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verschiedene: Die Gartenlaube (1866)

„Unter einem Karren.“

„Und Du?“

„In einem Schuppen von Drury-Lane-Theater.“

„Du?“

„Ich schlafe, wo ich gerade kann; unter den Säulen vor einer Kirche, oder sonstwo.“

„Was treibt ihr am Tage?“

„Ich bettle.“ – „Ich verkaufe Streichhölzer“ – „Ich mag nicht sagen, was ich thue!“ setzte ein Anderer mit listig-blitzenden Augen hinzu. Alle aber gaben ihre Antworten mit der Festigkeit und knappen, treffenden Kürze, welche den Engländer kennzeichnet, namentlich den Londoner. Gleichwohl waren manche dieser Knaben vom Lande hereingekommen; einer gab Schottland, einer Frankreich als sein Geburtsland an. In dem hastigen Straßenleben dieser kolossalen Stadt hatten sie aber Alle ihren uniformen Schliff erhalten.

Nach dem Essen ließ Graf Shaftesbury, das Haupt der frömmelnd protestantischen Richtung, einen Lobgesang anstimmen, und die sämmtliche Gesellschaft begab sich darauf in den oberen Raum, wo die eigentliche Versammlung stattfinden sollte. Es handelte sich darum, eine Anzahl der Knaben zur Meldung beim Zufluchtshause zu veranlassen, um nach Maßgabe der vorhandenen Mittel ihre Aufnahme zu bewerkstelligen, sie zu Handwerken anzuleiten, ihren späteren Eintritt in die Flotte zu erwirken und dergleichen mehr. Das Zufluchtshaus, dessen innere Einrichtung ich besichtigte, hat gegenwärtig etwas mehr als hundert Knaben unter Aufsicht. Sie lernen das Handwerk eines Schuhmachers, Schneiders, Zimmermanns, oder sind mit Holzspleißen beschäftigt. Eiserne Bettstätten, mit rothbraunen Shawldecken, sind in dem geräumigen Schlafsaal aufgereiht; die Bettung schien mir gut, die Decken aber zu dünn. Ein Gasflämmchen brennt die ganze Nacht im Saal. Erwachsene Aufseher sind Nachts nicht da; Unruhe und Unfug entsteht aber, wie man mir sagte, nie. Einige Knaben amtiren als Inspectoren; einer derselben lag gerade wegen geschwollenen Fußes zu Bette und blickte etwas komisch vergnügt unter der Decke vor. Manchmal entläuft ein Knabe dem Hause; er wird dann gesucht und stets wieder gefunden, denn, Thieren ähnlich, schweift auch diese nomadisirende Classe doch nur in gewissem Umkreis. Auf meine Frage nach den Strafen hörte ich mit Bedauern, daß körperliche Züchtigung – mit dem Lederriemen – angewandt werde, doch nur in seltenen Fällen. Im Ganzen sind seit der Gründung des Zufluchtshauses etwa sechshundertundsechszig Knaben und fünfhundert Mädchen aus dem schmutzigen Strudel des Jammers und des Lasters, in dem sie bis dahin umhertrieben, gerettet worden. Die photographischen Bildnisse der hundert ersten Knaben, die zu Gewerben oder zum Matrosendienst aus der Anstalt entlassen worden waren, hingen an einer Wand des Versammlungs-Saales; es waren meist intelligente Gesichter.

Der Vorsitzende wandte sich mit einer kurzen Ansprache an die zerlumpten Rangen, indem er ihnen erklärte: sie bildeten heute das Meeting; sie würden daher gewiß mit voller Wahrheit alle ihnen vorgelegten Fragen beantworten. Elend und jammervoll wie sie aussähen, könnten sie, wenn sie nur wollten, mit Hülfe derer, die ihnen Gutes zu thun beabsichtigten, sich zu besserem Loose aufschwingen; sie möchten daher frei heraus sagen, wie es mit ihnen stünde. Diese Anrede, wie überhaupt die ganze folgende Procedur, wurde von Seiten der Knaben mit aufmerksamer Theilnahme angehört. Aber ein Husten und Hüsteln in allen Tonarten, das doch auf viel Lungenleiden selbst der scheinbar gesund Aussehenden schließen ließ, hörte den Abend über nie auf und wirkte vielfach störend. Nun kamen die besonderen Fragen.

