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verschiedene: Die Gartenlaube (1866)

der berühmte Arzt, der in der Residenz erwartet wurde, noch bis zum nächsten Morgen, um den Patienten zu beobachten. Da in dem Zustande keine wesentliche Veränderung eingetreten war, so reiste er ab, nachdem er noch einige Anordnungen getroffen und dem Hausarzte mit mir zusammen die fernere Behandlung übertragen hatte.

Einige Tage vergingen in Furcht und Erwartung. Das Wundfieber hatte sich eingestellt, aber im Ganzen einen milderen Verlauf genommen, als wir geglaubt. Als dasselbe geschwunden war, schlug der Kranke zum ersten Mal wieder die sonst immer halb geschlossenen Augen auf. Auch die Sprache war zurückgekehrt und mit ihr allmählich das lang vermißte Bewußtsein.

Wir durften Hoffnung schöpfen, wenn auch die Gefahr noch keineswegs beseitigt schien.

Unterdeß war der Termin für die nächste Schwurgerichtssitzung herangerückt. Noch immer schmachtete der angeklagte Brand in seinem Gefängnisse, obgleich seine Lage sich dadurch einigermaßen günstiger für ihn gestaltet hatte, daß sein Gegner noch am Leben war, wenn auch die Aussicht auf seine Erhaltung und Genesung noch immer bezweifelt werden mußte. Das Gericht hatte von diesem Umstande Notiz genommen und ein Gutachten von mir eingefordert, ob der Kranke zurechnungsfähig und überhaupt befähigt wäre, als Hauptzeuge gegen den Angeklagten vernommen zu werden.

Nach einer genauen Untersuchung und Berathung mit meinem Collegen mußte ich beide Fragen bejahen; in Folge dessen sich der Untersuchungsrichter in meiner Begleitung nach dem Schlosse der Generalin begab, da die Nähe eines ärztlichen Beistandes bei der noch vorhandenen Schwäche des Patienten dringend geboten war. In unserer Gegenwart bereitete die Generalin ihren Sohn vorsichtig auf den Zweck unserer Erscheinung vor. Anfänglich schien er nicht recht zu begreifen, wovon die Rede war, nach und nach aber weckten unsere Fragen sein nur schlummerndes Gedächtniß. Seine Erinnerungen wurden immer lebhafter, seine Antworten klarer und bestimmter. Wir selbst und vor Allen seine Mutter erwarteten mit der höchsten Spannung sein so wichtiges Zeugniß und die Bestätigung unserer Ansicht von der Schuld des Angeklagten.

„Was wollten Sie,“ fragte ihn der Richter nach einigen einleitenden Worten, „in jener Nacht auf dem Schlosse des Herrn Brand? Ich fordere Sie auf, die Wahrheit zu reden, da Sie Ihre Aussage später beschwören müssen.“

„Ich hatte die Absicht einen Besuch zu machen,“ erwiderte der Kranke nach einigem Zögern.

„Ein Besuch um Mitternacht? Wollen Sie nicht näher darauf eingehen?“

„Es handelt sich dabei um die Ehre, um den Ruf einer Frau. Erlassen Sie mir daher ein Geständniß, durch das eine dritte Person compromittirt werden kann.“

„Das Gericht kann Ihren Wunsch nicht erfüllen. Ich muß Sie vielmehr dringend um den Namen dieser Frau und um genaue Angabe ihres Verhältnisses zu derselben ersuchen.“

Einige Augenblicke schwieg der Officier, indem er sichtlich verlegen war und mit sich selbst kämpfte. Wir Alle glaubten im nächsten Augenblick den Namen der Frau Brand aus seinem Munde zu vernehmen, da auf ihr natürlich der meiste Verdacht ruhte.

„Sprich die Wahrheit,“ mahnte ihn die ebenfalls anwesende Generalin. „Du hast keinen Grund, diese Leute, welche meine Freundschaft so schlecht vergolten haben, zu schonen. Wer war die Frau?“

„Mariane!“ murmelte der Kranke in fast unverständlichem Tone.

„Mariane?“ wiederholte der Richter verwundert. „Die Wirthschafterin des Herrn Brand?“

„Dieselbe. Ich hatte mit ihr in jener Nacht ein Rendezvous im Park verabredet, da Herr Brand mir in Folge eines Streites sein Haus verboten hatte.“

„Und hat Sie Herr Brand in seinem Park angetroffen und zur Rede gestellt in jener Nacht?“

„Das war nicht Herr Brand,“ entgegnete der Officier mit der größten Bestimmtheit.

