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verschiedene: Die Gartenlaube (1866)

Herr Wolf von Gnadewitz war auch prachtliebend, wie sein Großvater, der das alte Schloß Gnadeck auf dem Berge in Thüringen, die Wiege seines Geschlechts, verließ, um sich drunten im Thal einen wahren Feensitz im italienischen Geschmack aufzubauen. Sein Enkel ließ das alte Haus droben noch mehr verfallen und erweiterte und verschönerte das neue Schloß um ein Beträchtliches. Herr Wolf von Gnadewitz hatte zwar einen Sohn, der schon mit zwanzig Jahren ein so vollendeter Gnadewitz war, daß selbst das glänzende Bild des Ahnherrn mit dem Rade vor ihm erbleichen mußte. Aber der junge Herr hatte eines Tages, bei Gelegenheit der ersten, großen Jagd im Herbst, einem Treiber mit der Hetzpeitsche einen furchtbaren Schlag über den Kopf versetzt, und zwar mit vollstem Rechte, wie alle eingeladenen Theilnehmer an der Jagd einmüthig versicherten, denn der Tölpel hatte den Lieblingshund des Herrn dermaßen auf die Pfote getreten, daß das Thier für den ganzen Tag untauglich geworden war. Und so kam es, daß kurze Zeit darauf Hans von Gnadewitz nicht allein auf dem Stammbaum in der großen Halle des neuen Schlosses, sondern auch wirklich und leibhaftig an einem Eichbaum des Waldes, und zwar mit einem Strick um den Hals, gefunden wurde. Der geschlagene Treiber büßte zwar, wenn auch nicht auf dem Rade, so doch unter dem Beil, diese Frevelthat; allein das machte den letzten der Gnadewitze nicht wieder lebendig, denn er war todt, unwiderruflich todt, wie die Aerzte versicherten, und so hatte das lange Lied von Raubritterthum, Trinkgelagen, Hetzjagden und Pferderennen ausgeklungen.

Nach dieser schrecklichen Katastrophe verließ Herr Wolf von Gnadewitz sofort das Schloß im Thal, wie überhaupt diese Gegend und zog nach Schlesien auf eines seiner vielen Güter. Er nahm eine entfernte Verwandte, die Letzte einer Seitenlinie seines Geschlechts, in sein Haus, damit sie ihn pflegen solle. Es zeigte sich aber, daß diese Verwandte ein engelschönes, junges Mädchen war, bei dessen Anblick der alte Herr den eigentlichen Zweck ihres Kommens rein vergaß und schließlich meinte, sein sechszigjähriger Rücken sei noch gerade genug, um in den Hochzeitsfrack schlüpfen zu können. Zu seiner tiefsten Indignation jedoch mußte er erfahren, daß auch eine Zeit kommen könne, wo selbst ein Gnadewitz nicht mehr begehrenswerth erscheine, und wüthend wurde er, als das Mädchen ihm gestand, daß sie, ihre hohe Abkunft schnöde vergessend, ihr Herz einem jungen, bürgerlichen Officier, dem Sohn eines seiner Förster, geschenkt habe.

Der junge Mann besaß Nichts als seinen Degen und seine männlich schöne Gestalt, aber er hatte sich eine tüchtige, wissenschaftliche Bildung angeeignet, war liebenswürdig im Umgang und von ausgezeichnetem Charakter. Als Herr von Gnadewitz die schöne Marie infolge ihrer Erklärung verstieß, da führte sie der junge Ferber glückselig als Gattin heim, und hätte in den ersten zehn Jahren seiner Ehe mit keinem König tauschen mögen. Im elften würde ihn zwar ein solches Gelüst noch viel weniger angefochten haben; denn das war das Jahr 1848 – aber es brachte auch für ihn schwere Kämpfe und einen völligen Umschwung seiner Verhältnisse… Er kam in den kritischen Fall, zwischen zwei Pflichten wählen zu sollen. Die eine, die ihm sein Vater schon an der Wiege vorgesungen, hieß: „Du sollst Deinen Nächsten lieben als Dich selbst, vor Allem aber Deine deutschen Brüder“, die andere dagegen, die er sich, wenn auch viel später, selbst auferlegt, gebot ihm, das Schwert für das Interesse seines Herrn zu führen. In diesem Conflict nun siegte jenes Wiegenlied, das kräftige Wurzeln um sein Herz geschlagen hatte, vollständig – Ferber schoß nicht auf seine Brüder, aber dieser Sieg kostete ihm seinen Beruf, seine gesicherte Lebensstellung. Er nahm seinen Abschied und sank bald darauf infolge einer Erkältung gelähmt auf’s Krankenlager, das er erst nach jahrelangem Siechthum wieder verließ. Hierauf siedelte er mit seiner Familie nach B. über, wo er bald eine einträgliche Stelle als Buchhalter in einem bedeutenden Handlungshause erhielt. Es war die höchste Zeit, denn das kleine Vermögen seiner Frau war bei dem Sturz eines Bankgeschäftes verloren gegangen, und nur die mehrmaligen Geldunterstützungen, die Ferber’s älterer und einziger Bruder, ein Förster in Thüringen, der bedrängten Familie zukommen ließ, hatten bis jetzt den Mangel in seiner schlimmsten Gestalt fern gehalten.

