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verschiedene: Die Gartenlaube (1866)

Ja, er hat diese kindliche Reinheit und Frische des Herzens sich bewahrt bis zum letzten Athemzug. Er konnte zum Kind herniedersteigen und mit ihm sinnen und fühlen, so oft er wollte. Aber auch dämonische Gewalten barg seine Seele. „Mein Herz gleicht ganz dem Meere,“ hätte auch Rückert mit vollem Recht von sich sagen können. Man konnte sich an seinem Anblick erquicken, wenn er so mild und ruhig und still befriedigt war. Aber wenn der Sturm der Gefühle in ihm losbrach, dann konnte man erschrecken vor dem Brausen desselben und dem Wirbeln der riesenhaften Gewalten seiner Seele.

Und sein Aeußeres gab stets das treue Spiegelbild seines Innern. „Was hast Du nur wieder für ein neues Gesicht? Das habe ich noch nie gesehen!“ sprach in solchen erregten Augenblicken oft seine Tochter Marie zu ihm, die feinfühlendste Beobachterin aller seiner Seelenregungen. Wer ihn einmal in recht freudig gehobener Stimmung sah, der wird eingestehen, daß das Licht und der Glanz seines Auges die Züge seines Antlitzes wunderbar verschönen konnte. Am häufigsten geschah dies, wenn er von seinem Morgenland sprach, wenn er von seinen Arabern oder den von ihm noch mehr geliebten Persern erzählte, und wenn er sich gar in Goethe vertiefte, dann überkam ihm nicht selten in seiner Verehrung vor diesem Geist eine weiche, seine Umgebung tief rührende Stimmung. Seine Tochter Marie wagte es einmal, ihn nach einer solchen Scene zu fragen, warum gerade immer Goethe eine so außerordentliche Wirkung auf ihn mache. Er antwortete nur: „Glaub’ mir, Kind, ich weiß, was das heißen will, wenn Einer so etwas schafft.“ – Fräulein Marie erzählte mir auch, daß ihr Vater ihr den ersten Unterricht im Lesen gegeben habe, und zwar – im Goethe. Sie mußte von den lyrischen Gedichten viele auswendig lernen und alle Tage hersagen. So früh führte er sein liebes Töchterchen in den Liebling seines Geistes ein.

Die Grundfeste des Glücks, das dem Dichter nie untreu geworden, bildete die Eheglückseligkeit, das von keinem andern Schatten, als dem des gemeinsamen Leids über den Tod zweier Kinder getrübte Hausleben der beiden Liebesfrühlingsleute. Ja, Rückert war glücklich – in sich, für seine Lieben und seine Lieben in ihm; ein volleres und vollendeteres Menschendasein kann sich kein Gleichbegabter wünschen. Und freudig bekannte er dies als einen Trost auf seinem letzten Leidenslager. „Ja,“ sprach er oft, „ich habe viel Gutes hier gehabt, ich kann dankbar scheiden.“ – Und als in solch’ einem geweihten Augenblick die Tochter ihm zuflüsterte: „Nicht wahr, und Du bist auch mit dem zufrieden, was Du gelebt und gesungen“ – sagte er lächelnd: „Fang’ doch lieber am Anfang an: Ein Vollendetes hienieden wird nie dem Vollendungsdrang.“

Es war nicht blos die hohe Körpergestalt, es war die Hoheit seines Wesens, welche auch außerhalb des Hauses die Leute vom Dorfe wie auf der Landstraße, die jeden Bauer, jedes Kind mit Ehrfurcht vor ihm erfüllte; seine Untergebenen fühlten sich wie bezaubert an ihn gefesselt. Gegen diese wie gegen seine Orts- und Feldnachbarn war er nichts weniger als abgeschlossen; mit ihnen unterhielt er sich sehr gern, wußte nicht nur in ihren Ideengang leicht einzugehen, sondern ihnen nicht selten ganz praktischen Rath zu ertheilen. Er hielt stets auf gute Nachbarschaft. Aber auch die Armen kannten ihn, und vielleicht mancher Gauner nicht weniger; man sah, wie gern er gab, ja daß fast nur der Dank ihm die Freude daran hätte verleiden können, und diese Herzensgüte ward natürlich nicht selten von Unwürdigen mißbraucht. Niemals aber kam ihm deshalb der Gedanke an, es mit seinen Gaben anders zu halten, als seither, weil er lieber einige Unwürdige mit begaben, als einen einzigen Würdigen kränken wollte.

