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verschiedene: Die Gartenlaube (1866)

„Nun, der Walde hat wenigstens im geeigneten Moment seine aufgedrungene Dulcinea abzuschütteln gewußt, ich sehe die Kleine nicht mehr,“ flüsterte lächelnd die Oberhofmeisterin dem Grafen Wildenau zu, der neben ihr auf einem erhöhten Sitze unter den Eichen saß. „Der vergiebt es der Lessen und unserer vorwitzigen Hofdame nie und nimmer, daß er durch ihr einfältiges Arrangement gezwungen worden ist, dem kleinen Ding gegenüber einen Augenblick die Rolle des Ritters spielen zu müssen … Kindchen,“ wandte sie sich an Helene, die, zu ihrer Rechten sitzend, ihr getrübtes Auge suchend über den Menschenschwarm gleiten ließ, „wir müssen ihn nachher, wenn die dort drüben ihn freilassen, in unsere Mitte nehmen und Alles aufbieten, damit er den unerquicklichen Anfang des Festes vergißt.“

Helene nickte mechanisch mit dem Kopfe. Sie hatte offenbar nur die Hälfte von dem verstanden, was die alte Dame ihr zugeflüstert. Ihre kleine, verkrüppelte Gestalt, die ein schwerer, zartblauer Seidenstoff umhüllte, drückte sich hülflos und matt an die hohe Stuhllene, und ihre Wangen waren weißer, als der Seerosenkranz, der über ihrer Stirn lag.

Elisabeth hatte sich unterdeß im Gedränge wieder mit Doctor Fels und dessen Frau zusammengefunden. Letztere nahm das junge Mädchen sogleich bei der Hand, damit sie nicht wieder getrennt würden.

„Bleiben Sie noch so lange, bis man anfängt zu tanzen,“ meinte sie auf Elisabeth’s Aeußerung hin, daß vielleicht jetzt der passende Augenblick gekommen sei, wo sie sich unbemerkt entfernen und nach Hause gehen könne. „Ich verdenke es Ihnen gar nicht, wenn Sie die Gesellschaft sobald wie möglich zu verlassen wünschen,“ fügte sie lächelnd hinzu; „auch wir werden nicht lange bleiben, mir läßt die Sorge um meine Kleinen daheim keine Ruhe, und daß ich überhaupt hier bin, ist ein schweres Opfer, welches ich der Stellung meines Mannes bringe … Herr von Walde, dem Sie nun einmal heute durch das Loos angehören, tanzt nicht, er wird Sie gewiß frei geben, wenn der Tanz beginnt, denke ich.“

Der Menschenknäuel entwirrte sich plötzlich. Von der Zinne des Thurmes rauschte ein imposanter Marsch hernieder, und während die Herren schattige Plätze suchten, eilten die Damen nach den Büffets, um den Statuten des Festes gemäß das Beste für die Herren der Schöpfung herbeizutragen.

Herr von Walde schritt langsam über den Platz, er hatte die Hände auf den Rücken gelegt und sprach mit dem Kreisgerichtsdirector Busch, der an seiner Seite ging.

„Mein bester Herr von Walde, nun kommen Sie zu uns!“ rief die Oberhofmeisterin zu ihm hinüber und streckte ihm in beinahe zärtlicher Weise die Hände entgegen. „Ich habe Ihnen ein reizendes Plätzchen reservirt .… Ruhen Sie hier aus auf den wohlverdienten Lorbeeren, die man Ihnen heute streut … Zwar sind sämmtliche junge Damen bereits durch das Loos gefesselt, aber hier unsere schönen, liebenswürdigen Waldnymphen sind bereit, Ihnen den Wein zu credenzen und von den Büffets herbeizutragen, was Ihr Herz begehrt.“

„Ihre Güte und Fürsorge rührt mich, Excellenz,“ entgegnete der Angeredete, „aber ich will nicht hoffen, daß Fräulein Ferber mich dem allgemeinen Mitleiden überlassen wird.“

Er sprach mit lauter Stimme und wandte sich um nach Elisabeth, die nicht sehr entfernt von ihm stand. Sie hatte jedes Wort gehört. Sofort schritt sie hinüber und stellte sich so ruhig und fest an seine Seite, als sei sie durchaus nicht gewillt, auch nur ein Haarbreit von ihrer Verpflichtung an Andere abzutreten. Es flog in diesem Augenblick etwas, wie ein freudiges Erschrecken, über sein Gesicht. Sein Auge begegnete aufleuchtend dem ihren, das, unbeirrt durch die Umgebung, lächelnd zu ihm aufsah. Er schien unerhörter Weise ganz und gar zu vergessen, daß die Frau Oberhofmeisterin ein „reizendes Plätzchen“ für ihn reservirt hatte, denn nach einer leichten Verbeugung gegen die Excellenz und die sie umringenden, willfährigen jungen Damen reichte er Elisabeth den Arm und führte sie über den Platz nach einer dickstämmigen Eiche, unter deren Schatten Doctor Fels soeben für sich und seine Frau einen Sitz zurecht machte.

