahl derselben betrug aber nahezu zweihundert. Sehr viele der Leichname waren, weil halb oder ganz verkohlt, gar nicht wieder zu erkennen. Auch hier, wie anderwärts, war zwischen Männern und Frauen kein Unterschied gemacht worden. Etliche Tage nach der Mörderei sagte ein Jehuit zu einem der noch am Leben gebliebenen Gefangenen: „Ich habe ein Ohr deiner Frau in meiner Dose. Wenn du es sehen willst, werd’ ich es dir zeigen.“

Wenn der Blick von den massenhaften Schlächtereien entsetzt sich abwendet, begegnen ihm anderwärts zur Zeit des Wüthens der thermidorisch-royalistischen Reaction, wo alle modischen Damen Menschlichkeitshauben (bonnets à l’humanité) und Gerechtigkeitscorsete (corsets à la justice) trugen, mörderische Einzelfälle, die unsern Schauder in’s Unerträgliche steigern. Der weiße Schrecken liebte es nämlich, nicht selten mit einem wahrhaft satanischen Raffinement seine Opfer zu Tode zu quälen. Es kamen damals in den Gefängnissen Scenen vor, wie sie Ugolino in Dante’s Hölle erzählt. In Sisteron marterten die Jehuiten den Bürger Bryssand eine ganze Nacht hindurch, bevor sie ihn am Ufer der Durance in Stücke hieben. Zu Moingt ward einem achtzigjährigen Greise der Schädel mittels Kieselsteinen langsam zu Brei gerieben. Zu Saint-Etienne schlugen die Sonnenkinder eines ihrer Opfer an’s Kreuz. Den Bürger Brasseau begruben sie lebendig… Die Summe der vom weißen Schrecken Vernichteten genau oder auch nur annähernd genau anzugeben, ist keine Möglichkeit vorhanden. In der Provence allein belief sie sich hoch in die Tausende.

Also hat der „weiße Schrecken“ für Thron und Altar gearbeitet. Der Zweck heiligt eben die Mittel!




Die erste deutsche Verfassung und der letzte Märzminister.


Im vorigen Jahre waren es fünfzig Jahre, seitdem sie auf dem Congreß zu Wien den deutschen Bund erschufen. Man vergißt in Deutschland so leicht keine Jubelfeier, und doch hat seltsamer Weise kein Einziger daran gedacht, das Jubiläum dieses Bundes zu feiern. Keine Rede, keinen Kranz, keine Fahnen, nichts hat man gesehen und gehört. Auch nicht einmal die, so ihn erschufen, haben ihm ein Glas geweiht; wir meinen die Diplomaten, denn diesen gebührt allein die Ehre, dem deutschen Volke gebührt kein Theil daran. Da aber das Volk, als man es in der höchsten Noth gerufen, so treu gekommen war und mit seinem Herzblut die eingestürzten Throne wieder aufgerichtet hatte, so war man ihm doch einen Dank schuldig und wenn es auch nur ein diplomatischer war. So schuf man denn, nicht ohne vielen Widerspruch, den Artikel 13 der Bundesacte, worin es hieß: „In allen Bundesstaaten wird eine landständische Verfassung stattfinden.“ Es war große Freude im ganzen Lande um dieser Concession willen. Als man aber nach ein paar Jahren vergeblichen Harrens die Erfüllung dieses Versprechens laut und immer lauter begehrte, da erschien zu Potsdam eine Cabinetsordre, worin es hieß: „In dem Artikel 13 sei ja keine Zeit bestimmt worden, binnen welcher die Verfassung des Staates eingeführt werden sollte, man werde selbst den Zeitpunkt bestimmen, wann die Zusage in Erfüllung gehen werde.“ Da sah man ein, daß es nur ein Diplomatenversprechen war. Aber auch außerhalb Preußens zögerte man mit der Erfüllung. Baiern und Würtemberg, die Widersacher im Congreß, waren mit unter den Ersten, als sie 1818 und 1819, nicht ohne Kampf, ihren Landen Verfassungen gaben, Sachsen entschloß sich erst 1831, Hannover noch ein Jahr später. In Oesterreich aber war man nur froh, daß Metternich wenigstens noch die alten Postulatenlandtage ließ. Nur einer unter den deutschen Fürsten hielt freiwillig das in Wien gegebene Fürstenwort. Das war freilich keiner von denen, welche ihr Land blos von dem Balcon ihres Schlosses aus regierten. Das war vielmehr ein Fürst der jederzeit im Volke und zu seinem Volke stand. Ueberall wo die Noth an seine Landeskinder herantrat, fand man ihn selbst neben dem geringsten seiner Unterthanen, helfend und rathend, in seiner wohlbekannten kurzen Jagdpekesche den Herzog von Weimar, Carl August, der im ganzen Lande als der „alte Herr“ bekannt war.

