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verschiedene: Die Gartenlaube (1866)

Wohlbehalten und sicher bewacht, kam die Aermste in Palma an, um hier den Händen ihres neuen Begleiters zur Weiterbeförderung nach Wien überliefert zu werden. Ueber den Act der Uebergabe sowie die denselben begleitenden Umstände erstattete Mayer seinem Herrn folgenden curiosen Bericht:

„Reichshochgeborner Graf,
Gnädiger und hochgebietender Herr!

Ew. Exellenz habe nach meiner schuldigkeit unterthänigst zu berichten sollen wegen meiner Reise, wie das den 16ten dieses zu Palma nova glücklich angelanget, auch selbten Tag gleich wiederum mit meinem betrübten Frauentzimmer zurück nacher Goritzia und bei dem schwarzen Adler alda einlogiret, alwo zu meiner größten Bestürtzung unter einem fingirten Namen und andern angegebenes Landes als St. Andrea der Lord schon in die 5 Tage alda logiret, mithin bei meiner Zurückekunft vom Palma mir ein Billet wie die Copia[1] hierbei lautet zugeschicket, daß ich ihme erlauben möchte mit ihr zu reden, alleine ich gabe kein Gehör, so bittet er Milord noch einmal, er wollte sich Hände und Füße binden lassen, und mir ein schönes Recompens geben, ich möchte ihm eine Viertelstunde erlauben mit ihr zu reden, es konnte abermals nicht geschehen, alsdann ist es auf das Todtschießen meiner und des Kutschers ausgebrochen, mithin habe die Pferdte ihme arretiren lassen, bis ich ihm bezwungen und den anderten Milord mir schriftlich mit Hand und Pettschaft zu geben, daß er mir sambt meiner Suite nichts in den Weg legen wollte, bis ich zu Wien. Der Anderte aber hat seinen Weg nachher Venedig nehmen müssen, und gehet der Mylord mir auf der Straße vor. Das Frauentzimmer und ihre Mutter sambt einem Domestiquen, welcher vermeinter Domestique aber des Mylords sein Cammerdiener war. Ich werde also übermorgen, wann kein Unglück begegnet, zu Gratz sein. Meine Täntzerin ist etzliche Tage vor Liebe und Chagrin krank gewesen. Nun habe ich zu besorgen und mich in Acht zu nehmen glücklich mit ihr durchzukommen. Ew. Exellenz haben wohl die Gnade und thun sich bei dem Gesandten Mylord Robinson befragen nach der Ankunft des Stuarts, denn er ist völlig Rabiat, womit mich zu Ew. Exellenz hohen Gnaden unterthänigst empfehle

Ew. Ex. unterthänig gehorsambster Knecht E. L. Mayer.

     Granitz d. 21ten April 44 in Steyermark a. Windisch Land.“

Zu Wien angelangt, wurde das „betrübte Frauentzimmer“ von ihrem Begleiter in dem Hotel der preußischen Gesandtschaft abgeliefert. Ihr junger Anbeter war bereits vor ihr dort gewesen, hatte den Grafen Dohna zum Vertrauten seiner Liebe und seines Leids gemacht und ihn um seinen Schutz und seine Hülfe angefleht.

(Fortsetzung folgt.)




Nachtelend in London.


Schutzlos in London! Hülflos in London! Obdachlos in London! Welche Geschichte von Weh’ und Leid umfassen solche Worte! In einer großen deutschen Stadt war ich Zeuge der allgemeinen Bestürzung, als es verlautete, eine Familie sei dem Hungertode erlegen. Auf Wochen hinaus warf das Ereigniß einen trüben Schatten auf jede Unterhaltung; es war ein allgemeines Entsetzen, eine allgemeine Beschämung. Aber wer zählt die Hungertode in der Millionenstadt London? Ist es auch wahr, daß das englische Volk alljährlich sechs Millionen Pfund Sterling als Armensteuer entrichtet, die Hungertode bleiben doch, sei es unter Dach und Fach, durch welches der Novembersturm sanft, sei es in dunklem Winkel unter dem Viaduct einer Eisenbahn, sei es auf den Stufen vor dem Portale eines Palastes, sei es in einer leeren Hundehütte hinter dem Hause, wo die Leute von Qualität wohnen, die etwas zu beißen und zu brechen haben und jede Wunde des Mangels mit einer neuen Note der Bank von England bepflastern können.

Wohin sich diese Tausende und aber Tausende von Obdachlosen verlieren, wenn die Nacht kommt, wohin sie alle verschwinden, wer kann es sagen? Auf freiem Felde schlafen, verbietet das Gesetz; auf der Straße den Pflasterstein zum Kopfkissen wählen, verbietet das Gesetz; in einer leeren Scheune sich betten, verbietet das Gesetz, – und ein starres englisches dazu. Wäre nicht die Polizei in London barmherziger als das Gesetz, das Elend zur Nacht wäre noch viel elender als es ist. Zwar fegt sie mitunter in schönen Julinächten durch die Parks und treibt die Müden und Schlummernden aus Busch und Rasenwinkel – aber nur mitunter! Sie drückt wochenlang beide Augen zu und wendet die Laterne ab, wenn sie auf den Trümmern niedergerissener Häuser im Nebel ein Etwas erspäht, das ein menschliches Wesen sein kann, doch vielleicht auch ein Haufen weggeworfener Lumpen.

