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verschiedene: Die Gartenlaube (1866)

Gegen seinen Hauptfeind, den Schlagfluß, kann sich der Fettleibige, wenn ihm nämlich das Leben lieb ist, dadurch schützen, daß er, natürlich außer Vermeidung von Verletzungen des Schädels und von Einwirkung großer Kälte und Hitze aus denselben, Alles vermeidet, was den Abfluß des Blutes vom Kopfe erschwert und was den Zufluß des Blutes zum Gehirne verstärkt. Hindernd wirken auf den Rückfluß des Blutes vom Kopfe: enge Hals- und Brustbekleidung, längeres Bücken und Heben schwerer Gegenstände, Schlafen mit tiefliegendem Kopfe, anstrengendes Singen, Schreien und Instrumenteblasen, Pressen bei hartem Stuhlgange und beim Brechen, starke Blähungen, Husten, bedeutendere Körperanstrengungen mit beschleunigtem Athmen. Blutandrang zum Gehirne erzeugt Alles, was das Herzklopfen verstärkt, wie: zu reichlicher Genuß spirituöser Getränke (Berauschung), starken Kaffees und Thees, heftige Gemüthsbewegungen, Ueberladungen des Magens, anstrengende körperliche und geistige Arbeiten (besonders des Nachts), heftig wirkende Sinneseindrücke.

Will ein Fettleibiger nun einen reellen Nutzen von der angedeuteten Entfettungscur haben, so muß er eine solche nicht blos manchmal (jährlich einmal) und dann leidenschaftlich auf nur kurze Zeit vornehmen, sondern diese Cur zur bleibenden Lebensweise machen und sich deshalb nicht allen Genuß an den lieben fetten und fettmachenden Speisen und Getränken versagen; er muß sie nur recht mäßig genießen.

Bock.




Künstler-Wandelungen.


„Ein Münich stand in seiner Zell’
Am Fenstergitter grau,
Viel Rittersleut’ in Waffen hell,
Die reiten durch die Au.

Sie singen Lieder frommer Art
In schönem, ernstem Chor,
Inmitten fliegt von Seide zart
Die Kreuzesfahn’ empor.

Der Münich steht am Fenster noch,
Schaut ihnen nach hinaus:
‚Ich bin wie ihr ein Pilger doch
Und bleib’ ich gleich zu Haus.‘

Des Lebens Fahrt durch Wellentrug
Und heißen Wüstensand,
Sie ist ja auch ein Kreuzeszug
In das gelobte Land.“

Altes Lied (componirt von Franz Schubert).


Es war im landständischen Saal in Wien, an einem Novemberabend des Jahres 1822, als eine dichtgedrängte Menschenmenge erwartungsvoll auf einen zarten, blonden Knaben schaute, der sich eben dem Flügel näherte. Adam Liszt, der Freund Joseph Haydn’s und Hummel’s, der ausgezeichnete Clavierspieler und Geiger, führte seinen elfjährigen Sohn Franz zum ersten Male vor den Richterstuhl eines Publicums, das einen Mozart gekannt. Die Reihen der Männer schienen weniger dicht gedrängt, doch waren alle Musiker von Bedeutung versammelt und in der Nähe des Flügels bemerkte man den interessanten Kopf Salieri’s, und den ernsten Czerny, die Lehrer des Knaben. Der versammelte Frauenflor war desto reicher; das leuchtete, glühte, lächelte und schmachtete wie ein Blumenbeet nach einer thauigen Sommernacht, und gar Viele gab es, die es als eine günstige Vorbedeutung bezeichneten, daß der junge Debutant wie von Rosen umgeben erschien.

Ganz im entferntesten Winkel des Saales folgten zwei wunderschöne, sanfte Frauenaugen jeder Bewegung der schlanken Kindergestalt und auf einem zarten Antlitz lag die rührende Blässe tiefster, mächtigster Bewegung. Die Brust der lieblichen Frau hob und senkte sich voll Unruhe und die kleinen Hände, die gefaltet ineinander lagen, zuckten. Ein schwarzer Spitzenschleier verhüllte die Fülle des goldigen Haares und fiel auf die feine Büste nieder; ein schlichtes, schwarzes Gewand umschloß die schlanke Gestalt. Um die Lippen lag ein Zug von Trauer, und doch versuchten sie zu lächeln, als jetzt eine plötzliche Stille eintrat und die ersten Töne vom Flügel her den Saal durchzogen. Der kleine Franz spielte ein Concertstück von Hummel wunderbar feurig und kraftvoll. Das zahlreiche Publicum beirrte ihn nicht, er schien so ruhig und sicher wie ein erfahrener Steuermann an seinem Steuerruder auf bewegter See.

