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6.

Der Oberförster hatte ungefähr acht Tage nach Ankunft seiner Verwandten ein neues Hausgesetz erlassen, das, wie er sagte, von seinem Minister freudig begrüßt worden war und kraft dessen der Familie Ferber die Verpflichtung auferlegt wurde, allsonntäglich im Forsthause das Mittagsbrod einzunehmen… Das waren Freudentage für Elisabeth.

Lange vor dem ersten Glockenläuten wurde gewöhnlich der Kirchgang angetreten. Im wehenden weißen Kleide, die Seele geschwellt von jener süßen Ahnung der Jugend, als könne ein schöner, heiterer Tag auch nur Glück in sich schließen, schritt Elisabeth den Eltern voraus und freute sich stets auf den Moment, wo der goldene Knopf des Lindhofer Kirchleins tief drunten im Thal aus den grünen Wogen des Waldes aufleuchtete; wenn rechts und links auf dunklen, verschwiegenen Waldwegen die Kirchengänger der verschiedenen Filiale ihnen entgegenschritten und sich mit freundlichem Gruß und Handschlag zu ihnen gesellten, bis sie in zahlreicher Gesellschaft, unter dem Geläute der Glocken, den weiten Wiesenplan vor der Kirche betraten, wo meist der Onkel schon wartete. Er begrüßte sie dann schon von Weitem mit glänzenden Augen und freudigem Hutschwenken. In jeder Bewegung seiner hohen Gestalt, in seiner ganzen Haltung offenbarte sich jene unbeugsame Wahrhaftigkeit, die vor dem Größten nicht zurückschrickt, jener Ausdruck von Manneskraft und Manneswillen, hinter dem wir große Entschlüsse, kühne Thaten, nie aber die zarten Empfindungen eines reichen Gemüths vermuthen. Deshalb meinte auch Elisabeth, es sei unbeschreiblich rührend und ergreifend, wenn ein einzelner, kleiner Stern sein mildstrahlendes Gesichtchen aus dunklen Wolken stecke; genau so aber erscheine ihr der gerade, feste Blick des Onkels, sobald er in einem weichen Gefühl schmelze. Und sie hatte oft genug Gelegenheit, diese Metamorphose zu beobachten; denn sie war sein Augapfel geworden. Er hatte ja nie Kinder gehabt und trug nun alle Vaterzärtlichkeit, deren sein reiches, volles Herz fähig war, auf sein liebliches Bruderskind über, das, wie er deutlich mit großem Stolz fühlte, ihm in vieler Beziehung geistig verwandt war, wenn auch hier alle jene Charakterzüge unter dem Hauch echt holdseliger Weiblichkeit sich verklärten.

Sie vergalt ihm aber auch seine Liebe mit kindlicher Hingebung und zärtlicher Fürsorge. Bald hatte sie alles das, was zu seinem häuslichen Wohlbehagen gehörte, herausgefunden und griff da, wo Sabinens Scharfsinn oder ihre waltende Hand nicht mehr ausreichte, unmerklich und mit so vielem Tact ein, daß die alte, treue Dienerin niemals verletzt wurde, während um den Onkel ein ganz neues, behagliches Leben aufblühte, da Elisabeth auch auf seine kleinen Liebhabereien geschickt einzugehen und ihnen Geschmack abzugewinnen wußte.

Auf dem Heimweg aus der Kirche, der dann gemeinschaftlich angetreten wurde, führte der Onkel Elisabeth gewöhnlich an der Hand, „wie ein kleines Schulmädchen“ sagte sie, und es sah auch genau so aus.

Am fernsten Ende des langen, dunklen Laubganges, denn es war ein sehr schmaler Holzweg, der vom Dorf Lindhof nach der Försterei lief, blinkte wie ein goldener Punkt die helle, sonnenbeglänzte Lichtung, auf deren Mitte das alte Jagdhaus lag. Mit jedem Schritt näher wurde das kleine Bild deutlicher und klarer, bis man unter der Thür die harrende Sabine zu erkennen vermochte, wie sie, den einen Zipfel der weißen Küchenschürze quer aufgesteckt, die Hand schützend über die Augen haltend, nach den Heimkehrenden spähte und bei ihrem Erblicken eiligst in das Haus zurücklief; denn es galt ja, droben unter den Buchen, hinter der dampfenden Suppenterrine in treuer Pflichterfüllung zu stehen, wie der gewissenhafte Festungscommandant auf seinen Wällen.

Heute aber hatte die alte Sabine ein besonders herrliches Mahl hergerichtet; neben der Suppenschüssel leuchtete eine purpurrothe Pyramide, die ersten Walderdbeeren, die der kleine Ernst, aber auch die große Elisabeth mit lautem Jubel begrüßte. Der Oberförster lachte über den Enthusiasmus des großen und des kleinen Kindes und meinte, er dürfe doch nicht hinter Sabine und ihrer Extra-Ueberraschung zurückbleiben; er wolle deshalb den Braunen einspannen und Elisabeth, wie längst versprochen, nach L. fahren, wo er ohnehin Geschäfte abzumachen habe. Der Vorschlag wurde von dem jungen Mädchen mit heller Lust aufgenommen.

