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verschiedene: Die Gartenlaube (1866)

daß diese sich genöthigt sah, weiter zu rücken, denn es hatte nicht den Anschein, als ob die kleine Vandalin selbst oder ein Verbot der Mama dem Amüsement so bald ein Ende machen würde.

Elisabeth hatte eben nur so viel Zeit gehabt, zu retiriren und auf die wiederholte Frage der Baronin zu antworten, daß sie sich in Thüringen bereits vollkommen heimisch und sehr glücklich fühle, als die Dame sich ziemlich rasch aus ihrer liegenden Stellung emporrichtete und mit einem verbindlichen Lächeln auf den Lippen nach einer Tapetenthür winkte, die sich seitwärts geräuschlos aufthat. Auf ihrer Schwelle erschienen die zwei jungen Leute, die Elisabeth neulich durch das Fernrohr beobachtet hatte; aber wie ganz anders und seltsam sahen sie jetzt nebeneinander aus! Herr von Hollfeld, eine fast übergroße, schlanke Gestalt, mußte sich tief auf die Seite neigen, um der kleinen Hand eine Stütze sein zu können, die auf seinem Arm lag. Jenes sylphenartige Wesen, das damals auf dem Ruhebett gelegen, war eine gänzlich verschobene Kindergestalt. Der auch in diesem Augenblick vollendet schöne Kopf steckte tief zwischen den Schultern, und die Krücke in der rechten Hand zeigte, daß auch in den Füßen ein Mißverhältniß sein müsse.

„Verzeihe, theure Helene,“ rief die Baronin der Eintretenden entgegen, „daß ich Dich herüber bemühen mußte; allein, Du siehst, ich bin wieder einmal der arme, geplagte Lazarus, an dem Du Deine Engelsgüte ja stets übst. … Fräulein Ferber,“ deutete sie vorstellend auf das junge Mädchen, das sich erröthend erhob, „hat die Freundlichkeit gehabt, auf mein gestriges Billet selbst zu kommen.“

„Und dafür bin ich Ihnen von Herzen dankbar!“ wandte sich die junge Dame mit einem liebreizenden Lächeln an Elisabeth und reichte ihr die Hand. Ihr Auge glitt dabei wie im bewundernden Erstaunen über die Erscheinung des jungen Mädchens und blieb dann an den blonden Flechten haften, die unter dem Hut hervorquollen. „Ach ja,“ sagte sie, „Ihr schönes Goldhaar habe ich schon gesehen und zwar gestern auf einem Spaziergang durch den Wald – Sie bogen sich über eine Mauer droben im alten Schlosse.“

Elisabeth erröthete noch tiefer.

„Aber eben weil Sie dort waren,“ fuhr die junge Dame fort, „kam ich um den Genuß, um dessen willen ich eigentlich die Anhöhe hinaufgeklettert war – lediglich um Sie noch einmal, wie am Abend zuvor, spielen zu hören. … So jung und kindlich und ein so tiefes Verständniß der classischen Musik, wie ist das möglich! … Sie werden mich sehr glücklich machen, wenn Sie öfter mit mir spielen wollen.“

Es glitt etwas wie Mißbilligung über das Gesicht der Baronin, und einem feinen Beobachter wäre auch wahrscheinlicherweise das leise, spöttische Lächeln in den Mundwinkeln nicht entgangen; für Elisabeth aber war es vollständig verloren, denn ihr ganzes Interesse wandte sich der unglücklichen jungen Dame zu, deren weiche Silberstimme unmittelbar aus dem Herzen zu quellen schien.

Herr von Hollfeld hatte unterdeß einen Fauteuil für Fräulein von Walde an das Ruhebett gerückt; dann empfahl er sich, ohne ein Wort gesprochen zu haben. Weil er aber durch die Thür das Zimmer verließ, die Elisabeth gerade gegenüberlag, so konnte ihr nicht entgehen, daß sein letzter, langer Blick auf ihr ruhte, ehe er die Thür langsam schloß. Sie erschrak förmlich darüber, denn die Art und Weise, wie er sie angesehen, war zu eigenthümlich gewesen, so daß sie im Stillen ihren Anzug prüfte, ob er wohl am Ende gar zu auffallend sei.

Fräulein von Walde unterbrach diese Musterung mit der Frage, welchem Lehrer Elisabeth ihr vollendetes Spiel verdanke, worauf Letztere erzählte, daß die Mutter sie ganz allein ausgebildet, wie überhaupt die Eltern sie in Allem, was sie habe lernen müssen, selbst unterrichtet hätten.

Während dieser Mittheilung, welche die junge Dame sehr zu interessiren schien, hatte sich Bella auf den Teppich gekauert und spielte mit dem Hunde. Es würde ein allerliebstes Bild gewesen sein, hätten nicht das Gewinsel und die heftigen Bewegungen des kleinen Thieres bewiesen, daß es gequält werde. Nach jedem lauteren Schrei des Hundes, bei dem Fräulein von Walde stets erschreckt zusammenfuhr, rief die Baronin wie mechanisch: „Laß doch die Possen, Bella!“ Endlich aber, als das Thier in ein schmerzliches Geheul ausbrach, hob sie drohend den Finger gegen die kleine Unartige und sagte: „Ich werde Miß Mertens rufen müssen.“

„Ach,“ entgegnete die Kleine geringschätzend, „die darf sich doch nicht unterstehen, mich zu strafen; Du hast es ihr ja selbst streng verboten.“

In dem Augenblick wurde die Tapetenthür leise aufgemacht und ein blasses, älteres Frauenzimmer trat ein. Indem sie sich demüthig vor den Damen verbeugte, sagte sie schüchtern:

„Der Herr Candidat wartet auf Bella.“

„Ich will heute aber keine Stunde!“ rief die Kleine, während sie ein Wollknäul vom Tisch nahm und dasselbe nach der Eingetretenen warf.