„Wie viele von Euch sind schon im Gefängniß gewesen?“
Etwa dreißig erhoben die Hand.
„Wie viele waren zwei Mal im Gefängniß?“
Etwa zehn erhoben die Hand.
„Wie viele waren drei Mal darin?“
Fünf erhoben die Hand.
„Wie viele von Euch haben gestern Nacht in einem Bette geschlafen?“
Ein paar Hände nur erhoben sich.
Nach einigen anderen Fragen über Beschäftigung etc. wurde gefragt:
„Möchtet Ihr ein anderes Leben führen?“

Ein allgemeiner Ruf erscholl: „O ja, mein Herr!“ – Diesmal in einem Tone fast rührender Einfalt, der gegen den Ausdruck der Stimmen bei anderen Antworten sonderbar abstach.

„Angenommen,“ sagte der Vorsitzende, „es läge ein großes Schiff auf der Themse, groß genug für tausend von Euch; möchtet Ihr dahin gehen, um unterrichtet zu werden, Handwerke zu lernen, Euch für die Kauffahrtei- oder Kriegsflotte vorzubereiten?“

Stürmisches „Ja, ja!“ mit geschwenkten Mützen. Der englische Seemannsgeist schien plötzlich unter viele der Jungen zu fahren.

„Glaubt Ihr, alle Euere Cameraden auf den Straßen würden auch darauf eingehen?“

Vielfaches „Nein!“ mit „Ja!“ schwach untermischt; diese heikle Frage nämlich betraf die große Zahl derer, die schon in Laster und Verbrechen zu tief versunken, die auf dem Wege vom Rinnstein zum Kerker und Galgen sind. Der Vorsitzende glaubte, die Frage sei mißverstanden; allein „Nein, nein!“ schallte ihm wieder entgegen.

Wunderbar waren das rasche Verständniß der Knaben und die geordnete Meetings-Manier, mit welcher sie unter andern die ihnen vorgeschlagenen „Hochs“ – „Hip, hip, Hurrah“ und „drei Mal drei“ – ausbrachten. Der Engländer hat ein angeborenes Geschick dafür. Der oder jener unter den Rangen mag freilich schon auf politischen Meetings „zu ungesetzlichen Zwecken“ sich eingefunden und dort die Gebräuche abgeguckt haben.

Die Versammlung wurde geschlossen, nachdem man sich vorgenommen hatte, Schritte für Rettung solcher verwahrloster Straßenläufer zu thun. Die englische Aristokratie, die vom Marke des Landes lebt, findet sich, klug rechnend, bei solchen Bemühungen gewöhnlich ein, und so war es auch hier!

Vier Pence wurden noch von dem Zufluchtshause an jeden Knaben gezahlt, damit er diese Nacht in einem Logirhause schlafen könne. Unter strömendem Regen begaben sich die Einen nach Hause in die warmen, wohlerleuchteten Wohnzimmer; der zersetzte Betteltrupp aber fluthete wieder hinaus auf das unwirthliche Meer des Elendes. –

Carl Blind.




Die Schweiz und Liechtenstein. Im Hinblick auf die in dem interessanten Artikel „Die kleinste deutsche Residenz“ enthaltene Stelle: „Seitdem in der Schweiz gerynikert ward, habe republikanische Gesinnung der Liechtensteiner einen kleinen Stoß erlitten“ – erlauben Sie einem unmittelbaren Nachbar dieses kleinsten europäischen Staates folgende Berichtigung.

Vorerst ist zu bemerken, daß der berüchtigte und mit Recht verurtheilte Rynikerhandel nicht der Anfang einer neuen, sondern, wenn nicht Alles trügt, das Ende einer alten Einrichtung ist. Man kann also nicht sagen: seitdem, sondern bald: seitdem nicht mehr gerynikert wird. Denn die Prügelstrafe ist jetzt für solche Fälle in Uri aufgehoben, und es wird wohl nicht mehr lange dauern, so wird sie in der Schweiz gar nicht mehr bestehen und gern den Gutsherren Mecklenburgs überlassen werden. Ferner ist es in jeder Beziehung ungerechtfertigt, den Rynikerhandel mit Liechtenstein in Verbindung zu bringen. Denn Liechtenstein würde, falls eine Vereinigung dieses Ländchens mit der Schweiz möglich wäre, doch gewiß nicht an Uri, sondern an St. Gallen oder Graubünden fallen, und in diesen beiden Cantonen wäre ein Rynikerfall geradezu eine Unmöglichkeit. Uebrigens ist die Schweiz nach dieser „Vergrößerung“ um ein paar arme Dörfer nicht gerade lüstern und auch jedenfalls sicher davor, da Oesterreich dieselbe niemals zugeben würde, was sich schon 1848 zeigte, als sich Liechtenstein ernsthaft an Graubünden anschließen wollte und auch einen Graubündner als seinen Vertreter in die Paulskirche sandte.

