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verschiedene: Die Gartenlaube (1866)

die Fahrordnung der Wagen. Was bei einem Vergleiche zwischen dem knatternden und grellen Donnern und Tosen des Berliner Verkehrs und dem unendlich großartigeren in London besonders auffällt, ist die viel größere Ruhe des Lärmes in der englischen Riesenstadt. Es donnert und braust und brummt viel eben- und gleichmäßiger, nicht so erderschütternd, nicht so ohren- und nervenzerreißend auf dem viel ebeneren Stein- oder Macadampflaster mit lauter festgeschlossenen, eisenrippigen, dabei plastischen, niet- und nagelfesten Fahrzeugen in London. Dazu rollen sie meist besser auf dichter aneinander, um kleinere Achsen sich leichter drehenden Rädern hinter viel näher gespannten Pferden her.

Der Lastfuhrmann der großen Speditionshäuser von Chaplin und Horne oder Pickford, der Omnibuskutscher sehen ihre Pferde von ihren Thronen herab kaum ganz; sie lenken dieselben mehr durch Ziehen auf- als rückwärts und haben dadurch eine viel schnellere und sicherere Gewalt über Wagen und Pferde zugleich. Im schnellsten Dahinrollen können sie beide so geschwind anhalten, daß ein ziemlich dicht vor dem Wagen Fallender selten überfahren wird. Ich habe es oft genug gesehen, wie ein solcher göttlicher Wagenlenker dicht vor einer Gefahr die Pferde mit den Vordertheilen gleichsam empor riß und sie mit solcher Gewalt gegen den Wagen drängte, daß Alles stand, wie auf Zauberei. Die göttlichen, zweiräderigen Flugmaschinen für je zwei Personen, Hansoms oder Sicherheitsdroschken mit dem Kutscher ganz hinten und oben auf einem Suppenteller von Bock, können im schnellsten Fluge jeden Augenblick halten und sich sofort wieder wie Aale durch das dichteste Gedränge von Wagen glatt hindurchwinden.

Die Londoner Omnibus sind wohl noch mancher Vervollkommnung fähig, so hundertfache Formen und Veränderungen man auch versucht, geprüft und wieder aufgegeben hat, um mehr oder weniger zu den üblichen zurückzukehren. Wir in Deutschland können schon zufrieden sein, wenn wir in solchen gewöhnlichen Londoner Omnibus fahren werden. Man steigt bequemer aus und ein, fährt viel schneller, bequemer, reinlicher und luftiger mit entweder stillen oder höflichen, beim Aus- und Einsteigen gern behülflichen, niemals an’s Rauchen nur denkenden Menschen, während in Berlin die Omnibus-Unternehmer dreimal um Aufhebung des Rauchverbots als unerläßlich für das Gedeihen ihres Geschäfts gebeten haben und immer noch eine Menge Fahrgäste mit Dreier-Cigarren dem Verbote trotzen und zwar in fest verschlossenen, unventilirten Omnibus, in welchen die durch Athmen verpestete Luft immer mitfährt.

In London sind alle Omnibus ohne Ausnahme mit ziemlich guter Ventilation (worunter sich die Deutschen meist „Zug“ denken) versehen. Sie besteht in der Regel aus einem schmalen, eisernen Gitterwerke oben ringsum unmittelbar unterhalb der Decke und der stets offenen oberen Hälfte der Eingangsthür, die an den neuen großen, für je vierzig Personen, ganz fehlt, so daß man mit einiger Geschicklichkeit mitten im Fahren über das ganz niedrige und breite Trittbret aus- und einsteigen kann. Der „Cad“ oder Conducteur des „Bus“ oder Omnibus (viel zu lang für die Engländer) steht nicht, wie in Deutschland, schläfrig unten auf dem Brete mit der einzigen Aussicht nach hinten, wo er winkende Fahrlustige im besten Falle viel zu spät, oft gar nicht bemerkt, sondern hoch oben auf seinem kleinen Affenbretchen (monkey-board), nach allen Seiten, besonders nach vorn und den beiden von Menschen wimmelnden, breiten, rinnsteinfreien Trottoirseiten lauter Auge und winkender Zeigefinger mit scharfen Ausrufen der Richtungen und Ziele, meist auch des Preises, wie: „Bank! Bank! Elephant! Kingsland gate! All the way toppence! (Ganze Tour zwei Pence)“ etc. Dabei erkennt er mit scharfem, geübtem Auge aus Tausenden von Menschen vor sich die heraus, welche überhaupt nur Miene machen, sich nach einem Omnibus umsehen zu wollen. Das Ausrufungszeichen seines Zeigefingers schießt hoch empor und durch das donnerndste Getöse schrillt das Verzeichniß der Straßen und Plätze seiner Tour, die außerdem je nach der Wichtigkeit in verschiedener Größe rings um den Omnibus in allerhand farbigen Lettern prangen. Bunt und in allen möglichen Farben, wie die „Bus“ bemalt sind mit ihren vielerlei Umschriften und oben winkenden Extratafeln, aus- und inwendig mit augenfällig und groß und bunt gedruckten Anzeigen und Illustrationen beklebt, oft „full inside“ (voll inwendig) und auf dem „top“ oben mit malerisch gruppirten und zum Theil hinter großen frisch gekauften Zeitungen versteckten „Außenseitern“ besetzt, mit dem dramatischen Elemente des „Cads“ hinten und dem philosophisch-contemplativen des driver, Treibers oder Kutschers, vorn hoch auf seinem Throne (neben welchem nicht blos der eine Zeitungsleser unserer Abbildung, sondern vier Platz haben und „hohe Politik“ treiben können), mitten im tollsten Jagen von unten und dem Trittbrete her von fliegenden Zeitungshändlern bedient, Geld wechselnd für Zahlung oder den bronzenen Penny hinunterwerfend, dabei immer fleißig und flüssig mitten im tollsten Drängen und Donnern Passagiere und Pakete ladend und löschend, bieten diese Omnibus in ihren unabsehbaren Doppel- und doppelten Doppelreihen und allerhand sich kreuzenden Richtungen eines der dramatischsten und charakteristischsten Elemente des Londoner Straßenverkehrs. Unser „Cad“ sieht nicht nur, sondern handelt auch scharf.