Nachdem er schon während der Kriegsjahre den Gedanken gehabt hatte, seinem Lande eine Verfassung zu geben, berief er mit Patent vom 16. Februar 1816 ohne Zögern eine constituirende Versammlung, und so kam, indem sich Fürst und Volk die Hand reichten, am 5. Mai 1816 das Grundgesetz über die landständische Verfassung des Großherzogthums zu Stande. Und dies Kind der Liebe, das mithin im laufenden Wonnemonat seinen fünfzigjährigen Geburtstag feiert, in der Entwickelung der Zeit hat es zwar ein anderes Kleid angezogen, aber keine Gewaltthat, weder von unten noch von oben, hat es entweiht, es ist ein Kind der gegenseitigen Liebe zwischen Fürst und Volk immerdar geblieben. Kein bloßes todtes, vergilbtes Stück Papier, nein, etwas Lebendiges; kein gespenstig Nichts, ein geschaffenes und bleibendes Etwas; nicht gefürchtet und gehaßt, nein geehrt und geliebt; von keiner Parteiwuth zerstört, von keinem Richterspruch vernichtet.

Aber Carl August that noch mehr, als daß er seinem Lande blos eine Verfassung gab. Sein scharfsinniger, weit über seine Zeit hinauseilender Blick erkannte die Wahrheit, daß sein hochherziges Geschenk nur einem Volke nützen könne, welches durch den ungehemmten Austausch seiner Meinungen sich eine politische Bildung zu erwerben im Stande sei.

Und so gab er seinem Volke das bis dahin unerhörte Recht der freien Aeußerung seiner Gedanken. Er gab ihm Preßfreiheit. Er beanspruchte als einen Fortschritt „in der Zeit und mit der Zeit“ Oeffentlichkeit der Versammlungen der Volksvertreter. Auch die Idee einer allgemeinen Volksbewaffnung, „welche die stehenden Heere künftig entbehrlich mache und den Militäretat möglichst beschränke“, beschäftigte ihn lebhaft. Freiheit des Handels und Gewerbes und des Gemeindelebens wurde als zu erstrebendes Ziel anerkannt.

Carl August besaß indeß die Schwäche aller großen Geister. Er glaubte, daß die Factoren, mit denen er zu hantiren hatte, die Welt durch dasselbe weitsichtige Glas ansähen, wie er. Er täuschte sich. Ihre Sehwinkel waren viel enger. Zunächst waren es die Landstände selbst, welche die Oeffentlichkeit ablehnten, dann war es die eigne Beamtenwelt, welche es dem Fürsten immer noch nicht recht vergessen konnte, daß er, folgend dem genialen Zuge seiner Natur, den berühmten Dr. Goethe von Frankfurt ohne Weiteres zum Minister gestempelt hatte, ohne ihn erst die verschiedenen Stufen der Beamtenhierarchie durchlaufen zu lassen. Der schlimmste Feind erwartete ihn aber draußen. Wie Joseph den Zweiten die Pfaffen, so erdrückten Carl August – die Diplomaten. Mit steigendem Entsetzen sah man in den geheimen Cabineten zu Wien und Berlin diesem weimarischen Treiben zu. Da kamen denn die Metternich’schen Noten immer drohender ein in der Hofburg zu Weimar, ja der preußische Staatskanzler kam in eigner Person. Und als nun gar Carl August’s Gevattern, die allgemeine Burschenschaft in Jena, durch das Autodafé des Wartburgsfests und die Sand’sche Verirrung die demagogische Gespensterfurcht erweckten, da hielt man es nicht länger aus. Am Carlsbader Sprudel kam man zusammen und faßte jene ewig denkwürdigen fünf Beschlüsse, welche die wirklichen oder doch vermeintlichen Freiheitsgeister bannen sollten, vor allen die von Weimar und Jena. Carl August sah sich somit in den Zustand der Resignation versetzt. Seine Zeit verstand ihn nicht. Zum Glück ließen sie ihm wenigstens doch die Verfassung. Und nun warf sich sein hoher Geist zurück auf den Ausbau der inneren Verwaltung seines Ländchens. Da gab es auch vollauf zu thun: die Finanzen, das Steuersystem zu reguliren, den harten Druck der Kriegslasten zu mildern.

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verschiedene: Die Gartenlaube (1866). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1866, Seite 284. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1866)_284.jpg&oldid=- (Version vom 4.8.2020)