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verschiedene: Die Gartenlaube (1866)

Das Thurmzimmer.
Geistergeschichte aus Herder’s Leben.
Von Levin Schücking.
(Fortsetzung.)


„Caroline!“ Der Ausruf lag auf Herder’s Lippen, aber der Athem fehlte ihm, ihn laut werden zu lassen. Sein ganzes Leben war in seinen Augen. Die Gestalt bewegte sich. Sie ging nicht, sie schwebte über die Galerie fort, unhörbar, mit Geisterschritten; schon war sie am Ende der Galerie, die Thür öffnete sich vor ihr, oder nahm die Wand, die Luft sie auf? Sie war verschwunden, nicht sieben oder acht Secunden lang hatte die Erscheinung gedauert.

Alles war still und finster im Thurmzimmer wie früher.

Herder warf sich zurück in seine Kissen, er rang tief Athem holend nach Luft, und indem er beide Arme wie in tiefster Mattigkeit auf die Bettdecke legte, sagte er:

„Das ist entweder sehr wunderbar, oder sehr arg … sehr arg!“

Er hatte seine ganze Fassung wiedergefunden.

„Es ist unglaublich!“ fuhr er nach einer Weile ruhigen Besinnens fort … „Caroline! Dem Grafen könnte ich verzeihen … Diese großen Herren halten sich zu jedem Scherz auf Kosten niedrig geborener Sterblicher berechtigt. Aber Caroline! Sie … daß sie sich hergiebt zu einer solchen Komödie … mit mir … daß sie hier sein kann und sich mir verbirgt … daß sie die Vorwürfe, welche ihre Briefe mir machen, so in Scene setzen … mir wie in einem Pantomimenspiel als das Wesen, an dem ich mich im Leben am schwersten versündigt, erscheinen kann … o mein Gott! … greift ein Mädchen, welches den Mann ihrer Liebe achtet, zu solchen Mitteln? … Blendwerk, widriges Gaukelspiel … es ist nicht möglich, nicht möglich!“

In furchtbarer Aufregung sprang Herder aus dem Bette. Er eilte zu den Fenstern und riß die Läden auf. Ueber dem Berge im Osten dämmerte Morgengrauen. Um Untersuchungen anzustellen, war es zu dunkel. Herder legte sich wieder nieder. Den peinigendsten Gedanken hingegeben, erwartete er das Wachsen des Lichts; es stieg allmählich, unmerkbar, nach einer Viertelstunde schon konnte er sich erheben und sich ankleiden, aber was half es, gekleidet zu sein … es war noch Niemand im ganzen Schlosse schon aufgestanden. Er mußte sich gedulden noch lange, lange Zeit.

Endlich hörte er Geräusch … die Portalthür unten wurde geöffnet. Er verließ nun sein Zimmer. Draußen auf dem Corridor herrschte noch Dämmerung; auf der Treppe war schon volles Licht. Am Fuße derselben fand Herder den Hausmeister oder Burgvogt in Filzschuhen und in einer Leinwandjacke als seiner Morgentoilette.

„Herr Consistorialrath,“ sagte dieser betroffen, „Sie schon so zeitig aufgestanden?“

Die ehrlichste Verwunderung sprach aus den gebräunten Zügen des alten Mannes. Er wenigstens konnte nicht im Complot sein. Herder drückte ihm ein Goldstück in die Hand.

„Verrathen Sie Niemandem, daß ich so früh auf war, und führen Sie mich augenblicklich über die Galerie in meinem Zimmer in den Burgthurm.“

Der Mann blickte noch verwunderter auf den Ducaten in seiner Hand, und dann in die Züge des Hofpredigers.

„In den Burgthurm können wir schon gehen,“ sagte er zögernd, „aber von unten her, über die Wendelstiege … über die Galerie geht’s nicht!“

„Und weshalb nicht über die Galerie?“

„Weil in den Entresolzimmern, aus denen die Galerie durch’s Thurmzimmer in den Thurm führt, Gäste schlafen, die wir nicht wecken dürfen.“

„Gäste? … und wer sind diese Gäste? sagen Sie mir’s, wer?“

Der Mann stockte, er lächelte verlegen.

„Ich will, ich muß es wissen,“ rief Herder heftig aus, als er das erste Aufzucken dieses Lächelns wahrnahm.

