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verschiedene: Die Gartenlaube (1866)

No. 18.

1866.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. – Herausgeber Ernst Keil.

Wöchentlich bis 2 Bogen. Durch alle Buchhandlungen und Postämter vierteljährlich für 15 Ngr. zu beziehen.


Goldelse.
Von E. Marlitt.
(Fortsetzung.)


Rathlos schritt Elisabeth auf dem Plateau des Nonnenthurmes hin und her. Manchmal blieb sie an der Ecke stehen, in deren Richtung das Lindhofer Schloß liegen mußte – denn das war dem Nonnenthurme noch am nächsten – und erhob ihre Stimme zu erfolglosen Hülferufen. Endlich gab sie die Bemühung auf und setzte sich auf die Bank, welche, in die äußere Mauer des Treppenhauses eingefügt, von dem überstehenden Schieferdach desselben so ziemlich gegen Wind und Wetter geschützt wurde.

Sie fürchtete nicht, die Nacht hier oben zubringen zu müssen, denn es lag wohl auf der Hand, daß man sie im Walde suchen würde. Bis man sie aber in ihrer Haft entdeckte, welche Stunden qualvoller Ungewißheit und Befürchtungen mußten die Ihrigen durchleben!

Dieser Gedanke ängstigte sie unbeschreiblich und steigerte ihre nervöse Aufregung. Alle heute empfangenen Eindrücke waren ja so schrecklicher Art gewesen, und sie mußte Alles allein, ohne jedwede andere Stütze, als die ihrer eigenen moralischen Kraft, durchkämpfen… Noch zitterten ihre Kniee infolge des letzten Angstmomentes … Was mochte Bertha’s plötzlichen Wahnsinn zum Ausbruch gebracht haben? Sie hatte von einem Herzen gesprochen, das Elisabeth ihr geraubt habe; war wirklich, wie die Mutter in der letzten Zeit öfters die Vermuthung ausgesprochen hatte, Hollfeld in die dunkle Geschichte verwebt?

Bei dem Gedanken an ihn tauchten alle die schmerzlichen Empfindungen wieder auf, die ihr Inneres heute durchstürmt hatten. Jetzt aber, wo sie still und unbeweglich an die Mauer gedrückt da saß, dem dunkelnden Himmel näher gerückt, kein Zeichen des Lebens um sich fühlend als das Wehen der feuchten Nachtluft, die schmeichelnd über ihr heißes Gesicht strich, jetzt brach der finstere Trotz, mit welchem ihr zertretenes Herz sich zu waffnen gesucht hatte, und ihre Augen wurden feucht… Es war nun Alles, Alles vorüber; sie hatte heute mit den Bewohnern von Lindhof gebrochen für alle Zeiten! Helenen hatte sie ihr Ideal geraubt und Herrn von Walde, der gewähnt hatte, sie mit seiner in Gnaden gewährten Einwilligung zu beglücken, ihm hatte sie diese Gabe vor die Füße geworfen … sie hatte ohne Zweifel seinen Stolz tief verwundet. Wahrscheinlicherweise sah sie ihn nie wieder; er reiste fort und war froh, draußen den unangenehmen Eindruck los zu werden, welchen ihm das undankbare Benehmen der armen Clavierspielerin gemacht hatte.

Sie bedeckte das Gesicht mit beiden Händen und die Thränen drangen zwischen den schmalen, weißen Fingern hervor.

Inzwischen dämmerte die Nacht herein; es wurde jedoch nicht völlig dunkel. Die schmale Mondsichel stand am Himmel und die anderen leuchtenden Wanderer traten hervor und wandelten ihre Bahn, nicht ahnend, daß der mit ihnen im All kreisende Planet, die Erde, Millionen kleiner Welten in sich schließt, deren jede ihre Höhen und Tiefen, ihre brausenden Meereswogen mit Ebbe und Fluth, ihre gewaltigen Stürme, selten aber die heilige Stille des Friedens hat.

Im Thurme wurde es lebendig. Aengstliches Stöhnen und leise Klagelaute drangen heraus. Es polterte schwerfällig auf der Treppe, schlug klatschend gegen die inneren Wände und klopfte an die Thür: die Eulen und Fledermäuse wollten ihre Abendbesuche machen und suchten vergebens den gewohnten Ausweg. Auch drunten im Walde knisterte und rauschte es; das Wild brach aus dem Dickicht und schritt in vollkommener Sicherheit über die Lichtung. … Aus weiter Ferne, von Osten her, da, wo der Wald fast noch in unberührter Urwüchsigkeit und Wildheit in tiefe Thäler hinabstieg und an den jenseitigen Bergen ungebändigt wieder hinaufkletterte, klang bisweilen ein schwacher Knall herüber. Elisabeth schmiegte sich dann jedesmal leise erbebend fester an die Mauer, unter das schützende Vordach, als könne irgend ein unheimliches Augenpaar von dort herüber bis zu ihr dringen; die dort jagten, hatten gebrochen mit dem Gesetz.

Noch kam keine Hülfe. Ihre Sorge, daß sich die Eltern ängstigen könnten, war sonach ganz unbegründet gewesen. Auf alle Fälle vermutheten sie die Tochter noch im Schlosse, waren vielleicht sehr ungehalten über ihr Ausbleiben und warteten möglicherweise bis um zehn Uhr auf ihre Heimkehr. So konnte Mitternacht herankommen, bis man sie erlöste.

Es wurde empfindlich kühl. Fröstelnd zog sie die leichte Mantille über der Brust zusammen und schlang das Taschentuch um den Hals. Sie sah sich genöthigt, die Bank zu verlassen und auf der Plattform hin und her zu gehen, um sich vor Erkältung zu schützen. Oefters bog sie sich über das Geländer und sah hinab.

Ueber der Lichtung wogten und wallten weißliche Streifen, wirbelten zusammen und flatterten zerrissen wieder auseinander; es waren die Nebel, die dem feuchten Waldboden entstiegen… Elisabeth dachte nicht mehr, wie bisher, an die buntschimmernde Pracht, an die Anmaßung und Eitelkeit, die sich vor wenig Tagen da drunten gebläht hatten, nicht mehr an die vielen nichtigen Worte, die da gefallen sein mochten und die ein Geschwirr hervorgebracht hatten, als stehe der Nonnenthurm nicht auf altehrwürdigem, thüringischem Waldboden, sondern erhebe sich himmelstürmend an den

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verschiedene: Die Gartenlaube (1866). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1866, Seite 273. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1866)_273.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)