Seite:Die Gartenlaube (1866) 188.jpg

Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
verschiedene: Die Gartenlaube (1866)

Gleich Wunderthieren wurden wir begafft, etwa wie eine europäische Expedition, die zu äquatorialen Neger-Völkern kommt. – Ich hatte einen Empfehlungsbrief an den dortigen Arzt, Dr. Cataneo; er war augenblicklich nicht zugegen. Erkundigungen, ob man mit Pferden über den Gavia könne, wurden vom Badewirth erst unbedenklich bejaht, dann achselzuckend verneint und schließlich ergab sich’s, daß eigentlich kein Mensch so recht wußte, wie man daran sei. Da redete mich ein militärisch aussehender junger Mann deutsch an.

„Ueber Passo di Gavia wollen Sie? Ihr Führer kennt den Weg nicht? Sie wollen wissen, ob man mit Pferden hinüber kann? Ich bin fremd hier, wie Sie, und kenne die Passage nicht. Auf das, was die Menschen da durcheinander schwatzen, können Sie nicht gehen; die wissen alle nicht mehr als wir Beide. Ich werde Ihnen behülflich sein, das Rechte heraus zu finden!“

Nachdem ich dem freundlichen Officier meinen Namen und den Zweck meiner Reise (Studien zu einem Reisehandbuche für die östlichen Alpen zu machen) mitgetheilt hatte, erschöpfte er sich in Aufmerksamkeiten, war bei der Auswahl des ortskundigsten Führers entscheidend, indem er einem gewissen Bertolini Santo den Vorrang gab, diesen nochmals einläßlich wegen der Pferde examinirte und mir schließlich rieth, das Pferd des stalliere nach Bormio mit einem eben dorthin abgehenden zuverlässigen Boten zurückzuschicken, dagegen das meinige, das ihm kletterfester schien, mitzunehmen. Wir tauschten unsere Karten. Er war Ungar von Geburt, jetzt Lieutenant bei den königlich italienischen Carabiniers, sein Name Edmondo di Pauliny.

Von ihm und der halben Curbevölkerung begleitet, schieden wir, da, wo der rüde, stolperige Pfad zu steigen begann. Es war etwa halb zwei Uhr Mittags im August. Anfangs, die ersten paar Stunden, ging das Ding vortrefflich, allerdings schweißerpressend. Mein Pferd, das blos den Plaid und eine Tasche zu tragen hatte, stieg, daß wir ihm kaum zu folgen vermochten. Allmählich trübte sich der Horizont, dickfette weiße Wolken mit unheimlich grauen Kernen tauchten über den Felsenkämmen, welche die Aussicht versperrten, auf, und als wir einen Punkt erstiegen hatten, von dem aus sich ein voller Rückblick über das Val Furva bis hinaus in die Gegend von Bormio thun ließ, da erkannten wir die schwer gewitterhafte Tendenz der Atmosphäre. Hierzu kam ein Umstand, der mich ein wenig besorgt machte. Der Weg in dem Felsen fing nämlich an treppenartig zu werden und mitunter sich durch so enges Geklüft zu winden, daß mein Rößlein, geschickt wie ein Renz’sches Schulpferd, ziegenartig zu klettern hatte. Das ging wohl bergauf, bei trockenem, trittfestem Boden, wie aber, wenn’s drüben ebenso bergab gehen sollte? Dann kamen wieder Stellen, wo der Weg ganz aufhörte und schräge Rutschflächen weichenden, zerbröckelten Gesteins (s. g. Schutthalden), die rechts in eine Tiefe von achthundert bis eintausend Fuß absanken, vor uns lagen. Indessen, sie wurden mit dem Pferde passirt; wir kamen immer höher.

So waren drei Stunden zurückgelegt; noch anderthalb Stunden war’s bis zur Paß-Scheidegg. Am Mittagessen hatten wir uns nicht besonders laben können: Omelettes in schmergeliger Butter gebacken, Kalbs-Ragout, zäh wie Katzenfleisch, und gedörrte Pflaumen, die einst bei ihrem Dörrungsproceß verbrannt worden waren; jetzt kam der Hunger. Aber o Himmel! da zeigte sich’s, daß wir über dem Sein und Nichtsein der Pferde-Möglichkeit in Sta. Catarina total vergessen hatten etwas Proviant einzupacken. Eine von Bormio mitgenommene Flasche Sassello war noch da; sie wurde entkorkt und ein Rindchen steinharten Gerstenbrodes dazu zermalmt, das Bertolini bei sich hatte, aber das konnte ja den Hunger nicht stillen. Dazu knurrte es ganz fern im sonorsten Donner-Baß und das Gebirge im Rückblicke gegen Trepallo zu ging so unvermerkt in das Indigo-Violettblaue des dunstgesättigten Horizontes über, daß man nicht mehr unterscheiden konnte, wo das irdische Diesseits aushörte und das universelle Jenseits anfing. Dort hinten mußte es ganz barbarisch wettern.

Rasch ging es vorwärts. Es war aber, als ob mit unserer Beeiligung auch die Gewitter-Vorboten sich beeilten, nicht nur gleichen Schritt mit uns zu halten, sondern uns zu überholen. Mehrere gewaltige Gletschermulden, die uns zur Linken blieben, lagen zwischen gigantische, völlig beschneite Hochgebirgsspitzen eingebettet; letztere mochten, nach meiner Karte, der Pizzo della Mare (11855 Fuß) und der Corno de tre Signori (10912 Fuß überm Meere) sein, waren aber nur noch theilweise sichtbar, weil schon Wolkenhauben über dieselben herabhingen. Allein diese Nebel blieben nicht lange da droben, sondern senkten sich immer tiefer und tiefer und huschten gespensterhaft über die nunmehr vor uns in Sicht befindliche Sattelhöhe des Passes.

