Seite:Die Gartenlaube (1866) 171.jpg

Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
verschiedene: Die Gartenlaube (1866)

Ein Ritter vom Zukunftsgeiste.


Wer etwa noch an dem alten Wahne festhält, das staatliche, gesellschaftliche und religiöse Entwickelungsleben der heutigen Menschheit seien verschiedene, für sich bestehende, einander wenig berührende Departements des Menschengeistes, so daß der Theolog nur die Religion, der Diplomat nur den Staat, der Jurist und Cameralist nur die Gesellschaft zu fördern habe, der wird sich in den Fortschrittskampf unserer Tage nicht zu finden wissen und über die rüstigen und muthigen Vorkämpfer in demselben unwillig erstaunt den Kopf schütteln. Denn der gewaltige Drang nach vollständiger Lebenseinheit, nach Neugestaltung und höherer Entwickelung des ganzen Menschheitslebens lebt und webt in all diesen Rittern vom Geist, wenn auch individuell verschieden, so doch im Allgemeinen auf ziemlich gleiche Weise und ein und dasselbe Ziel anstrebend. Wenn z. B. Schulze-Delitzsch auf dem socialen Gebiet zumeist thätig ist und in der Förderung des Interesses des Arbeiterstandes seine glänzenden Triumphe feiert, so wäre es sehr thöricht, anzunehmen, seine Geistesrichtung beschränke sich auf dieses Gebiet, und er dächte und strebte nun in staatlicher Beziehung anders, als der wahre Staatsmann denkt und strebt, oder in religiöser Beziehung anders, als z. B. Wislicenus und Schenkel, oder in Bezug auf das Naturleben anders, als Moleschott. Es wäre derselbe Irrthum, als wenn man annehmen wollte, ein Augenarzt aus der Gräfe’schen Schule sei nicht im Einklang mit den Fortschritten der neuen rationellen Heilkunde überhaupt. Wie hier das Leben des menschlichen Körpers in seinen einzelnen Theilen durchaus als Ganzes erkannt und behandelt werden muß, ganz ebenso das Leben des menschheitlichen Körpers. Der echte Ritter vom Geist, der im Dienste der Zukunft je nach seiner individuellen Begabung oder nach dem sympathischen Zuge seines Genius sich vorzugsweise der Hebung und Förderung des religiösen Lebens zugewandt hat, wird der analogen Hebung und Förderung aller andern Interessen der Menschheit zugethan sein, wie der moderne Augenarzt dem Fortschritte aller übrigen medicinischen Disciplinen.

Was vermögen die Gespenster alten Wahnes und neuer Halbheit gegen die markige Kraft, gegen die schlagfertige Gewandtheit und den jungen Heldengeist der echten Paladine von der modernen Tafelrunde! Diese, auf dem felsenfesten, unerschütterlichen Boden der Wissenschaft stehend, welchen sie sich selbst auf die Grundvesten der Natur mit kühnem Forschergeist, mit bewundernswerthem Eifer und Fleiß und mit glühender Begeisterung gebaut haben, setzen den Hebel an die Welt des bisherigen Scheins, um diese mit archimedischer Wissenschaftskraft aus den Angeln zu heben und an ihre Stelle die aus der Naturerforschung hervorgegangene, aus dem erleuchteten Menschengeiste geborene und mit dem Feuer hochpoetischer Begeisterung getaufte neue Welt des Seins, der Wahrheit zu stellen. Ist die Zahl dieser Tafelrunde auch noch nicht Legion, sie wächst von Tag zu Tag, und was ihr an Quantität fehlt, ersetzt sie an Qualität, und wir dürfen den Anstrengungen der Don Quixote der alten Weltanschauung gegenüber die erhebende Ueberzeugung aussprechen: sie werden die alte Welt des Wahns überwinden! Sie werden die neue Welt der Wahrheit aufbauen, sie werden den Sieg haben, wie das kleine Häuflein der Apostel, oder richtiger der einzige, geistesstarke Paulus auch die römische Welt besiegte und die christliche an ihrer Stelle aufbaute.

Wenn wir die Häupter der Ritter von dieser Tafelrunde des Geistes, die jetzt auf der Lebensbühne thätig sind, diese echten Naturforscher, hier zusammenzählen wollten, es würde sich eine auch numerisch nicht zu verachtende, die Blüthe des heutigen Geistes repräsentirende Sippe herausstellen. Wir bescheiden uns aber heute, nur einen derselben vorzuführen, der durch Vielseitigkeit, Gewandtheit, Unerschrockenheit, Kampftüchtigkeit, Geistesstärke und Milde in gleich hohem Grade, Gerechtigkeits- und Menschenliebe, Gedankentiefe und Klarheit der Darstellung, Idealismus und poetischen Schwung, so wie in allen Tugenden des modernen Geistritterthums so ausgezeichnet ist, daß wir nicht zu weit zu gehen fürchten, wenn wir ihn als Typus der ganzen Genossenschaft betrachten.

Wir meinen den edlen und wackern Vorkämpfer Eduard Baltzer.