„Erinnern Sie sich,“ bemerkte der Richter, „und bedenken Sie, daß von Ihrer Aussagte die Verurtheilung oder die Freisprechung des Angeklagten abhängt.“

„O, ich weiß, was ich sage, und bin ganz sicher, daß es nicht Herr Brand, sondern ein Anderer war, mit dem ich rang.“

„Ein Anderer? Wer sollte es denn gewesen sein, wenn es Herr Brand nicht war?“

„Der fortgejagte Amtmann. Der Bursche war in Mariane verliebt und lauerte mir auf. Ich hatte ihn noch dazu einige Tage vorher beleidigt und gereizt. Wüthend vor Eifersucht vertrat er mir den Weg, und da ich den Rasenden von mir abhalten wollte, feuerte er sein Terzerol auf mich ab. Ich fühlte nur noch, wie ich zusammensank und mich mein Bewußtsein verließ.“

Der Eindruck dieser Worte, welche durchaus den Stempel der Wahrheit trugen, läßt sich nicht beschreiben. Da der Richter und wir Alle noch immer zweifelten, erbot sich der Kranke jetzt von freien Stücken seine Aussage zu beschwören. Auch erzählte er unaufgefordert die genaueren Umstände, welche sich in jener Nacht ereignet hatten, mit einer wahrhaft staunenswerthen Sicherheit und Kenntniß der Einzelheiten. Mir schienen seine Auslassungen von höchstem psychologischen und physiologischen Interesse, abgesehen von der Wichtigkeit, die sie für den unschuldig Angeklagten hatten. Der Kranke kam mir wie ein Mensch vor, der aus einem tiefen, wochenlangen Schlaf erwacht und die durch den Schlummer unterbrochene Gedankenreihe wieder aufnimmt, als hätte er nur wie gewöhnlich wenige Stunden geschlafen und keine nennenswerthe Störung der Geistesthätigkeit erlitten. Ja, ich glaubte zu bemerken, daß sein Gedächtniß, nachdem es einmal wieder geweckt war, eher an Kraft gewonnen als verloren hatte, wenigstens so weit seine Erinnerungen die Vorgänge jener Nacht betrafen. Gerade die letzten Eindrücke traten nach dieser unfreiwilligen Ruhe des Gehirns um so schärfer hervor, wie wir die am Abend halb gelernte Lection am Morgen weit besser wissen und ohne Anstoß hersagen, nachdem der Geist mehrere Stunden sich ausgeruht hat.

Doch ich will nicht diese seltene pathologische Erscheinung erklären, ebensowenig wie ich die Freude der Frau Brand schildern kann, als ich ihr die Aussage des Officiers mittheilte. Als ich ihr leuchtendes Antlitz, ihre frommen, zum Himmel gerichteten Augen und ihre gefalteten Hände sah, wußte ich, daß sie ihren Mann liebte und daß dieser trotz seiner abstoßenden Häßlichkeit ihre Liebe verdiente. Daß der Gefangene aus seiner Haft entlassen und von dem Gerichte von der Anklage entbunden wurde, bedarf kaum noch der Erwähnung. Die ganze Umgegend bat ihm gleichsam ihr Vorurtheil ab und ließ es nicht an Beweisen der innigsten Theilnahme und Achtung fehlen. Auch die Generalin stattete ihm einen Besuch ab und gab ihm die ihm gebührende Ehrenerklärung, so schmerzlich sie auch der Vorgang berührte, da der Kranke sich nicht wieder erholte und trotz der glücklichen Operation nach wenigen Monaten an allgemeiner Schwäche und Abzehrung starb. Der eigentliche Thäter aber war glücklich nach Amerika entkommen, von wo er einen reuevollen Brief an Herrn Brand und an Mariane schrieb, welche schwer für ihren Leichtsinn büßen mußte.

Max Ring.     




Die Waldbuße.
Von Rudolf Gottschall.


Da steht des Dorfes armes Kind
Und sinnt dem Frevel nach:
„O, schuldig ist allein der Wind,
Der rings die Zweige brach!

5
Euch eigen ist das Waldrevier,

So weit das Auge schweift,
Mit seiner vollen Kronen Zier,
Die nach den Wolken greift;

Der junge Birkenbusch im Thal,

10
Die Stämmchen weiß und schlank,

Noch schimmernd wie der Mondenstrahl,
Wenn schon der Mond versank;

Der hundertjähr’gen Eiche Zelt,
Weit greifendes Geäst,

15
Die Wiege tausendstimm’ger Welt,

Die hier sich schaukeln läßt;

Doch unser nur der Blumenduft,
Die Veilchen nur im Moos,
Der Vögel Sang, der fröhlich ruft

20
Aus dichter Büsche Schooß.


Ich nahm nur, was der Lüfte Hauch
Den Bettlern hingestreut,
Almosen nur von Baum und Strauch,
Die Ueberfluß mir beut.


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verschiedene: Die Gartenlaube (1866). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1866, Seite 212. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1866)_212.jpg&oldid=- (Version vom 29.12.2019)