„Ja, mein Kind, das muß sein,“ sagte die Baronin. „Gehe mit Miß Mertens, sei hübsch artig, Bella.“

Bella setzte sich, als ginge sie die Sache so wenig an, als den hinter das Sopha geflüchteten Ali, in einen Fauteuil und zog die Füße in die Höhe. Die Gouvernante schien sich ihr nähern zu wollen, aber ein zorniger Blick der Baronin wies sie an die Thür zurück.

Wahrscheinlicherweise würde diese widerwärtige Scene noch lange gespielt haben, hätte nicht die Baronin Hülfstruppen in Gestalt von Bonbons aufmarschiren lassen. Die Kleine verließ, nachdem sie Mund und Taschen vollgestopft hatte, ihren Sitz, und während sie die Hand der Gouvernante, die sie führen wollte, zurückstieß, lief sie hinaus.

Elisabeth saß starr vor Erstaunen. Auch die sanften Züge des Fräulein von Walde drückten unverkennbar Mißbilligung aus, aber sie sagte kein Wort.

Die Baronin sank in die Kissen zurück. „Diese Gouvernanten rauben mir Jahre vom Leben!“ seufzte sie. „Ob diese Miß Mertens nur einmal lernen wird, Bella zu behandeln, wie es dies erregbare Kind mit seinen empfindlichen Nerven verlangt! .… Da wird keine Rücksicht auf Lebensstellung, Temperament und Körperconstitution genommen. Alles kommt unter eine Schablone, gleichviel, ob Krämer- oder Pairstochter, ob zart besaitete Wesen oder robuste Tagelöhnernaturen. … Miß Mertens ist ein widerwärtiger, pedantischer Schulmeister. Dabei ist ihr Englisch abscheulich; Gott weiß, aus welchem Winkel Englands sie stammen mag!“

„Aber das kann ich durchaus nicht finden, liebe Amalie,“ sagte Fräulein von Walde, ihre Stimme hatte dabei etwas unendlich Begütigendes.

„Ach ja, das sagst Du nun wieder in Deiner Engelsgüte; aber obgleich ich selbst nicht Englisch verstehe, so höre ich doch auf der Stelle, wenn Du, liebes Herz, mit ihr sprichst, wie ungleich eleganter Deine Aussprache ist.“

Elisabeth bezweifelte innerlich die Competenz dieses Urtheils, und Fräulein von Walde machte eine abwehrende Bewegung mit der Hand, wobei sie leicht erröthete. Die Baronin aber fuhr unbehindert fort: „Bella scheint dies auch recht gut zu fühlen. Sie schweigt hartnäckig, wenn ihre Gouvernante sie englisch anredet; ich verdenke es ihr keinen Augenblick, muß mich aber immer unbeschreiblich ärgern, wenn diese Person auch noch behauptet, es sei Eigensinn und Bosheit von dem Kinde.“

Die anfänglich so schwache und angegriffene Stimme der Baronin war unter dem Erguß des Verdrusses merkwürdig kräftig geworden. Sie schien dies plötzlich selbst inne zu werden und schloß ermüdet die Augen. „O mein Gott,“ seufzte sie, „da spielen mir nun wieder einmal meine unglücklichen Nerven übel mit… Ich werde heftig, wo ich langmüthig sein sollte; diese Verdrießlichkeiten sind doch wahres Gift für Leib und Seele.“

„Ich würde Dir rathen, zu Zeiten, wo Du so angegriffen bist, wie heute, Bella unter der Obhut des Herrn Möhring und der Miß Mertens getrost zu lassen. Ich bin überzeugt, daß sie da ganz gut aufgehoben ist. … Wenn ich auch Deine rührende Angst und Sorge um das Kind vollkommen begreife, so muß ich doch zu Deiner Beruhigung sagen, daß Miß Mertens viel zu sanft und gebildet ist, um irgend etwas zu thun, was nicht zum Heil der Kleinen wäre. … Du siehst ganz erschöpft aus,“ fügte sie theilnehmend hinzu. „Es wird gut sein, wenn ich Dich jetzt allein lasse. Fräulein Ferber wird gewiß die Güte haben, mich bis an mein Zimmer zu führen.“

Damit erhob sie sich, bog sich über die Baronin und hauchte einen Kuß auf deren Wange. Dann legte sie ihre Hand auf Elisabeth’s Arm, die von der Baronin mittels einer sehr gnädig aussehenden Handbewegung verabschiedet wurde, und verließ das Zimmer.

(Fortsetzung folgt.)
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verschiedene: Die Gartenlaube (1866). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1866, Seite 52. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1866)_052.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)