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Hand zur Ader lassen und bei dem Leiden eines Menschen oder Thieres bis zur Ohnmacht gereizt werden. Sie war mit Scharfsinn begabt und wurde doch bei jeder Gelegenheit, oft sogar von den dümmsten Menschen, betrogen. Sie war klar, praktisch, streng solid in der Führung ihres Hauswesens, in der Erziehung ihrer Kinder und verschenkte mit unendlichem Leichtsinn oft das Nothwendigste an Arme und Leidende. Selig in der Natur, auf dem Lande, Tage lang durch Wiesen und Wälder schweifend saß sie wieder Wochen lang wie eingesperrt auf ihrem Zimmer. Sie floh die großen Gesellschaften, war am glücklichsten im engen Kreise Vertrauter Freunde und doch unglücklich bis zum Extrem, wenn sie eine Zeit lang nicht gefeiert wurde, nicht der Mittelpunkt großen, bewegten Lebens und ohne bedeutsame Bühnenbeschäftigung war.

Dieses seltsame Gemisch bildete das eigentliche Wesen unserer Sophie, und wir können uns daraus leicht erklären, daß sie für Swedenborg schwärmte, ihn mit vielem Geist gleichnißweise erklärte und selbst das System einer nach ihm hingehenden Seelen ausarbeiten wollte. Ihr Organ war von einer wunderbaren Melodie und Fülle; oft aber mißbrauchte sie es gewaltsam und es bekam nach und nach etwas Herbes und, wir möchten sagen, Trotziges. Ihr Körper war klein, der Wuchs außerordentlich schlank, die Taille zum Umspannen fein; dennoch wußte sie durch richtige und schöne Haltung ihrer ganzen Person den Ausdruck einer ziemlich imponirenden Mittelstatur zu geben. Ihr Kopf war eher rund als länglich, das Haar sehr schön, lang, blond und seidenweich; die Stirn ziemlich hoch und vorgebaut; die Augen herrlich blau, mit eigenthümlich erfassender, fast tragischer Schwärmerei. Die Nase nicht schön, aber geistreich geformt, der Mund etwas aufgeworfen, doch mit kühnem Trotz; das Gesicht blaß, hager, doch innerlich lebhaft bewegt; das Ganze keine graziöse Schönheit, aber frappant, fesselnd mit jedem Interesse der Intelligenz – das war die Erscheinung von Sophie Albrecht, der Freundin Schiller’s, der sie mit folgenden Worten charakterisirt: „Ein Herz, ganz zur Theilnahme geschaffen, über den Kleinigkeitsgeist der gewöhnlichen Cirkel, voll edeln und reinen Gefühles und selbst da noch verehrenswerth, wo man ihr Geschlecht sonst nicht findet, und dabei eine gefühlvolle Dichterin!“

Arnold Schloenbach.




Die Mutter Gottes.
Ein Beitrag zur geheimen Geschichte der französischen Revolution.
II.


Es war am 9. Juni 1794. Tags vorher hatte Robespierre unter ungeheurem Zusammenströmen des Volkes das Fest der „Wiedereinsetzung des höchsten Wesens“ gefeiert. Die exaltirten Mitglieder der Ausschüsse knirschten vor Wuth, sie sahen das Fest als eine Frucht der geheimen Verbindung an, sie erblickten sich einen Schritt näher dem Abgrunde. Die Stunde drängte. Vadier gab das Zeichen.

Ein furchtbares Ungewitter entlud sich über Paris. Unbekümmert um das Tosen der Elemente, schritt bei hereinbrechender Nacht ein Mann, in eine Carmagnole gekleidet, grobe Schuhe an den Füßen, das triefende Haar mit einer Wollkappe bedeckt, die Straße Fouroy entlang. Er bog in die Straße Contrescarpe, einen der ödesten, verwahrlosesten Winkel von Paris, ein und machte vor einem Hause Halt. Durch die zerborstenen Fensterladen des Erdgeschosses drangen matter Lichtschein und ekelhafter Tabaksgeruch auf die Gasse. Der nächtliche Wanderer öffnete die Thür und verschwand im Hausflur. Nach einiger Zeit kam er wieder zum Vorschein in Begleitung von zwölf bis vierzehn Männern. Im strömenden Regen wanderten Alle schweigend durch die Gasse, aber wer sie beobachtet hätte, der mußte bemerken, wie die Zahl immer geringer ward, denn in der Nähe des Hauses Nr. 4 angelangt, schlüpften Einige in die Kellervorsprünge, Andere verbargen sich in dem Flur einer alten Baracke; zuletzt war der Mann mit einem Genossen allein. Beide schritten auf die Thür des Hauses Nr. 4 zu. Der zuletzt Gebliebene hob den Klopfer. Plötzlich wandte er sich um und fragte den Begleiter: „Sie haben doch Pistolen?“

Der Gefragte bejahte.