Eine deutsche Familie hat wohl ihre Hausarmen – dergleichen wäre in England unerhört. Der Unternehmungsgeist hat die Wohlthätigkeit in ein System gebracht, mit einem guthonorirten Beamtenstabe und respectablem Büttelthum, wie es Charles Dickens in seinem David Copperfield mit meisterhafter Feder skizzirt. Die Wohlthätigkeit ist ein Mechanismus geworden. So und so viel wird an Armensteuern entrichtet – und sie sind enorm. So und so viel geben Privatleute und Firmen an Weihnachtsbeisteuern und was darüber wäre, das wäre „vom Uebel“. Nur keine persönliche Unbequemlichkeit, es sei denn sie werde zur erfreulichen Gelegenheit eines Zweckessens arrangirt. Armenhäuser sind hier nicht Wohlthätigkeitsanstalten, sondern Abschreckungsmittel. „Wir nächtigen wohl in einem Armenhause, aber nur dann, wenn wir auf der Straße kein Lager finden können.“ Dies ist eine Antwort, die man von neun Armen unter zehn erhalten kann. Bei aller Mißverwaltung und trotz der unerforschten Canäle, in welche sich die Millionen an regelmäßigen und ausnahmsweisen Armensteuern verkrümeln, haben die Millionen von goldenen Sovereigns doch dazu geführt, daß wenigstens Tropfen auf den heißen Stein fallen konnten, und die Liste der Wohlthätigkeitsanstalten für Jung und Alt ist eine so lange, daß sie sich nicht in einem Westentaschenbuch drucken ließe. Aber wie sehr auch deren Zahl wächst, die Zahl der Armen nimmt nie ab, sondern wächst auch. Sie nimmt ab nur in den officiellen Mittheilungen der Presse aus der Armenstatistik. Sie hämmert mit dem Thürklopfer zehn Mal des Tages an Eure Thür und bietet Euch dieselbe Büchse Zündhölzer zum neunundneunzigsten Male zum Kauf an, mit der sie schon vor achtundneunzig Thüren erschienen. Sie streckt Euch die Hand ohne Worte entgegen, wenn ein Policeman naht. Sie erscheint auf dem Trottoir gekauert, im Schlaf am Mittage, und läßt sich den Penny in die zufällig offene Hand werfen. Sie schreibt auf den Pflasterstein „mich hungert“ und wartet. Sie erscheint an den Ecken als Greis im reinlichen schwarzen Rock, baarhäuptig, mit dem Besen in der Hand. Sie schlägt Rad vor Euch mitten in Regentstreet oder entsetzt die fashionablen Ladies in halbnacktem Costüm, um solchen Ausdruck zu gebrauchen, mit dem originellen Angstruf: „Ich brauche ein Hemde, Ladies!“ und die silbernen Sixpence fliegen!

Doch das sind Bettler, geschulte und ungeschulte. Sie kündigen sich mit ihrer Person an – sie sind zu zählen. Aber diejenigen, die nicht betteln, sondern aus der Hand in den Mund leben, oder aus der leeren Hand in den leeren Mund schmachten, die nicht Gassenhauer singen und nicht an Eure Thüren hämmern – für welche ein Schilling eine Rettung vom Sprung in die Themse; oder solche, die genau so viele Pence des Tages erworben, um Seele und Leib zusammenzuhalten, aber für kein Nachtlager die kleinste Münze des vereinigten Königreiches auftreiben können – deren Zahl geht in die Hunderttausend. Für diese giebt es nur einen Genuß: den Schlaf, die Ruhe, das Vergessen zwischen heute Abend und morgen früh.

  1. Copia (in französischer Sprache). „Der Graf von Calenberg und Herr von St. André empfehlen sich der Mademoiselle Barberina und werden, wenn sie es ihnen gestattet, sich die Ehre geben, ihr vor ihrer Abreise im Morgenanzug ihre Aufwartung zu machen.“ „Goritzia, den 17. April 1744. Herr Stouardt de Machinzie verspricht hierdurch direct mit der Post nach Wien zu gehen und noch heut abzureisen ohne weder dem Fräulein Barbarina Campanini noch irgend Einem ihrer Begleiter etwas Uebles zuzufügen, welches Versprechen ich durch Unterschrift meines Namens und Hinzufügung meines Wappensiegels bekräftige.
    Stouardt de Machinzie.“
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verschiedene: Die Gartenlaube (1866). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1866, Seite 218. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1866)_218.jpg&oldid=- (Version vom 4.8.2020)