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ein Ende machte; das Pferd konnte sie schlechterdings nicht passiren. Großer Rath!

„Herr, jetzt lassen wir die Geschichte gehen, wie’s geht!“ sagte Conrad, „ehe es ein Menschenleben kostet – lieber den Gaul! Geben Sie her, ich führe das Thier, gehen Sie allein, und stürzt’s, nun, dann ist’s fertig!“ Wahl blieb mir nicht übrig, also vivat sequens! Ich kam mit Hülfe meines Bergstocks gut hinüber, aber Conrad, beim ersten Schritt, den er auf der schlüpfrigen Platte thun wollte, glitt aus und vermochte sich nur durch einen im Felsen eingeklemmten Wurzelstrunk noch zu halten.

„Hier ist’s unmöglich, wir müssen wieder ein Stück zurück!“ und dem Pferde schmeichelnd, zu dem die alte Liebe des treuen Knechtes erwacht war, stieg er mit ihm wieder bergan. Endlich glaubte er eine bessere Passage entdeckt zu haben. Ich war schon tief drunten. Mit einem Mal hageln an mir Steine vorüber, ich höre schreien, wende mich und sehe, nicht weit von mir, die ganze Cavalcade im Rutschen und gleich darauf in der Gruppirung festsitzen, wie Freund Rittmeyer auf unserem Bilde sie dargestellt hat. Conrad konnte kaum schreien, so lastete das Gewicht des Pferdes auf ihm, während der Italiener unablässig versuchte, das Thier am Schweif zurückzuziehen. Die Kniee versagten mir den Dienst, vom Lachen überwältigt, sank ich auf’s Geröll. Aber es war kein Spaß, stöhnend ächzte der Zusammengepreßte um Hülfe, er müsse ersticken. Ich raffte mich auf, riß das Pferd an der Kinnkette empor, so daß Conrad Luft bekam und sich zur Seite wenden konnte, und gab ihm einen Hieb mit dem Bergstock. Der Italiener ließ los und kopfüber, kopfunter rollte das Thier hinab.

Wer aber beschreibt unser Erstaunen, als wir nach einigen Secunden tief unter uns das Pferd laut wiehernd aufrecht stehend sehen, zwar zitternd über und über, aber den Regen und Sand rüstig abschüttelnd? Flugs wir hinab! Nun war die Partie gewonnen, die schlechteste Passage überwunden. Das Thier blutete an mehreren Stellen und wir sahen wie die Banditen aus, über und über voll Schmutz, die zerrissenen Lappen an allen Seiten herabhängend.

Es schlug Mitternacht, als wir vor dem Albergo Bülferi-Batistasse zu Ponte di Legno todtmüde ankamen. Alles finster, kein menschliches Wesen. Wir klopfen, rufen, skandaliren; endlich öffnet sich ein Fenster und mürrisch erklärt uns der Wirth, er habe kein Lager für uns. Neuer Spectakel. Dieser weckt die Carabinieri, die nahebei ihr Wachtlokal haben (die österreichische Grenze auf dem Monte Tonale ist zwei Stunden von hier), sie kommen mit Laternen, sehen unsern verdächtigen An- und Aufputz und wir sollen als Landstreicher arretirt werden oder, wie wir später erfuhren, als vermeintliche Complicen einer Bande, die den Postwagen draußen bei Colico beraubt und ihr Fra Diavolo-Geschäft sehr frech und offen getrieben hatten. Ich berief mich auf meinen von der Züricherischen Regierung ausgestellten Reisepaß und andere Legitimationen. Anfangs kein Gehör, nichts! wir mußten Banditen sein. Endlich kam der Sergeant doch zu der Besinnung, meine Papiere einmal anzusehen. Er donnerte an die Thür des Wirthshauses und befahl zu öffnen. Hinauf in die Wirthsstube. Aus meiner Brieftasche nahm ich den durchweichten Paß, die Alizarintinte (oder welcher Qualität sie sonst war) hatte sich aufgelöst und das Blatt war unleserlicher, als ein schlecht auf der Copirpresse abgezogener Brief geworden. Zudem deutsch, das verstanden die Italianissimi nicht. Der Zweifel über unsere Unbescholtenheit wuchs. Da fällt mir ein, daß ich ein offenes Empfehlungsschreiben an Seine Excellenz den Marchese Pap[s], Präfecten der Provinz Sondrio, in meiner Tasche habe. Das flößt etwas mehr Respect ein, und scharf fixirend, sinnenden Blicks, ruht das Auge des Ober-Carabiniere auf mir. Ich las in demselben den Schluß: „Entweder ist das ein Hauptspitzbube, oder ein respectabler Mann, und dann haben wir uns blamirt!“ Da fällt mir unser freundlicher Officier von heute Mittag ein, ich suche nach seiner Karte und siehe da, diese endlich erlöst uns von dem Verdacht der Banditerei, macht die Carabinieri zu den höflichsten Menschen von der Welt, dictirt dem Wirth, uns zu erklären, daß plötzlich noch drei Betten frei seien, und verhilft uns schließlich zu einem frugalen, aber köstlich mundenden Imbiß mit diversen Fläschchen feurigen Piemonteser Weines, von dem die Polizeimannschaft uns einmal Bescheid thut, dann aber unter den verbindlichsten Entschuldigungen mir „felicissima notte“ wünscht.