Warum zagte sie denn noch immer und athmete so angstvoll, jene blonde Frau? Sie hörte ja, wie man dem Knaben Beifall spendete; sie sah, wie ein freudiges Leuchten über sein Gesicht flog, als er sich zu kurzer Rast an der Seite seines Vaters niederließ. Der hübschen kleinen Sängerin mit dem tief ausgeschnittenen weißen Atlaskleide und der Rose hinter dem linken Ohr, die nun eine trillerreiche Arie sang, ward kein Blick aus jenen großen Augen mit den dunkeln Wimpern – unverwandt hingen sie nur an dem Antlitz des Knaben. Wie blaß erschien sein fein geschnittenes Gesicht mit dem vornehmen Munde! Mit einer lebhaften Handbewegung strich er zuweilen das reiche, blonde Haar zurück. Die Sängerin zog sich eben, begleitet von dem lebhaftesten Applaus, zurück und streifte an ihm vorüber, nicht ohne ihre Hand liebkosend über eben dies Haar gleiten zu lassen. Jene Frau im Spitzenschleier bemerkte es seufzend. Dann trat der Knabe wieder an den Flügel, eine kurze, kindliche Verbeugung und die schlanken Finger glitten im H moll-Concert Hummel’s über die Tasten. Die Zuhörer waren entzückt. Auch das sanfte Frauenantlitz im fernen Winkel des Saales überflog eine leichte Röthe der Freude.

Und wieder flötete die niedliche Signora und wirbelte in kecken Coloraturen auf und nieder und zog die vollen Schultern in die Höhe und warf zündende Blicke nach allen Seiten und verbeugte sich endlich mit reizender Koketterie wieder und wieder, als man „Bravo!“ rief. Dann aber nahm der Knabe zum letzten Mal seinen Platz ein zur freien Phantasie. Und still wurde es rings umher, wie in einer Kirche während des Gebets; man wagte kaum zu athmen. Es waren Mozart’sche und Beethoven’sche Themen, die seine Finger ineinander webten und variirten in zauberhafter Weise.

Ueber Salieri’s gefurchtes Antlitz glitt ein stolzes Lächeln; die blonde Frau aber hatte den Kopf auf die Brust sinken lassen und heiße Thränentropfen rollten über ihre Wangen und die sollte Niemand sehen. Fest und fester falteten sich die Hände und ein brünstiges Gebet stieg auf zum Himmel aus einer frommen, reinen Seele für den Knaben, der dort spielte. So tief war das Flehen dieses Herzens, daß selbst der Jubelruf der Menschen, die jetzt nach dem letzten Accord ihrem Entzücken freien Lauf ließen, es nicht störte. Wohl aber ließ der Klang einer Stimme die junge Frau erschreckt auffahren. Diese Stimme, die sie kannte, sagte eben zu ihr: „Madame, Ihr Sohn hat brav gespielt, ich bin mit ihm zufrieden. Sie werden Freude an ihm erleben und dürfen stolz sein auf Ihren Knaben. Wir wollen zu ihm gehen!“

Die Mutter Franz Liszt’s erhob sich, um ihre Hand auf den Arm eines großen, düster blickenden Mannes zu legen, der vor ihr stand. Sein volles Haar war in genialster Unordnung, seine Kleidung nachlässig. Die Menge wirbelte längst bunt und erregt durcheinander, aber wie vor dem Kaiser selbst wich sie ehrerbietig zurück, um jenem Paare Platz zu machen, das jetzt den Weg zum Flügel antrat. Sie redeten kein Wort miteinander, nur dann und wann schlug die Mutter die sanften Augen auf, um ihren Begleiter voll Bewunderung und Zagen anzuschauen, und er nickte ihr dann voll fast väterlicher Freundlichkeit zu. Und endlich sah der Knabe die Beiden.

„Mama, Du wirklich hier und – Beethoven!“ rief er aufglühend und leidenschaftlich erregt.

Und einen Augenblick später hing der „Stern des Abends“ am Halse seiner Mutter und das freundliche Lächeln Ludwig van Beethoven’s war der erste echte Lorbeer, der sich um die Stirn des jungen Künstlers legte. –

Seit jenem Tage war die Laufbahn Franz Liszt’s entschieden, und das Mutterherz gab, trotz tausend banger Sorgen, nach. Muthig drängte es die Schreckbilder von Gefahren, Entbehrungen und Täuschungen, die es Tag und Nacht beunruhigten, zurück. „Geh’ hin, und alle Heiligen mögen Dich behüten und zum wahren Frieden geleiten!“ sagte die sanfteste Stimme der Welt, und das heißgeliebte Kind betrat den dornenvollen Pfad der Künstlerschaft, der zu jenen Höhen der Menschheit führt, allwo sich’s gar „einsam“ stehen soll. Ohne Klage begrub die fromme Frau den Lieblingswunsch ihrer Seele, den Sohn auf jenem Pfade zu sehen, der, wie sie einfältiglich meinte, ohne Umwege sicher in den Himmel führt, nämlich als geweihten Priester. Fortan war sie nur die Mutter des Künstlers.

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