„Nun ja,“ sagte der Burgvogt, „soll ich den Herrn Consistorialrath nicht verrathen, daß er so frühe bei der Hand war, so wird mich auch der Herr Consistorialrath nicht verrathen, daß ich’s ihm sagte. Es ist eine schöne, fremde Dame da einquartiert, die gestern Abend in der Dämmerung, von einem Mädchen begleitet, zu Fuße aus Eilsen ankam; der Herr Hofmarschall haben mir, und wer sonst noch davon weiß, auf’s Strengste verboten, davon zu reden … also …“

Der Mann legte, mit den Wimpern blinzelnd, den Finger auf den Mund.

„Eine Dame … also doch?!“ rief Herder wie zu Boden geschmettert aus.

„Sollen wir gehen?“ fragte der Burgvogt, sich dem Wege zuwendend, der zum untern Thurmeingang führte.

Die Untersuchung des Thurmes konnte nicht mehr ergeben, als was Herder bereits erfahren. Doch folgte er dem Burgvogt; er bestieg mit ihm die Wendelstiege, die in den alten Bau führte.

Als sie etwa auf halber Höhe waren, bemerkte Herder eine kleine Thür zu seiner Linken.

„Es ist die Thür zur Galerie,“ sagte der Burgvogt.

Herder sah, daß sie unverriegelt war; ein Druck auf das alte Schloß öffnete sie leicht und ohne das geringste Geräusch.

„Auf’s Beste eingeölt!“ murmelte Herder ironisch zwischen den Zähnen, „sie leistet einem Geist nicht den geringsten Widerstand!“

Er schritt durch die Thür über die Galerie bis an das Ende derselben.

Als er hier langsam und leise die Hand auf den Drücker der kleinen Thür legte, die den Eingang in die Entresolzimmer bildete, von denen der Burgvogt geredet, fand er sie verschlossen.

Er ging zurück, in den Thurm hinein, dem voraufsteigenden Führer nach.

Sie kamen in ein kleines, rundes Gemach unmittelbar unter der Plattform des Thurmes, das zu einem Wohnzimmerchen hergerichtet war, zu einem stillen Versteck, welches in der Hochsommerhitze einen sehr gemüthlichen, heimlichen Aufenthalt bilden mochte für Jemand, der mit sich allein zu sein wünschte; der mit Steinplatten belegte Boden, die dicken Mauern, die kleinen Fenster, die ursprünglich Schießscharten waren, hielten es kühl und dämmerig.

„Die hochselige Gräfin hat die Kammer so aufputzen und einige Möbel hineinbringen lassen,“ sagte der Burgvogt, „früher sah’s wüst hier aus, die alten Harnische und Gewaffen aus den Ritterzeiten hatte man auf einen Haufen hier zusammengeworfen.“

Herder hörte schon nicht mehr auf ihn … er schritt zu einem der schmalen Fenster, vor dem ein Tisch stand, neben dem Tische ein Stuhl.

Ein Stück weißen Papiers, das auf dem Boden unter dem Tische lag, hatte seine Aufmerksamkeit erregt, es war ein abgerissener Streifen, wie man sie macht, um sie als Lesezeichen in ein Buch zu legen.

Herder nahm den Streifen auf; als er ihn umwandte, fuhr ein leiser Ausruf über seine Lippen … das Papier war von einem Billet abgerissen, und die einzelnen Worte, welche auf dem Streifen standen, unzusammenhängende, gleichgültige Worte, waren von der Handschrift Carolinens.

Herder war außer sich. Mit zitternder Hand steckte er den Streifen zu sich.

Um seinem Begleiter seine Bewegung zu verbergen, sagte er mit möglichst ruhiger Stimme, auf die Platte des kleinen Tisches deutend, auf die eben sein Auge fiel:

„Da liegen Tropfen von geschmolzenem Wachs. Ganz frisch. Es muß Jemand hier in der Nacht mit einem Licht sich aufgehalten haben!“

„Es ist wahr,“ antwortete der Burgvogt herantretend … „das ist seltsam; bei Licht pflegt hier sonst Keiner von den Herrschaften heraufzukommen …“

„Kommen Sie jetzt nur hinab, ich habe genug gesehen,“ unterbrach ihn Herder und wandte sich der Wendelstiege wieder zu.

„Sie war es wirklich,“ sagte er sich im Niederschreiten im höchsten Zorn und Schmerz, „sie war es wirklich … sie hat da oben gesessen und gelesen, bis das Zeichen zum Beginn der Komödie

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verschiedene: Die Gartenlaube (1866). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1866, Seite 103. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1866)_103.jpg&oldid=- (Version vom 23.2.2020)