„Nein, diese Sache geht denn doch ein wenig zu weit!“ wandte sich die Oberhofmeisterin entrüstet an den Grafen Wildenau und die sehr verblüfft dastehenden fünf Waldgrazien. „Er sucht das ganze Fest zu persifliren, indem er die Anwesenheit der kleinen Person in so auffallender Weise markirt… Jetzt fange ich an, mich über ihn zu ärgern… Niemand sieht es ja besser ein, als ich, daß er vollkommen Recht hat, wenn er zürnt; aber ich meine auch, er dürfte sich nicht so weit hinreißen lassen, die Rücksicht für die übrigen Anwesenden zu vergessen, die ja völlig schuldlos sind an dem geistlosen Machwerk der Lessen und der Quittelsdorf… Ich wette, schließlich bildet sich das Gänschen dort auch noch ein, das geschehe Alles nur um ihrer schönen Augen willen.“

Alle zehn Augen der schönen, liebenswürdigen Dryaden schleuderten a tempo einen vernichtenden Blick auf Elisabeth, die in diesem Augenblick unbefangen nach dem Marketenderzelt ging und bald darauf mit einer Flasche Champagner und vier Gläsern nach der Eiche zurückkehrte, wo sich Herr von Walde und das doctorliche Ehepaar bereits einträchtig hinter einem Tisch niedergelassen hatten.

„Unsere sämmtlichen Damen haben heute wahre Blumengärten auf dem Scheitel,“ sagte Frau Fels, als das junge Mädchen an den Tisch trat, „nur Fräulein Ferber geht schmucklos wie Aschenbrödel; das leide ich nicht.“

Sie zog aus dem großen Bouquet, das sie in der Hand hielt, zwei Rosen und stand auf, um Elisabeth mit denselben zu schmücken.

„Halt!“ rief Herr von Walde und hielt ihre Hand zurück. „In diesem Haar mag ich nur die Orangenblüthe sehen.

„Die ziemt eigentlich nur den Bräuten,“ meinte die Doctorin unbefangen.

„Ja, eben deshalb,“ entgegnete er, und so ruhig, als habe er etwas gesagt, das sich ganz von selbst verstehe, füllte er die Gläser und wandte sich an Fels.

„Stoßen Sie mit mir an, Doctor,“ sagte er. „Ich trinke auf das Wohl meiner Retterin, der Goldelse auf Gnadeck!“

Der Doctor schmunzelte und stieß kräftig an. Auf dies Signal näherte sich eine Schaar Herren mit den Gläsern in der Hand.

„Schön, meine Herren, daß Sie kommen!“ rief ihnen der Schloßherr entgegen, „trinken Sie mit mir auf die Erfüllung meines höchsten Wunsches!“

Ein Hoch schallte durch die Lüfte, und die Gläser klangen lustig an einander.

„Scandalös!“ rief die alte Excellenz und ließ die Gabel mit einem saftigen Stück marinirten Aales auf den Teller fallen. „Dort drüben geht es ja wahrhaftig zu wie in einer Studentenkneipe… Ich bin ganz consternirt! Welch unanständiger Lärm! Da schreit ja wirklich der Pöbel auf den Straßen manierlicher, wenn er unseren Durchlauchten ein Hoch zu bringen sich erlaubt. … Apropos, meine Liebe,“ wandte sie sich an Helene, „ich bemerke mit großem Erstaunen, daß Ihr Herr Bruder ziemlich familiär mit dem Doctor Fels verkehrt.“

„Er schätzt ihn hoch als einen durchaus rechtlichen Mann mit bedeutendem Wissen,“ erwiderte Helene.

„Das ist Alles recht schön und gut, aber er weiß sicher nicht, daß dieser Mensch gegenwärtig sehr übel angeschrieben ist an unserem Hofe. Denken Sie sich, er hat die unbegreifliche Kühnheit gehabt, unserer allgeliebten Prinzessin Katharine –“

„Ja, ich kenne diese Geschichte,“ unterbrach Fräulein von Walde die Entrüstete, „mein Bruder hat sie mir vor einigen Tagen selbst mitgetheilt.“

„Wie, er weiß das und berücksichtigt so wenig die Stimmung des Hofes, der ihn stets ausgezeichnet hat? … Unglaublich! … Ich versichere Ihnen, liebes Kind, mir schlägt schon jetzt das Gewissen, und ich werde bei Ankunft unserer Herrschaften sicher die Augen nicht aufschlagen können, in dem schuldigen Bewußtsein, daß ich mit diesem unmanierlichen Menschen hier zusammengekommen bin.“

Helene zuckte mit den Achseln und überließ die Oberhofmeisterin ihren Gewissensbissen und einem frisch gefüllten Glas Champagner, mit welchem sie sich ohne Zweifel jetzt schon für jenen großen, gefürchteten Ankunftsmoment Muth und Fassung einzuflößen suchte.

Fräulein von Walde litt neben der Dame alle jene Qualen, die uns so manchmal die Convenienz auferlegt; sie mußte mit zuvorkommender Aufmerksamkeit auf tausend Nichtigkeiten hören und antworten, während ein heißer Schmerz ihr Inneres zerriß.

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