Bei Tische erzählte Elisabeth vom gestrigen Abend. Der Onkel wollte sich ausschütten vor Lachen.

„Courage hat der Doctor freilich gezeigt,“ rief er lachend, „aber was hilft’s ihm, es war doch die letzte Tasse Thee, die er gestern in Lindhof getrunken hat.“

„Unmöglich, Onkel, es wäre empörend!“ rief Elisabeth, „das kann und wird Fräulein von Walde nicht zugeben, sie wird sich aus allen Kräften widersetzen.“

„Nun,“ sagte er, „ich wünschte nur, wir könnten auf der Stelle das Fräulein um ihre heutigen Gesinnungen gegen den Doctor befragen, da solltest Du Dein blaues Wunder sehen… Wie sollte auch in solch einem gebrechlichen Gehäuse eine starke Seele stecken; mit der wird das herrschsüchtige Weib bald fertig, und jeder andere Zügel fehlt, denn ‚der Himmel ist hoch und der Czar ist weit‘, sagen die Russen… Gelt’, Sabine, wir haben schon gar verwunderliche Dinge erlebt, seit die Frau Baronin das Regiment führt?“

„Ach, ja wohl, Herr Oberförster,“ entgegnete die Alte, die eben ein neues Gericht auf den Tisch setzte, „wenn ich nur an die arme Schneider denke… Das ist eine Taglöhnerswittwe aus Dorf Lindhof,“ wandte sie sich an die Anderen, „sie hat immer rechtschaffen gearbeitet, um sich durchzubringen, und hat ihr auch Niemand was Unrechtes nachsagen können; aber sie muß vier kleine Kinder ernähren, das arme Weib, und lebt nur von der Hand in den Mund… Und da ist’s ihr einmal im vorigen Herbst recht schlecht gegangen; sie hat nicht gewußt, wie sie die Kinder satt machen soll, nu, und da hat sie sich etwas zu Schulden kommen lassen, was freilich nicht recht war, sie hat von einem herrschaftlichen Acker eine Schürze voll Kartoffeln mitgenommen. Der Verwalter Linke aber hat hinter einem Busch gestanden; das sehen, vorspringen und auf die Frau losschlagen ist Eins gewesen. Ja, wenn er’s bei einem kleinen Denkzettel hätte bewenden lassen, da wollte ich nichts sagen; aber er hat gar nicht wieder aufgehört und hat sie sogar wüthend mit dem Fuße getreten… Ich hatte dazumal gerade etwas in Lindhof zu besorgen, und wie ich da unter den Kirschbäumen beim Dorfe hingehe, sehe ich einen Menschen an der Erde liegen, es war die Schneider; sie hatte ein erschreckliches Blutbrechen, konnte kein Glied mehr rühren, und keine Menschenseele war bei ihr. Da hab’ ich Leute gerufen, und die haben mir geholfen, sie nach Hause zu bringen. Der Herr Oberförster war zwar damals verreist, aber ich habe mir gedacht, er würde mir’s auch nicht verwehren, wenn er da wäre, und habe das arme Weib verpflegt, so viel in meinen Kräften stand… Die Leute im Dorfe waren wüthend über den Verwalter, aber was konnten sie denn machen? Es wurde zwar gesagt, die Sache käme vor Gericht; ja, da kann man warten… Der Linke ist einer von den Frommen; er ist die rechte Hand bei der Frau Baronin, verdreht die Augen und thut Alles im Namen des Herrn. Es durfte doch um keinen Preis unter die Leute kommen, daß so ein Frommer mitunter auch recht unmenschlich sein könne, und da ist die Frau Baronin alle Tage in die Stadt gefahren und hat sich sehr herabgelassen; kurz und gut, die Geschichte ist vertuscht worden, und die Schneider, die noch immer nicht ordentlich fort kann, hat ihre Schmerzen leiden müssen, und ist ihr und ihren Kindern weder ein Trunk, noch ein Bissen Brod vom Schlosse aus gereicht worden während ihrer schweren Krankheit… Ja, der Verwalter und die alte Kammerjungfer bei der Baronin, die treiben’s arg in Lindhof. Die sitzen in der Bibelstunde und in der Schloßkirche und schnüffeln und merken sich fleißig, wer fehlt, und das hat schon manchen ordentlichen Menschen um die Arbeit im Schlosse gebracht.“

„Na, jetzt wollen wir uns aber nicht weiter ärgern,“ sagte der Oberförster. „Mir wird jeder Bissen im Mund bitter, wenn ich an diese Geschichten denke, und unser schöner Sonntag, auf den ich mich die ganze Woche freue, soll keinen anderen Schatten haben, als den sich die schuldlosen, weißen Wölkchen da droben erlauben.“

(Fortsetzung folgt.)



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