Die socialen Folgen der Arbeitstheilung.
Vortrag gehalten im Saale des großen Handwerkervereins zu Berlin von Schulze-Delitzsch.


Unter den natürlichen Factoren, welche die Gestaltung der gesellschaftlichen Verhältnisse beherrschen, nimmt die Arbeitstheilung eine der wichtigsten Stellen ein. Darin, in welcher Weise und mit welchen Folgen für das individuelle Gedeihen, wie für die gesellschaftliche Gruppirung der Einzelnen sie vor sich geht, liegt das Hauptstück der socialen Frage.

I. Die Wirkungen der Arbeitstheilung auf wirthschaftlichem Gebiet.

Ueber die wirthschaftliche Seite der Sache hier nur einige flüchtige Notizen, um mit den weiteren Folgerungen daran anzuknüpfen.

Die Arbeitstheilung, die Vertheilung der vielfachen, zur Befriedigung menschlicher Bedürfnisse erforderlichen Thätigkeiten unter verschiedene Menschengruppen, als mehr oder weniger ausschließliche Beschäftigungszweige, wurzelt unmittelbar im Wesen des Menschen. In erster Reihe kommt hierbei das Maß und die höchst ungleiche Vertheilung der Kräfte, Anlagen und Neigungen unter den Menschen in Betracht. Vermöge derselben ist jeder Einzelne nur zu dieser oder jener, Keiner aber zu allen den vielfachen Arbeitsverrichtungen befähigt, welche erforderlich sind, um uns mit unsern sämmtlichen Bedürfnissen zu versorgen. Anstatt daher einen Jeden mit diesen Thätigkeiten insgesammt zu befassen, was für den Einzelnen geradezu unmöglich würde, finden wir sie unter verschiedene Arbeiterbranchen vertheilt, und so mittelst des gegenseitigen Austausches der verschiedenen Erzeugnisse, Allen die Möglichkeit gegeben, zur Befriedigung ihres Gesammtbedarfs zu gelangen.

Bei dieser Scheidung der verschiedenen Arbeiterbranchen, deren jede eine bestimmte Classe von Producten herstellt, bleibt es übrigens nicht. Vielmehr dringt die Arbeitstheilung, jemehr die Industrie fortschreitet, desto mehr in jede dieser Branchen selbst ein, mit der Folge, daß die zur Herstellung eines bestimmten Verbrauchsartikels aus den Rohstoffen erforderlichen Arbeitsoperationen, welche sonst von einem und demselben Arbeiter verrichtet wurden, unter mehrere vertheilt werden, die sich dabei gegenseitig in die Hände arbeiten.

Die Wirkungen der Arbeitstheilung für die Erleichterung, Vervollkommnung und Ergiebigkeit der Arbeit sind unübersehbar, und wir erinnern hier nur ganz flüchtig an das Hauptsächlichste.

Zunächst steigert sie in ganz unberechenbarer Weise die Leistungsfähigkeit der Arbeiter. Einmal kann sich nun Jeder dem speciellen Fache widmen, wozu er von Natur am meisten geschickt ist. Besonders aber ist die Concentration der Thätigkeit für die Ausbildung in jedem besonderen Arbeitszweige, die dadurch erreichte größere Erfahrung und Geschicklichkeit nicht hoch genug anzuschlagen, während, wenn die Menschen genöthigt wären, so verschiedenartige Dinge alle zu lernen und zu treiben, das höchste Lebensalter zu den Lehrjahren nicht ausreichte.

Sodann verhütet die Arbeitstheilung die Capitalsvergeudung bei der Arbeit. Zu jeder Art der Arbeit gehören bekanntlich als unerläßliche Vorbedingungen gewisse Rohstoffe, Werkzeuge und sonstige mehr oder weniger kostspielige Anlagen. Wie stände es damit bei dem Einzelnen, der sich alle seine Bedürfnisse selbst fertigen sollte? Er bedürfte aller möglichen Werkstätten und Stoffe, müßte Feld, Ackergeräth und Vieh anschaffen, Mühlen anlegen, kurz tausend Dinge haben, ehe er nur daran denken könnte, an eine einzige dieser Arbeiten selbst zu kommen, und es ist klar, daß dies allein seine Kräfte zeitlebens weit überstiege.

Endlich übt die Arbeitstheilung bei der Production den erheblichsten Einfluß auf die Mitwirkung der Naturkräfte und Schätze aus, welche bekanntlich sehr ungleich auf der Erde vertheilt sind.

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verschiedene: Die Gartenlaube (1866). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1866, Seite 190. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1866)_190.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)