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verschiedene: Die Gartenlaube (1866)

Dichters Brust bewegt, innig mitempfinden und sein Leben im vollen Sinne theilen zu können.“

Treten wir aus dem Wohnzimmer gegen die andere Seite des Hauses, da ist das im Schweizerstil gebaute, getäfelte Speisezimmer mit der Aussicht auf den Garten, den alten sogenannten Geisterthurm und die Weibertreu. Noch steht der schwere eichene Eßtisch in der Mitte. Wie Viele, die mit Justinus fröhlich um ihn saßen, Mathison, Tieck, Schwab, Uhland, W. Müller, Alexander von Würtemberg, Lenau, Varnhagen, Rahel, Schelling, Schubert, Görres, deckt jetzt das Grab, wenn auch nicht die Vergessenheit! Was könnte der Tisch erzählen von Ernst und Scherz, Freude und Leid! Wie sprudelte der Humor, wenn nach dem Nachtessen der weingefüllte Pocal und die Uhlandskappe – eine Sommermütze, die einst Uhland auf der Durchreise zurückgelassen hatte – herumging und Jeder von ihr begeistert einen Vers improvisiren mußte! Und wie geisterhaft still wurde es, wenn Kerner die Lichter löschte und die überirdischen Töne der Maultrommel durch’s Zimmer schwebten, während zwischen Weibertreu und Thurm der Mond hereinschien und von fern die Eule krächzte! Da saß auch der letzte Generalissimus der Polen Rybinski – noch hängt in jenem erinnerungsreichen, von Kerner besonders geliebten Alexandershäuschen drüben, wo er eine Woche wohnte, ein Lorbeerkranz mit den polnischen Bändern, den ihm eine Deputation überreichte, er aber als Besiegter ablehnte – im Winter 1832 mit neun flüchtigen Polen beim Nachtessen; sie waren von verschiedenen Regimentern und hier zusammengekommen, wie sie gerade das Schicksal zusammengewürfelt hatte. Ein lebhafter politischer Streit, in polnischer Sprache unter denselben geführt, nahm eine immer drohendere Haltung an, schon fiel das Wort „Verräther“; da erhob sich rasch Rybinski und sprach mit bewegter Stimme: „Ich bin ein Flüchtling wie ihr und habe euch nichts mehr zu befehlen, doch heute sollt ihr noch einmal mich im Unglück ehren und so befehle ich euch als euer General: Keiner spricht heute mehr ein Wort!“ Wie wurde es jetzt so still am Tisch! Kerner spielte die Maultrommel und mehr als Einem glänzte eine Thräne im Auge, sie dachten wohl an ihre ferne Heimath und an die Wanderung in’s fremde Land.

Hier saß auch auf ihrer Pilgerschaft durch die Welt Therese Milanollo mit ihren Eltern. „Nein, Sie dürfen nicht spielen,“ sagte Kerner, als sie die Violine ergreifen wollte, „bei mir sollen Sie nur Ihre armen Nerven ausruhen!“ Freundlich dankte ihm das müde Kind.

„Wo soll man heute essen?“ fragte jeden Mittag und Abend das Riekele, die Fee Tischleindeckdich, wie sie wegen ihrer Rührigkeit und Gastfreiheit Brentano nannte, ihren Justinus. „Im Zimmer? auf dem Thurme? im Garten? und wo in diesem? unter der Rebenlaube oder dem Apfelbaum oder dem Nußbaum?“

Das war eine Frage, die nicht so leicht abzumachen war, denn der Gedankengang war bei jedem Ort unwillkürlich ein anderer. Unter dem Rebgang, unter dem Apfelbaum, wo der Storch gravitätisch heranschreitend seinen Antheil am Mahl forderte und der Rabe stahl, was es zu stehlen gab, war die Stimmung eine heitere, idyllische; auf dem Thurme oben mit der Aussicht auf die Weibertreu, Löwenstein, das Grab der Seherin, den nahen Rappenhof, wo die Frau von Krüdener einst residirte, gab all das, was nah und fern der Blick streifte, den Gesprächsstoff; unter dem alten, riesigen Nußbaume aber, der sich an die epheuumwachsene Mauer und den grauen Thurm anlehnt, wurde einem legendenartig zu Muthe, war die Stimmung eine ernste, romantische. Hier war ein Tag, wo durch einen glücklichen Zufall die Dichter Schwabens, Uhland, Gustav Schwab, Carl Mayer, Graf Alexander von Würtemberg und mit ihnen Lenau und Varnhagen unter diesem Baume bei Kerner versammelt saßen. Das war eine heilige, weihevolle Stunde! Wie rauschte es da von alten Volksliedern und neuen Gedichten, von Legenden und Märchen! Uhland erzählte, wie er einst mit Kerner den Schwarzwald durchwanderte; unter einer Eiche fanden sie einen Hirtenknaben eingeschlafen. Leise steckte ihm Uhland ein blankes Guldenstück in die Hand, Justinus aber legte ihm eine lange Fingerhutpflanze mit dunkelrothen Blüthen in den Arm und unhörbar eilten sie weiter in der seligen Hoffnung, der Hirtenknabe werde beim Erwachen glauben, eine Fee habe ihn besucht und ihn zu ihrem Dienste auserkoren.