„Es ist nasse Luft, Bürger Sénart, sehen Sie das Zündkraut nach. Ein Schuß, der versagt, kann Sie verderben.“

Sénart trat unter den Thorbogen und zog seine Pistolen. Er schlug die Pfanne zurück und prüfte das Pulver mit der Oberlippe. „Es ist Alles in Ordnung.“

„So gehen wir.“

Der Thürklopfer wurde gerührt und bald öffnete sich die Pforte kreischend in den rostigen Angeln sich drehend.

Eine finstere Halle nahm die Eintretenden auf hinter welchen sich das Thor wieder schloß.

„Wer ist da?“ fragte eine heisere Stimme.

„Ein Bruder,“ entgegnet Sénart’s Begleiter.

„Deine Hand,“ sagte die Stimme.

Es erfolgte eine Pause; offenbar suchten die beiden Brüder durch irgend ein Zeichen, einen Druck sich als Eingeweihte einander kenntlich zu machen.

„Willkommen,“ sagte die Stimme, „Dein Name, mein Bruder?“

„Briot der Psalmist. Ich bringe einen Neuen.“

„Geht die Hintertreppe hinauf. Du weißt den Weg, Bruder. Ich werde Dich melden.“

Sénart ward dann durch das Dunkel zu einer gebrechlichen Treppe geleitet, die statt des Geländers mit Stricken versehen war. Verschiedene Male stolperten Beide, bevor sie endlich, mitten in dichter Finsterniß, auf einem Absatze stehen blieben.

„Hier ist es, Bürger Sénart. Nehmen Sie sich zusammen. Zeigen Sie nicht die geringste Bewegung, bevor der entscheidende Augenblick da ist, sonst kann ich für nichts stehen.“

Sénart war ein Mitglied jener entsetzlichen Polizei des Wohlfahrts-Ausschusses, deren Beamte das furchtbare Geschäft betrieben, Opfer für die Guillotine aufzuspüren. Er sollte heut den Schlag gegen die Kinder der „Mutter Gottes“ führen und mit Briot’s, des Verräthers, Hülfe sich in den Club einführen lassen. Rings um das stille, düstere Haus lauerten die Schergen Sénart’s, bereit, auf das Zeichen des Agenten herbeizustürzen. Auf die Warnung des falschen Bruders antwortete der Polizist nicht, er war mit Schrecken und Entsetzen zu vertraut, um irgend eine Bewegung zu zeigen. Nur seinen Pistolengürtel schnallte er loser, knöpfte die Carmagnole bis an den Hals zu, untersuchte seine Tasche, in welcher der vom Wohlfahrtsausschusse verfügte, mit Barrère’s und Vadier’s Namen unterzeichnete Verhaftsbefehl steckte, und sagte dann kaltblütig: „Klopfe.“

Briot that es.

Greller Lichtschein blendete die Beiden. Er kam aus einem Vorzimmer, dessen Thür auf die Treppe hinausging und plötzlich geöffnet ward. Der Armleuchter mit sieben Kerzen wurde von einem Manne gehalten, der, in ein schneeweißes Gewand gehüllt, auf der Schwelle des Gemaches stand. Sénart sah, wie Briot und der Weiße sich Zeichen gaben, die in einem Ziehen der Hand in Kreuzesform bestanden. „Tretet ein,“ sagte der Weiße. Man ging durch zwei leere Zimmer in einen langen, öden Raum, der nichts Anderes, als ein großer Hausboden sein konnte. Rings umher standen gepolsterte Sitze. An der Hauptwand bemerkte der Agent drei Stühle. Der höchste, in der Mitte stehende war weiß, der rechts roth, der links blau überzogen. Briot gab seinem Begleiter einen Wink, in die Ecke zu treten. Der große Raum war durch sieben Kerzen, die auf einem eisernen Deckenleuchter brannten, nothdürftig erhellt. Eine Glocke tönte. Es trat eine Frau in den Saal und rief mit lauter Stimme: „Ihr Kinder Gottes, rüstet Euch, die Mutter zu empfangen.“

„Dies ist die ‚Verkünderin‘“ flüsterte Briot Sénart zu.

In demselben Augenblicke traten durch zwei Thüren eine Menge Menschen, Frauen, Männer, Jungfrauen, Greise in den Saal. Sénart’s Hals verlängerte sich, er musterte die Menge,

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verschiedene: Die Gartenlaube (1866). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1866, Seite 26. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1866)_026.jpg&oldid=- (Version vom 23.2.2020)