Seine Lust am Freudebereiten, sein Gefälligsein, wo er nützen oder ein Wohlgefühl wecken konnte, ist nicht weniger häufig erprobt worden. Und hier möchte ich wohl eine allgemeine Bitte aussprechen. Dieser edle Zug des Dichters hat nämlich gar manches Gedichtchen und gar manchen Brief ihm entlockt, die natürlich von ihm nicht für die Oeffentlichkeit bestimmt waren. Wie es nun wohl Niemandem, so lange der Dichter lebte, beigekommen wäre, solche Gaben seiner Freundlichkeit ohne seine Einwilligung dem Druck zu übergeben, so sollte man billig dieses Recht des Dichters nicht mit seinem Hinscheiden für erloschen erachten, sondern mit deren Veröffentlichung wenigstens warten, bis seine eigene nachgelassene Verfügung darüber bekannt ist. Wir dürfen nicht vergessen, daß wir nicht blos eine gerechte, sondern auch eine makelselige Kritik haben, welche sich nicht scheut, ohne Rücksicht auf den Ursprung solcher kleiner, poetischer Gaben sie nur zu benutzen, um in den Augen der Vielen, die den Dichter noch nicht kennen, ihn tief unter seine Höhe hinunterzudrücken. Einer derartigen Kritik sollte man das Material nicht vermehren, sondern gerade jetzt mit allem Eifer der Dankbarkeit all das Große und Herrliche verbreiten helfen, das er dem deutschen Volke selbst in die Hand gelegt.

Wir treten nun vor seine letzten Tage, und hier muß ich ein Unrecht begehen: ich muß von vertrauten Mittheilungen, die der naturnothwendige Erguß eines schmerzbeladenen Herzens sind, wenigstens Einiges herausheben, dem großen Todten zu Lieb’ und Ehren, und in dem Gefühl, seinen treuen Verehrern im deutschen Volke es schuldig zu sein, das menschlich-schöne Bild des Mannes und Dichters auch in seinen letzten Zügen treu wiederzugeben. Ich fühle es, für ein noch vom großen Schmerz blutendes Herz geschieht dieses Hinaustragen der Erinnerungen an die letzten Stunden – zu früh, aber eben weil die Zeit, die heilende, versöhnende, das jetzt Verletzende allmählich mildert und endlich verwischt, so begehe ich mein Unrecht mit der Zuversicht, daß es seine Verzeihung doch noch finden wird.

Die Lebensvertraute Rückert’s war in den letzten Jahren seine Tochter Marie. Das Verhältniß dieser Tochter zum Vater war ein wunderbar schönes, es war aus der Bluts- eine Seelen-Verwandtschaft erblüht, der Vater achtete seine Tochter, die nach der Mutter Tode alle Sorgen der Hausfrau auf sich genommen, so, daß er ihr fast gleiche Rechte im Hause mit sich einräumte: sein Kind war seine vertraute Freundin geworden. Und wohl selten war eine Tochter einer solchen Ehre würdiger, als sie. Es ist selbstverständlich, daß sie nicht von seinem Krankenlager wich, und daß nur sie es sein kann, welcher Rückert’s Verehrer und Freunde den erhebenden Blick auf des Dichters letztes Leben zu verdanken haben. Dazu müssen wir sie nun selbst reden lassen:

„Was in den letzten Tagen in des Vaters Seele vorging, die Scheidestimmung, hat er vor Jahren annähernd wahr in dem Gedichte hingestellt:

„Wie, wer zu Grab geht, oder wer auf Reisen,
Grüßt liebevoll noch einmal das Bekannte
Und Alles zärtlich nennt, was sein er nannte,
Bevor er tritt aus den gewohnten Kreisen;

So drängt mich’s noch, was irgend lebt, zu preisen
In diesem Kreis, in den ich selbst mich bannte,
Noch einmal auf den Saiten, die ich spannte,
Zum Abschied anzustimmen alte Weisen.

Denn aufzubrechen scheint es Zeit geworden
Von hier, wohin? ich frage nicht, ich höre
Gerufen mich von höheren Accorden.

Dem Rufe will ich folgen, ich gehöre
Dem Herrn der Harmonien, der Dichterorden
Hier einsetzt und dort aufstellt Engelchöre.“

„Auf seine Seele vermochte die Krankheit keinen Schatten zu senken. Noch bis zuletzt hat er im Hafis gelesen und noch Einiges übersetzt.

„Als er am Montag fortwährend im Halbschlafe lag, saß ich voll Angst und Qual neben ihm am Bett; da, als er die Augen einmal öffnete, blitzte er mich so schelmisch heiter an. ‚Du bist heute wie Dein Hafis,‘ sagte ich zu ihm (ich habe ihn in solchen Augenblicken oft geneckt, nur weil ich sonst geweint hätte), ‚Du bist immer so im Taumel und hast nicht mehr Wein getrunken, als der.‘ – ‚Ich weiß wohl,‘ erwiderte er ‚das sind aber gar schöne Träume, in denen ich bin. Ich war schon in einem Himmel.‘ – ‚In welchem denn?‘ – ‚Ach, ich glaub’, ich hab’ die Paradiesquellen rauschen hören,‘ sprach er mit tiefer, voller Stimme.“

„Mehrere Male gedachte er der Nadowessischen Todtenklage von Schiller, die er sehr liebte, und sprach mit besonderem Nachdruck die Verse:

„Wohl ihm, er ist hingegangen,
Wo kein Schnee mehr ist.“

Er erschien dabei in seiner Seele so recht befriedigt. Dies mag wohl nicht ohne Zusammenhang gewesen sein mit dem großen Einfluß, den besonders in der letzten Zeit die Witterung auf ihn ausübte, so daß an trüben Tagen Verstimmung und mit dem Sonnenschein Heiterkeit über ihn kam. Als ob sich Alles mit ihm versöhnen wollte, strahlte an seinem letzten Tage die Sonne noch

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