Wir wissen recht gut, welche Vorurtheile uns bei Nennung dieses sehr bekannten Namens in einer großen Anzahl der Leser dieses Blattes entgegentreten, aber wissen ebensogut, wie leicht sie sich dem zerstreuen, der unsern Mann in seinem rechten Lichte zu sehen versteht. Man hat gelesen, daß Baltzer, früher protestantischer Prediger wie G. A. Wislicenus, in ähnlicher Weise wie dieser aus der Kirchengemeinschaft getreten, wie dieser eine freie Gemeinde in Halle, so er eine solche in Nordhausen gegründet hat, deren Sprecher und Vorsteher er heute noch ist, und man denkt sogleich an einen Abklatsch von Zinzendorf, Georg Rapp, Proli und dergleichen und zuckt die Achseln mit mitleidigem Lächeln. Es kann keinen größeren Irrthum geben, als diesen; denn Baltzer ist nichts weniger als ein religiöser Schwärmer und Sectenstifter; er ist gerade das Gegentheil eines solchen, ein klarer, vom Hauch des deutschen Idealismus durchwärmter Denker und wissenschaftlich hochgebildeter, vielseitiger Geistpfleger auf allen Gebieten des Geistes und als solcher selbstverständlich ein Feind und Bekämpfer aller Sectirerei. Seine feinen, aber scharfen und meisterhaft geführten Waffen sind ebenso gegen die katholischen Jesuiten und die protestantischen Mucker, wie gegen die modernen Materialisten und Spiritualisten gerichtet. Er ist ein würdiger Nachfolger Kant’s, der in seinem Buche: „Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft (1793)“ , sagt: „Der schwärmerische Religionswahn ist der moralische Tod der Vernunft, ohne die doch gar keine Religion, als welche, wie alle Moralität überhaupt, auf Grundsätze gegründet werden muß, stattfinden kann.“ Aber Baltzer ist dabei praktischer Philosoph; ihm genügen die gefundenen Wahrheiten der Vernunftschlüsse nicht; er will, ein moderner Pygmalion, die Schönheit der Idee zur concreten Erscheinung beleben; er will die mangelhaften Formen der Gesellschaft mit der Idee befruchten, damit sie sich in edle und menschheitbeglückende verwandeln; er will alle abgestorbenen und unfruchtbaren Aeste und Zweige am „goldenen Lebensbaum“ entfernt wissen, damit den jungen, gesunden Sprossen und Trieben die nöthige Nahrung aus Erde, Sonne, Wolke und Luft nicht länger entzogen werde. All’ sein frisches, schönes Streben geht darauf aus, nicht etwa gottselige, gläubige Erbprinzen des Himmels, sondern glückselige gottbewußte Bewohner der Erde zu bilden, die im Genuß der holden Spenden ihrer Mutter, wie in dem der sie erfüllenden und tragenden Idee, in deren mannigfacher Ausstrahlung in Wissenschaft, Kunst, Poesie, Lebensschönheit die höchste Befriedigung finden, die dem Sterblichen vergönnt ist. Somit ist Baltzer Reformator in des Wortes höchster, schönster und vielseitigster Bedeutung; denn er will nicht etwa Katholiken, Protestanten, Juden zu christlichen Rationalisten machen, nein, er will sie zu Menschen, zu wahren Gottmenschen, umbilden und sie, ein heutiger Prometheus, mit dem Gluthstrahl des höchsten Geistes beleben. Wahrlich, wenn irgend ein Mann unserer Tage die höchsten und reinsten Ziele verfolgt, Menschenglück oder vielmehr Menschheitglück, das aus dem Weltganzen, aus der Materie, wie aus der Idee, in gleicher Weise hervorgehen muß, so ist es Eduard Baltzer. Man lese doch seine trefflichen Abhandlungen und Vorträge in dem Werke: „Alte und neue Weltanschauung. Vier Bde. Nordhausen. Förstemann 1850 ff.“, um sich von der Wahrheit unseres Ausspruches zu überzeugen.

In diesen wie in seinen übrigen Schriften (das Leben Jesu,[1] Allgem. Religionsgeschichte, Erklärung der vier Evangelien, religiöse Jugend- und Volksbildung etc.) zeigt sich uns Baltzer als ebenso gründlicher Philosoph, wie Naturforscher, und aus der Combination Beider geht nothwendig der Reformator hervor.

Das Resultat der Baltzer’schen Folgerungen ist, daß ohne tiefere Begründung und höhere Entwickelung, ohne Verinnerlichung des sittlich-religiösen Selbstbewußtseins der Menschheit keine wahre, segensreiche Verjüngung des staatlichen und gesellschaftlichen Lebens vollzogen werden könne. Nur durch wahre Religion, d. h. echtes Geistesleben, Verkörperung der Idee, kann ein fester Grund zum Aufbau der Zukunftswelt gelegt werden. Aber diese Religion

  1. Das „Leben Jesu“ von Baltzer ist im Ganzen wie in den einzelnen Theilen ein weit würdigeres und tiefergreifendes Werk, als das Buch von Renan, das so viel Geschrei auch in Deutschland von sich gemacht hat. Man griff in unserm Vaterlande wieder einmal nach der französischen, aufgeputzten Waare, die man in Deutschland weit solider hatte. Baltzer’s Buch ist die schönste und würdigste Verherrlichung des großen Nazareners und steht auch über Schenkel’s neuerem Werke.
Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Die Gartenlaube (1866). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1866, Seite 171. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1866)_171.jpg&oldid=- (Version vom 2.4.2020)