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verschiedene: Die Gartenlaube (1866)

Männern und Frauen gab ich Sprüche der Weisheit, ich habe die Greisen nicht mit Gebeten voll Trost und Erhebung vergessen, und den Kindern schenkte ich die Märchen zum Spiel.

Die Gartenlaube ist durch das Vertrauen, das die Nation ihr so treu bewahrt, zu der Aufgabe verpflichtet, die höchsten Träger deutscher Ehre dem Volke im reinen Lichte der Wahrheit zu zeigen; diese Verpflichtung wird eine umso gebietendere, jemehr die Feinde alles Vorwärtsstrebens der Völker im deutschen Geist zugleich den Geist der Freiheit verfolgen. Lernen wir von unseren Feinden und predigen wir’s unserm Volk zu jeder Stunde, daß nur ein freier Mann auch ein wahrhaft deutscher ist und daß Alles, was deutsch ist, frei sein muß!

Schon einmal (1863) hat die Gartenlaube mich mit dem Auftrag beehrt, Friedrich Rückert als Dichter und Menschen darzustellen; damals feierten wir mit jenem Artikel den fünfundsiebenzigsten Geburtstag des noch in frischer Kraft lebenden Mannes. Heute, wo der grüne Hügel seinen ewigen Schlummer deckt, zieht es mich noch einmal zu dem Heiligthum des Hauses hin, wo er als Vater, als liebereiches, ehrwürdiges Haupt seiner Familie gewaltet hat. Ich will’s versuchen, dieses Familienbild so heiter und rein wieder zu geben, wie der Geist ist, der in allen Werken des Dichters sich wiederspiegelt, und der Geist war, der sein gastliches Haus so schön und glücklich machte.

Vom Schlosse Kallenberg, dem Lieblingssitze des Herzogs Ernst von Coburg, herab durch den prächtigen Parkwald in einem milden Augustregen am Arme seiner Frau zu lustwandeln, macht Leib und Seele munter; als wir aber aus dem Walde heraustraten und das Rauschen der frischaufathmenden Blätter, die unter der Last ihres Perlenschmucks nickten und trieften, hinter uns verschwand, fing es an weniger schön zu werden. Der Regen hatte den Fußpfad der Chaussée nach Coburg aufgeweicht und fiel in ausgiebigeren Tropfen nieder, so daß die Regenschirme sich satt getrunken hatten, als wir zu den ersten Häusern von Neuseß kamen. Die Schritte beflügelnd suchten wir nach einem Gartenpförtchen linker Hand, um – wir durften es schon wagen – in Rückert’s gastfreundlichem Hause vor dem Unwetter ein wenig unterzutreten. Da war’s erreicht, wir huschten durch den Gras- in den Blumengarten, durch die Veranda in die Hausflur.

Fräulein Marie Rückert, die seit der Mutter Tod die Pflichten einer waltenden Hausfrau auf sich genommen, begrüßte uns mit herzlicher Freude und führte uns in die trauliche Familienstube zu ebener Erde, unter deren Fenstern der kleine, klare Lauterfluß vorüberrauscht. In dem sonst so stillen Raume, seitdem die übrigen sechs Kinder des Hausvaters, fünf Söhne und eine Tochter, sämmtlich eigene Heerde gegründet, war heute wieder ein Bildchen des alten Lebens eingezogen. Der jüngste Sohn des Hauses, in preußischen Diensten, war da mit der jungen, blühenden Gattin und dem ersten Kindchen. Diese kleine Enkelin des Dichternestors lag, mit den eigenen Händchen spielend, im Korbwagen und kümmerte sich nichts um die neue Gesellschaft.

Die Schauer des durchnässenden Regens waren bald überwunden, Fräulein Marie hatte für ein Frühstück gesorgt, aber dabei für noch Etwas, denn als wir uns eben um den großen Familientisch niedergelassen hatten, trat mit noch immer rüstigem festem Schritte der Herr des Hauses ein.

„Das war schön von dem Regen, daß er Sie hereingetrieben hat,“ lautete sein Willkommen. Nur meine Frau durfte sich einiges Bedauertwerdens erfreuen. Es war eine Herzenslust, zu dem ehrwürdigen, hohen Greis hinaufzuschauen, dessen Nacken die letzten Krankheitsstürme freilich ein wenig gebeugt hatten, aber dessen jugendfrischem Augenstrahl sie nichts hatten anhaben können.

Die äußere Erscheinung Friedrich Rückert’s war immer, soweit ich mit seinem Bilde in die Erinnerung zurückgehen kann, eine imponirende. Er war von sehr hoher Gestalt, die dadurch wenig verlor, daß er das Haupt etwas vorgebeugt, wie alle Denker, zu tragen pflegte – „die volle Aehre beugt den Halm“. Sein Antlitz ist wohl aus zahlreichen Portraits im Allgemeinen bekannt, oft aber nur am langen, in der Stirnmitte gescheitelten Haare kenntlich; den Ausdruck der Augen gab keines wieder. Sie lagen tief unter der mit den starken Brauen hervortretenden Stirn und waren der wunderbar klare, ausdrucksvolle Spiegel seiner Seele. Ihr freundlicher Blick war bezaubernd; sicherlich sprachen sie auch im Zorn gewaltig mit. Seine Kleidung war einfach und bequem und so, daß sie ihm gestattete, ohne Umkleidung auch in den Garten oder auf seinen „Goldberg“ oder auch bis in den Park des Kallenberg zu wandeln, dazu eine bequeme Mütze mit großem Schild, anders hab’ ich ihn nie gesehen. In seiner Jugend trug er den damals üblichen altdeutschen Rock; aus seiner römischen Zeit sah ich einmal ein Bildniß, auf welchem er einen schönen Schnurrbart trug. Dieser fiel später weg, das lange Haar nahm er mit in’s Grab. Sein Greisenhaupt, und zwar wenige Tage vor seinem Tode gezeichnet,[1] theilt die Gartenlaube in einer der nächsten Nummern mit.

