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verschiedene: Die Gartenlaube (1866)

freundlichsten Geister unserer Literatur, Moritz v. Thümmel’s, hohe Grabsäule emporragt.

Wir gehen auf der Coburger Chaussee, Rückert’s Garten zur Linken lassend, dem Dorfe zu. Eine breite Gasse, deren Häuser, ein ehemaliges Schlößchen, Gasthof, Pfarrhaus und Bauernwohnungen, sämmtlich das Gepräge von Wohlstand oder wenigstens Auskömmlichkeit tragen, läßt uns den Blick bis zur Kirche und ihrer hohen Gottesackermauer frei. Dort, auf einer Brücke, unter welcher das Lauterflüßchen hinfließt, sehen wir das Dorf in zwei Gassen sich theilen, deren rechte zu einer von den lebensfrohen Coburgern vielbesuchten Vergnügungs-Wirthschaft führt. Unser Weg führt uns vom Brückchen zur Linken, zwischen der Lauter und der Gottesackermauer hin vor das für Dorfverhältnisse stattliche Haus, das wir erst von der Chaussee aus über die grünen Wipfel der Gartenbäume emporragen sahen: Rückert’s Haus.

Treten wir durch die Thür, die einst so vielen Gästen offen gestanden, so finden wir gleich den heimischesten Raum ebener Erde zur Linken: die liebe wohnliche Familienstube mit der bürgerlichen Einfachheit, in der es Jedem wohl ward, der ein rechtes Bürgerherz mitbrachte. Aus dem Hausplatz gelangen wir, an der ehrenden Werkstätte jeder braven Hausfrau, der Küche, vorüber in den Garten, wo zunächst eine dichtbelaubte Veranda den Aufenthalt im Freien auch bei der strahlendsten Sonne möglich macht und dann das von Blumen umrankte und von duftendem Buschwerk beschattete Plätzchen winkt, wo so oft der Dichter im Kreise seiner Lieben, Freunde, Verehrer und Gäste des Augenblicks die Allen unvergeßlichen Stunden der Kaffeezeit zubrachte.

Die Verehrer aus der Ferne wie die Freunde aus der Nähe zieht gerade ihre Verehrung und Liebe heute vor Allem zu einem, dem stillsten, dem geweihtesten Raum des Hauses, der Allen, fast ohne Ausnahme, so lange der Dichter lebte, verschlossen war: seine Arbeitsstube. Die Pietät hat kein Blatt darin verrücken lassen, so heilig halten sie die Lieben: möge nie ein anderes Gefühl, als das der Ehrfurcht vor dem Genius, der hier Unsterbliches geschaffen, zu ihrer Schwelle leiten.

Man schreitet in einen solchen Raum wie in eine Kirche, mit dem Gefühl, daß ein Geist aus Gott hier gewaltet. Und wie einfach ist dieses kleine Eckzimmer mit seinen drei Fenstern! Rückert selbst hat nie darauf geachtet, was eigentlich in dem Zimmer an Möbeln stand. Derlei war ihm nur entweder nöthig oder unnöthig, im letzteren Falle war es eben für ihn gar nicht da. Wir sehen vor einem einfachen Sopha einen runden Tisch und auf diesem ein ganz einfaches porcellanernes Schreibzeug, in welchem Cigarrenasche den Platz des Streusandes einnimmt. Außerdem ist der Tisch so bedeckt mit Schriften und Büchern, daß der Dichter daran eben nur Raum genug hatte, um seine geraden, ruhigen Buchstaben langsam auf’s Papier zu bringen. Zu seinen Füßen neben Tisch und Sopha hatten große Lexika ihren Platz. Neben dem Stehpult, auf welchem orientalische Werke aufgeschlagen liegen, steht an der Wand ein Regal mit einem Gitterfach, in welchem die vielen, vielen Zettel und Zettelchen für seine sprachwissenschaftlichen Arbeiten eingeschichtet liegen.

Der Wandschmuck besteht nur aus Bildern von unschätzbarem Herzenswerth für den Dichter. Ueber dem Sopha sieht man das Bildniß seiner Gattin als Braut, im vollen Lebensschmuck des Liebesfrühlings, wo sie einst „hört’ in stiller Lust die Frühlingsströme rauschen in ihres Dichters Brust“ und wo sie selbst durch des Geliebten Dichtermund bekannte:

Kann man im Herzen tragen
Soviel zu einer Frist?
Ich will davor nicht zagen,
Weil Alles Ein’s nur ist.
Durch Liebe will ich zeigen
Der Welt, ich sei liebeigen,
Und jeder Blum’ es sagen,
Daß Du mein Gatte bist.

Ich will die Liebesspenden
(O zürne nicht der Braut!)
An alle Welt verschwenden,
Wie Lenz vom Himmel thaut.
Mir ist soviel geblieben:
Ich kann sie alle lieben,
Ohn’ etwas zu entwenden
Dir Einem süß und traut!

Neben diesem Bilde hängen die Portraits seiner Eltern. Wie alle wahren Dichter – darin herrscht eine wunderbare Uebereinstimmung des Herzenszugs – bewahrte Rückert seiner Mutter die kindlichste Liebe im Leben und das innigste Gedächtniß nach ihrem Tode. Oft und nie ohne tiefe Ergriffenheit äußerte er, und besonders in den letzten Zeiten: „Ich möchte wohl einmal meiner Mutter wieder begegnen!“

Von Carl Barth’s Hand gezeichnet schmückt dieselbe Wand ein Bild von Rückert als Jüngling, mit Schnurr- und Knebelbart und im schwarzen (altdeutschen) Sammetrock, und die Bildnisse von den beiden gestorbenen Kindern Rückerts, seinen „Kleingebliebenen“, an die sein Vaterherz viele noch unbekannte Gedichte gerichtet und deren er noch zuletzt mit Thränen gedacht hat. Bekannt ist nur das eine tiefe, ruhige Liedchen:

„Heranzualtern ist der Jugend Loos,
Und kleine Kinder wachsen mählich groß,
Dann machen sie sich von den Eltern los,
Und wiegen kannst Du sie nicht mehr im Schooß.