Endlich ist nicht außer Acht zu lassen, daß gerade das Aufsehen und die Entrüstung, welche die Verurtheilung des Ryniker (der übrigens durch seine Unbesonnenheit und Kopflosigkeit sein Schicksal selbst herbeigeführt) in Deutschland und noch mehr in der Schweiz selbst hervorgerufen hat, der beste Beweis dafür ist, wie selten solche Fälle bei uns sind und wie wenig sie im Lande und unter dem Volke gebilligt werden. Es ist mit Sicherheit anzunehmen, daß in der Schweiz ein Preßvergehen zum letzten Male mit einer Strafe gerächt worden ist, die indessen, beiläufig gesagt, ein Kinderspiel ist gegen die entsetzlichen Schicksale, welche in gewissen andern Ländern die Volksmänner von 1848 getroffen haben.




Stolle’s Frühling auf dem Lande. In unserer neueren Literatur wird sich kaum eine zweite Dichtung finden, wo der Frühling in seinen unterschiedlichen Wandlungen, und zwar vom ersten Erwachen bis zur letzten Rose, mit solcher Naturwahrheit, Zartheit, Frische und erquickenden Schönheit geschildert ist, wie dies Stolle in seinem „Frühling auf dem Lande“ meisterhaft gelungen ist. Alles blüht und klingt, sproßt, grünt und duftet, vom gold’nen Sonnenstrahl durchklungen, ein blühend Eden. Und hindurch wieder ziehen sich ein Humor und eine Gemüthlichkeit, die bald das Herz lachen machen, bald das Auge mit Thränen der Rührung füllen. Alle Capitel sind sozusagen unmittelbar aus dem Herzen geschrieben, und muß darum auch Jedem wohl um’s Herz werden, der dieses Büchlein liest. Was die Gemeinnützigkeit anlangt, ähnelt es Zschokke’s trefflichem „Goldmacherdorfe“ und findet der segensreiche Volkslehrerstand darin gleichsam seine Verklärung. Es ist eine Musteridylle und zugleich ein echtes deutsches Volksbuch, worin man immer von Neuem lesen und sich immer von Neuem erquicken wird. Alle bis jetzt darüber laut gewordenen Stimmen der Kritik sprechen sich in diesem Sinne aus. – Dieses Büchlein eignet sich als herzerquickendes literarisches Geschenk für alle Freunde des Frühlings und des Humors.




Kleiner Briefkasten.


L. in F. Da wir dem zweiten Theile des Hofmann’schen Artikels „In Friedrich Rückert’s Haus“ das Portrait des Dichters beifügen wollen, so sahen wir uns genöthigt, die im ersten Artikel verheißene Besprechung einer „Versündigung am Heiligthum dieses Hauses“, um deren Veröffentlichung nicht zu weit hinaus zu schieben und auch um sie nicht mit des Dichters edlem Bilde in so nahe Berührung zu bringen, in der heutigen Nummer der Deutschen Blätter mitzutheilen.

K. in Dr. Bereits in einer der nächsten Nummern können wir Ihrem Wunsche nachkommen. Aus der Feder unseres tüchtigen Mitarbeiters K. Wartenburg wird unter dem Titel: „Durch eigene Kraft – ein deutsches Cultur- und Städtebild“ die gewünschte Schilderung erscheinen.

M. A. W. in Wien. Es thut uns leid, aber wir müssen „Nein“ sagen.

A–t in K…n. Wir haben uns wohl gedacht, daß Sie sich von der neuen Wandlung unsers Beiblattes, die Deutschen Blätter, und namentlich von dem frischen, mannigfaltigen Feuilleton, wie es dieselben jetzt bieten, angemuthet fühlen würden, glauben Ihnen aber nicht zu viel zu versprechen, wenn wir Ihnen für die Folge ein noch interessanteres und reichhaltigeres Feuilleton aus dem Gebiete der Literatur, der Kunst und des öffentlichen und socialen Lebens in Aussicht stellen.

Herrn Alfred Werner in Wien. Wenden Sie sich in der fraglichen Angelegenheit an den Secretär des amerikanischen General-Consulats, Herrn A. Gläser, in Frankfurt a. M.



Verantwortlicher Redacteur Ernst Keil in Leipzig. – Verlag von Ernst Keil in Leipzig. – Druck von Alexander Wiede in Leipzig.
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verschiedene: Die Gartenlaube (1866). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1866, Seite 144. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1866)_144.jpg&oldid=- (Version vom 23.2.2020)