Lenau, in seinem polnischen Röckchen, mit den schwarzen Augen und Haaren und der gelben Gesichtsfarbe selbst an einen Zigeuner mahnend, sprach von den Zigeunern Ungarns und spielte einige ihrer Weisen.

„Mein Alexander, warum so still heute?“ rief Justinus. „Du warst ja auch in Ungarn, erzähle Etwas von den Räubern dort oder von Corsica!“

Wehmüthig schüttelte Alexander das Haupt: „Ich will Dir heute lieber etwas Anderes sagen:

‚Mein Leben gleicht dem alten Thurme,
Verwittert blickt er in die Welt,
Wohl trotzet er noch manchem Sturme,
Bis er in sich zusammenfällt,
Doch sind die Glocken drin zersprungen,
Ein Blitzstrahl traf mir das Gemüth,
Die heitern Lieder sind verklungen,
Nur eine düstre Flamme glüht
Die Phantasie auf dem Altare
Der Dichtkunst noch und wirft ihr Licht
Auf eine stille Todtenbahre,
Bis daß der Leib zusammenbricht.‘

War es eine Ahnung? Der liebe, schöne Alexander, von dem Justinus sagte: „Jeder Muskel ist bei ihm ein Herz!“ war von denen, die damals unter dem Nußbaum beisammensaßen, der Erste, der sterben mußte.

Der Nußbaum selbst hat auch sein Geschichtchen. Im Herbste 1844 ertönte – man wollte gerade zu Bette gehen – vom Garten her zuerst dumpf, dann immer lauter der Ruf: „Hülfe! Hülfe!“ Er kam offenbar vom Nußbaum her und aus den höchsten Aesten. Am Stamm lehnte, wie man bei Laternenschein entdeckte, ein Stock und Ränzchen, eine Stimme von oben aber rief flehentlich: „Ich bitte, mir zu leuchten, daß ich herabsteigen kann.“ Man kletterte mit der Laterne entgegen, und langsam stieg ein blutjunges Studentchen herunter und folgte in größter Verlegenheit in’s Haus, wo es von Kerner freundlich begrüßt wurde. „Ich bin aus Kiel, komme von Heidelberg,“ sagte er. „Ich war auf der Weibertreu, schon im Hinaufgehen schaute ich immer am Haus herauf, hätte Sie gar gern gesehen, hatte aber doch nicht den Muth, Sie zu besuchen. Im Heimweg dachte ich, ich wolle mir wenigstens als Andenken ein paar Nüsse von Ihrem hohen Nußbaume mitnehmen, und kletterte hinauf, hoffte auch, vielleicht vom Baume aus ins Zimmer sehen zu können, unterdessen wurde es aber plötzlich so Nacht, ich sah die Aeste nimmer und konnte nimmer herabsteigen.“

„Das ist brav von meinem alten Nußbaum, daß er Sie nicht herabgelassen hat,“ sagte Justinus, „sonst hätte ich ja jetzt nicht die Freude, Sie bei mir zu sehen; seien Sie mir herzlichst willkommen!“

Die Rasenbank an der Rosenhecke drüben weiß auch Etwas. Da war einst an einem schwülen Nachmittage Gustav Schwab bei einem Buche eingeschlafen; die Andern hielten bald da, bald dort ihre Siesta. Ein frommer Herr vom Rauhen Hause kam zum Besuch, es war auch einer von denen, die glaubten, in diesem Hause müsse ihnen jeder Schritt etwas Sonderbares zeigen. Theobald führte ihn durch den Garten. „Dort schläft Einer,“ sagte der Fremde, „was ist’s mit dem?“

„Das ist ein Somnambuler,“ sagte Theobald, „gehen Sie leise hin und legen Sie ihm die rechte Hand auf die Herzgrube, dann wird er sprechen.“

Voll Freude, so schnell in die Wunderwelt des Magnetismus eingeführt zu werden, schlich der Herr hinzu, doch als er eben seine Hand unter die Weste Schwab’s steckte, fuhr dieser vom Schlaf auf, glaubte nicht anders, als es stehe ein Taschendieb vor ihm, packte ihn am Arm und rief: „Zum Teufel auch, wer sind Sie? was wollen Sie?“ Es gab eine drollige Scene, über die nachher viel gelacht wurde; Kerner sagte: „Mein Theobald hatte eigentlich nicht so ganz Unrecht, jeder Dichter ist ja ein Seher und mehr oder minder somnambul.“

Aber im Juni 1846 da ging es auch lebhaft im Garten zu; es war das große Turnfest in Heilbronn. Die Turner zogen nach Weinsberg und brachten Kerner ein Ständchen; er lud sie in seinen Garten, und einer, Metternich von Köln (er starb in Amerika), hob Kerner mit Riesenstärke in die Höhe und rief: „Damit Ihr ihn Alle sehet!“ Kerner ließ es lächelnd geschehen, doch während sie nachher sangen: „Wo Muth und Kraft“[WS 1] schlich er sich leise davon, holte das Bild Lenau’s und sprach: „Höret die Worte

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verschiedene: Die Gartenlaube (1866). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1866, Seite 7. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1866)_007.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)