Damen und Fremde finden in dem bunten Wirrwarr von Farben und Namen selten den rechten Omnibus heraus. Cad oder Caddy sieht ihnen die Verlegenheit hundert Schritt vorher an und ist wie ein Blitz hinunter, dem „Bus“ voraus durch’s halsbrechendste Gedränge dicht bei ihnen, der Concurrenz eines Rivalen und zugleich dem möglichen Passagier zuvorkommend, und schleppt ihn oder sie triumphirend vor den Augen des Concurrenten vorbei, sicher und sauber in seinen „Bus“. „All right, Bill!“ Und lustig und leicht rollt die Maschine weiter, ohne anzuhalten. Freilich so flink und frisch geht’s nicht immer. Obgleich man über und unter den Straßen für Ab-, Aus- und Nebenwege gesorgt hat und immer großartiger damit fortfährt, kommen doch noch alle Tage öfter große und kleine und allgemeine Störungen in den großen Verkehrsstraßen vor, besonders in den Hauptsternen, wo sich fünf und mehr (selten vier) Straßen kreuzen. An einem bestimmten Tage 1850 zählte die scharfäugige Polizei amtlich und systematisch dreizehntausend Wagen, die über die Londonbrücke fuhren, an einem Tage 1863 über zwanzigtausend, und jetzt kann man im Durchschnitt getrost fünfundzwanzigtausend annehmen. Die Brücke ist nicht breiter geworden, die Fahrordnung aber um so strenger und meisterhafter: es müssen immer je zwei Reihen in schnurgerader Linie hin- und herfahren. Manche Arten von großen Wagen sind für bestimmte Zeiten ganz von der City ausgeschlossen etc. Und dann sind die vierhundertundfünfzig Wagen des ersten Spediteurs Chaplin und Horne und die einhundertfünfzigtausend Centner, welche sie wöchentlich befördern, und die mehr als vierhundert Wagen Pickford’s und seine Tausende von Paketen so eingerichtet, daß wir das Ganze als ein Weltwunder des Verkehrs ohne Gleichen erkennen.

Diese Herren ließen alle ihre Lastwagen – beinahe tausend – so erneuern oder ganz neue machen, daß jeder genau einen Fuß schmäler (sieben und einen halben Fuß breit) und kürzer, als die früheren, von je zwei statt vier Pferden gezogen werden kann und just gerade Raum hat für je zwei Manchester-Pakete, je zwei Körbe Derby-Strumpfwaaren, je zwei Ballen Nottingham-Spitzen etc. und daß eine bestimmte Zahl derselben ihn auch der Länge nach gerade füllen, ohne einen Zoll breit Raum zu lassen. Diese verschiedenen Waarenballen haben also auch sämmtlich einen ganz bestimmten Umfang bis auf einen Viertelzoll, so daß die betreffenden Fabrikanten und Großhändler in den verschiedenen Theilen Englands dafür gewonnen und darin geeinigt werden mußten.

Ist das nicht ein Wunder mitten in der nüchternen Industrie? Ja wohl, zumal wenn man sich die Mühe nimmt, noch die meisterhafte Construction der Wagen, der mit schweren Centnerlasten leicht dahinrollenden, zu studiren und die geniale Vertheilung ihrer dreißig verschiedenen Etablissements sowie Pünktlichkeit, womit sie ihre fünfhundert täglichen Ladungen meist vor der Hauptgeschäftszeit, d. h. vor zehn Uhr Morgens, fördern und abliefern und später mit kleineren einpferdigen Wagen die kleineren Geschäfte und engeren Straßen besorgen.

Es wäre noch viel zu singen und zu sagen von der unabsehbaren Mannigfaltigkeit der Fahrzeuge auf Rädern für Menschen und Waaren, für Pferde aller Art, Ponies, Esel und Menschen, über die Art wie letztere ihre Lasten und Waaren möglichst vortheilhaft verpacken und zugleich zum Detailverkauf schaustellen, wie sie ihre wandernden Tische und Läden und Waarenlager bald ziehen, bald schieben, von klugen Eseln ziehen, von schlauen, treuen Hunden bewachen lassen, mit allen nur möglichen Producten und Waaren jeden Tag zu rechter Zeit vor jedem Hause der dreitausendsechshundert Straßen halten und flink und frisch auf einen

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verschiedene: Die Gartenlaube (1866). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1866, Seite 110. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1866)_110.jpg&oldid=- (Version vom 23.2.2020)