Auch Rückert’s häusliche Gewohnheiten und Bedürfnisse waren sehr einfach und für seine Stellung im Leben fast anspruchslos. Er stand früh auf und brachte den Vormittag meist in der Studirstube zu, die für alle Besuche ein verschlossenes Heiligthum war. Hier lag er seinen ernsten Arbeiten ob, die in den letzten Jahren meist die morgenländischen Sprachen und Literaturen betrafen, für die ihm ein reicher, gelehrter Apparat zu Gebote stand. Es mußte eine ganz besondere Veranlassung sein, die ihn bewog, das Arbeitszimmer zu verlassen, wenn ihn nicht die eigene Lust in’s Freie zog. Desto geselliger war er stets am Mittagstisch, den er gern belebt hatte, wie er es bei seiner zahlreichen Familie gewöhnt worden war. Hier ließ er den Grundzug seines Wesens, eine edle Heiterkeit, gern walten und war dem guten, reinen Scherze hold, obwohl er jeden ernsten Gegenstand ebenso gern erfaßte, wenn er etwas Rechtes bot. Nach Tische folgte er dem Gang der Unterhaltung noch eine kurze Zeit, dann ging er, ohne die Uebrigen zu stören. Man wußte, daß sein Schlafstündlein ihm Bedürfniß war. Um drei Uhr war der Kaffeetisch bereit, in der schönen Jahreszeit im Garten zwischen wohlgepflegten Blumen, und dann war es auch, wo die meisten der vorüberfliegenden Besuche Zutritt hatten. Auch die Freunde und Verwandten aus der Stadt stellten sich häufig, manche sogar regelmäßig, dazu ein.

Es bedarf kaum der Bemerkung, daß diese Kaffeestündchen fast immer ein köstlicher Schatz geistreicher und oft der vielseitigsten Unterhaltung würzte, aus welcher nicht nur die Gäste bleibende Erinnerungen mit forttrugen, sondern die auch für Rückert belebend und anregend waren, so daß sie ihm, in Verein mit den Zeitschriften, die er in ziemlicher Anzahl hielt, den Aufenthalt in einer Stadt ersetzten. War Rückert nicht durch Gäste gebunden, oder wollte er sich nicht binden lassen, so wandelte er Nachmittags, mit leichter Lectüre in der Tasche, auf seinen „Goldberg“, einen etwa zehn Minuten von Neuseß im breiten Wiesenthale aufwärts liegenden kleinen parkartig bewaldeten Hügel, auf welchem er sich ein geschmackvolles Schweizerhäuschen gebaut hatte. Die Abende waren wieder dem häuslichen Familientisch geweiht, den er, auch wenn übernachtende Gäste an ihm Theil nahmen, verließ, sobald seine bestimmte Schlafstunde nahte.

Gegen Besuche, weß Standes sie auch waren, konnte Niemand sich tactvoller benehmen, als Rückert. Gegen Fremde war er gemessen, obwohl fern von jeder zurückstoßenden Kälte; sein Menschenkennerblick erkannte bald genug, wen er vor sich hatte, und darnach richtete sich seine eigene Wandelung. Wenn ihn aber Menschen begrüßten, die er lieb hatte, so ließ er aller Herzlichkeit seiner biederen fränkischen Natur freien Lauf – und zu diesen Glücklichen, denen er eine treue Zuneigung bewahrte, gehörten wir.

Es entspann sich nun, was sich von selbst verstand, eine höchst belebte Unterhaltung, an welcher auch ein Freund und Altersgenosse des anwesenden Sohnes Rückert’s, und ebenfalls Gast des Hauses, Antheil nahm und die häufig in eine ältere und jüngere Gruppe zerfiel, namentlich während Rückert und ich uns unsere politischen Sorgen mittheilten.

Der wiedererstandene „Freimund Reimar“ lebte wegen seiner neuen geharnischten Lieder noch im besten Andenken, als das jüngste seiner Zeitgedichte, auf Lincoln’s Tod, eben zur Zeit meines Besuchs durch viele Blätter lief. Meine Hindeutung darauf führte uns von selbst auf das zerrissene Feld des Tageshaders. Rückert mit seinem ebenso freien wie gerechten Herzen warf nicht, wie es so gern verbitterte Kämpfer aus der alten Zeit thun, den Stein auf das Volk der Gegenwart, nur die Hauptrichtung der Zeit beklagte er.

„Das zu einseitig materielle Streben läßt keine wahre Begeisterung für hochgesteckte Ziele aufkommen, und wo die Begeisterung

  1. Von Carl Hohnbaum aus Hildburghausen, dem Sohne eines der treuesten Freunde Rückerts, der diesem Verhältniß wohl die seltene Gunst verdankte, daß der sonst für portraitirende Künstler schwer zugängliche Dichter ihm zu diesem vortrefflichsten von allen Rückertbildern saß.
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verschiedene: Die Gartenlaube (1866). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1866, Seite 106. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1866)_106.jpg&oldid=- (Version vom 23.2.2020)