Doch ihr, die mir geraubt ein frühes Loos,
Bleibt immer klein, nie werdet ihr mir groß,
Ihr reißt euch nie von meinem Herzen los,
Und wiegen kann ich euch wie sonst im Schooß.“

Endlich finden wir noch die Bildnisse von Barth und dem alten Truchseß, dem „letzten Ritter des Frankenlandes“, von dessen Bettenburger Tafelrunde „Freimund Reimar“ zuerst als Dichter anerkannt und in die Oeffentlichkeit eingeführt wurde. Ueber diesen denkwürdigen Augenblick seines Lebens verweisen wir auf einen demnächst folgenden Artikel der Gartenlaube.[1] Mit welch’ treuer Liebe er an dem alten Freiherrn hing, ist am blühendsten und glühendsten ausgesprochen in dem „Rosenlied“, das er ihm von Stuttgart (wo Rückert damals das „Morgenblatt“ redigirte) zum Geburtstag auf die Bettenburg sandte.

Das ist Alles, was uns in des Dichters Arbeitsstube besonders in’s Auge fällt, so einfach und doch so reich an Herzenswerth ist sie. Hier saß Rückert noch bis in die letzte Zeit, noch im Januar dieses Jahres, von früh sieben Uhr bis Mittag zwölf Uhr an seinem Arbeitstische. Dann machte er einen halbstündigen Spaziergang im Garten. Nach dem Mittagstisch schlief er auf dem Sopha seines Studirzimmers bis gegen halb vier und arbeitete hierauf wieder bis zum Abend, wo er die Zeitungen las; später ließ er sich dieselben am liebsten von seiner Tochter Marie vorlesen.[2]

Früher dehnte er, als ein rüstiger Fußgänger, seine Lustwandelungen weiter aus, wozu ihm der prachtvolle Park und Wald des Sommerschlosses Kalenberg die lockendste Gelegenheit bot. Ausgangspunkt oder Endziel seiner Nachmittagswanderungen war dann sein Goldberg. Dieser Hügel im Thale nordwestlich von Neuseß reizte ganz besonders seine große Lust am Bauen und an der Herstellung von Gartenanlagen, und so baute er sich denn auf der Höhe des Hügels, der von Alters her den stolzen Namen „der Goldberg“ führt, ein kleines Sommerhaus in Schweizerstyl und mit einem Balcon, von dem aus wir auf ein reizendes Landschaftsbild blicken. Vor uns breitet das grüne Thal von Neuseß sich aus, das Dorf, von der Kirche mit dem spitzen Thurm überragt, dahinter in baumreicher Flur Coburg, dessen Hauptgebäude, Kirchen und Schlösser ihm ein stattliches Ansehen geben, umrahmt von gartenreichen Hügeln, die zu mehrern Bergen aufsteigen, deren höchster die Veste Coburg trägt und das Bild schön abschließt. Wenn Rückert die Flügelthüren des Zimmers, die zum Balcon führten, öffnete und sich mit seiner Lieblingslectüre auf dem Sopha niederließ, so stand, so oft er die Augen erhob, dieses Bild vor ihnen. Früher wurden Blumen um dieses Haus gepflegt, später ließ er hier der lieben Natur ihren freien Lauf und freute sich der üppig wuchernden Wildniß. Auf einer Seite ist das Häuschen von der wilden Clematis ganz umklammert. Diese dankbare Waldrebe, die ihm die hier weniger heimisch sich fühlende Weinrebe ersetzen mußte, und das Wintergrün pflegte er besonders gern.

In der Stille und Abgeschlossenheit des Goldberg gönnte er sich ein geistiges Ausruhen nach der ernsten Arbeit. Außer guten neuen Büchern las er dort besonders gern im Ossian, im Nathan dem Weisen, und Goethe’s Gedichte waren ihm immer dort zur Hand; diese konnte er gar nicht entbehren.

Auch die Wahl des Goldbergs und die Art seiner Pflege zeugt von seiner Liebe zur Natur. Das Großartige, Gewaltige einer Landschaft zog ihn weniger an, er fühlte sich desto inniger zum Kleinsten, Nächsten, Einfachsten hingezogen. Das belauschte er in seinem Wachsen und „freute sich jeder ersten Blüthenspende. Ueber die ersten Schneeglöckchen konnte er jubeln, als ob er noch das Kindesherz in der Brust trüge. Und war’s denn nicht so?

  1. „Der letzte Ritter des Frankenlandes und seine Tafelrunde“. Mit einer Abbildung der Bettenburg und dem Bildniß des „alten Truchseß“.
  2. Unser sprechend ähnlicher Holzschnitt ist genau nach der von Hohnbaum für die Gartenlaube entworfenen Originalskizze ausgeführt, die an einem Abend gezeichnet wurde, während Rückert unsere Zeitschrift las.
Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Die Gartenlaube (1866). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1866, Seite 263. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1866)_263.jpg&oldid=- (Version vom 4.8.2020)