Sennhütten oder auch nur jene troglodytischen, uranfänglich aus unbehauenen Steinen construirten Höhlen, wie sie die Ziegenhirten bewohnen, giebt es an dem ganzen nördlichen Abhange des Gavia nicht, weil er zu rauh, zu steinig und vegetations-entblößt ist. Dagegen rufen mehrere, in Zwischenräumen am Wege errichtete, kunstlose Holzkreuze, deren eingekerbte Zuschriften mitunter, weil verwittert, kaum noch zu entziffern sind, ihr unkenhaftes „Memento mori“ zu. Sie wurden errichtet für Verunglückte (darunter drei Capuziner), die den hier oben entfesselt wüthenden Schneestürmen erlagen, und geben somit einen Maßstab für die Gefährlichkeit des Passes bei wildem Wetter. Nun, wir sollten uns bald selbst persönlich davon überzeugen.

Auch dieser Paß hat, wie so viele in den italienischen Alpen, fast auf der Uebergangshöhe zwei Seen, einen Lago Bianco diesseits und einen Lago Nero am südlichen Abhange. Diese Bezeichnungen des „weißen“ und „schwarzen Sees“ haben sie von ihrer Farbe, je nachdem torfiger Boden dem See einen dunklen, oder milchiges Gletscherwasser ihm einen hellen, opalisirenden Schein giebt. Am flach verlaufenden Gestade des ersteren eilten wir hin, über die nackte, von tausend zerrinnenden Adern verlaufenden Schneewassers durchfurchte, nur noch schwach ansteigende Gesteinswüste, auf welcher hie und da höchstens die Eisranunkel und einige Moose ihr kümmerliches Dasein fristen.

Auf dieser noch nicht gemessenen Paßhöhe (man taxirt sie auf 8500 Fuß), wo kein Signal den Uebergangspunkt bezeichnet, keine sogenannten „Steinmandli“ (d. h. aus zusammengelesenen Steinen errichtete, mannshohe Haufen) dem ortsunkundigen Wanderer Direction geben, wo die ganze Fläche Weg oder vielmehr Nichtweg ist, hüllte uns plötzlich, noch bevor wir hatten übersehen können, wo es auf der andern Seite hinabgehe, solch’ ein dicker, schwarzer Nebel ein, daß Armslänge vor uns Alles unerkennbar wurde. Der Wind biß wie Gift und Säure und fegte die feuchten Dünste jagend an uns vorüber. Das war gut, da mußte das graue Ungeheuer bald vorbeiziehen. Also „Halt!“ Ich hatte mich nicht getäuscht, nach einigen Minuten konnten wir wieder wurfweit sehen, jedoch im nächsten Augenblick saßen wir wieder in den olympischen Wolken fest. Es war sechs Uhr vorbei. Noch einigemal wiederholten sich diese Nebelneckereien. Da Blitz, Krach und Schlag! Prosit! Wir standen mitten in einer Gewitterwolke drin. Das Pferd machte ein Männchen. Jetzt ging aber die Geschichte so fort und zur Begleitung kam ein Hagelwetter so groben Kalibers, daß wir die Hände in die Aermel stecken und diese vor’s Gesicht halten mußten, um nicht blatternarbig getrommelt zu werden. Mein Italiener fing an zu beten. Unser Rößlein, das seinem Unwillen über dieses meteorische Zwischenspiel durch verschiedene Tänzer-Pas Ausdruck zu geben versuchte, konnten wir nur dadurch ein wenig beruhigen, daß ihm der Plaid als Decke übergelegt wurde.

Gestrenge Herren regieren nicht lange! Das bewahrheitete sich auch hier, aber fünf Minuten hatten hingereicht; uns allergründlichst durchzuweichen. Sowie der Nebel etwas dünner wurde, hielt auch mein Bertolini nicht mehr Stand und wollte weitermarschiren. Einmal noch respectirte er mein Commando, stehen zu bleiben, bis völlig freier Ausblick sei; dann aber ließ er sich nicht mehr halten, lief im Nebel rechts und links, vor und zurück, immer murmelnd, ob Gebete oder Verwünschungen, weiß ich nicht, so daß wir die Richtung verloren und in dem knirschenden Hagelkörnerbrei ziellos umherirrten. Diese Unvorsichtigkeit sollte theuer gebüßt werden. Denn als es nach etwa einer Viertelstunde lichter wurde (der Hagel hatte dem Regen Platz gemacht), erkannten wir tief unter uns den Lago Nero, an welchem der Pfad vorüberführen sollte.

Dahinab mit dem Pferd? Ueber eine terrassirte Böschung im Fallwinkel von etwa fünfzig Graden? Ueber das schlüpferige Terrain?! Nun, der Versuch mußte gemacht werden. Anfangs führte Conrad das Pferd Tritt für Tritt, von einem Absatz zum andern, dann, als das Thier einigemal mit den Hinterfüßen zu rutschen begann, packte es mein Italiener beim Schweif, um Hemmschuhdienste zu übernehmen, und als seine Kräfte gegenüber dem Pferdegewicht zu schwach waren, theilte sich der Stalliere mit ihm

Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Die Gartenlaube (1866). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1866, Seite 188. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1866)_188.jpg&oldid=- (Version vom 2.4.2020)