Leider sollte dies Glück nicht von Dauer sein. Ferber’s Chef gehörte zu den Frommen im Lande und suchte alle seine Umgebungen mit seinem Bekehrungseifer heim. Auch Ferber wurden diese Bemühungen zugewandt, stießen aber hier auf einen zwar mit ruhigem Ernste geäußerten und durch eine Fülle von Wissen motivirten, aber so entschiedenen Widerstand, daß sich das fromme Gemüth Herrn Hagen’s – so hieß der Kaufmann – darüber schier zu Tode entsetzte. Einem solchen Freigeist Schutz und Brod zu geben und somit geflissentlich den Untergang des Reiches Gottes zu befördern – der Gedanke ließ ihm Tag und Nacht keine Ruhe, bis er mittels eines Entlassungsbriefes sich von dieser Last befreite und das räudige Schaf aus seiner Lämmerheerde stieß.

Um jene Zeit ging auch Herr Wolf von Gnadewitz heim zu seinen Ahnen, und da er während seiner irdischen Laufbahn an dem Grundsatz seines Geschlechtes, keine Beleidigung ungerächt zu lassen, streng festgehalten hatte, so konnte dies Leben wohl keinen würdigeren Abschluß und Endpunkt finden, als in dem Testament, das er eigenhändig niederschrieb, ehe er hinunterstieg in das enge Kämmerlein von Zinn, in welchem seine Gebeine der Nachwelt aufbewahrt bleiben sollten. Dies Actenstück männlicher Consequenz, das einen entfernten Verwandten seiner verstorbenen Gemahlin zum Universalerben ernannte, schloß mit folgender Verfügung:

„In Anbetracht des unabweislichen Anspruches, den sie an meinen Nachlaß hat, vermache ich der Anna Maria von Gnadewitz, verehelichten Ferber, das Schloß Gnadeck auf dem Berge in Thüringen. Anna Maria Ferber wird nicht verkennen, daß ich sie wohlmeinend bedenke, indem ich ihr ein Obdach anweise, das sie mit zahllosen Erinnerungen an das edle Geschlecht, dem sie einst angehörte, umgeben wird. Wohl wissend, daß über jenen alten Hallen stets Glück und Segen geschwebt hat, und diese unleugbare Thatsache genau erwägend, halte ich es dennoch für völlig überflüssig, diesem meinem Geschenk noch Etwas beizufügen ..… Sollte jedoch Anna Maria Ferber, den Werth meiner Gabe nicht einsehend, dieselbe verkaufen oder auf irgend welche Art veräußern wollen, so erlischt sofort ihr Anspruch an das Erbe, und das Waisenhaus in L. tritt an ihre Stelle.“

Herr Wolf von Gnadewitz hatte sich sonach mit Hinterlassung einer beißenden Satire auf sein schwarzbehangenes Paradebett gelegt. Ferber und seine Frau hatten zwar nie das alte Schloß gesehen, allein es war weltbekannt als ein zusammensinkender Trümmerhaufen, den seit wenigstens fünfzig Jahren keine ausbessernde Hand berührt hatte und der bei der Einrichtung des neuen Schlosses im Thal sämmtlicher Hausgeräthe, Wandbekleidungen, ja sogar des Kupferdaches auf dem Hauptgebäude beraubt worden war. Seitdem lagen die schweren Riegel und Vorlegeschlösser eingestäubt und eingerostet vor dem mächtigen eichenen Hauptthor. Die ungeheuren Waldbäume, die sich dicht um den grauen Bau schaarten, woben ungestört ihre breiten Aeste in das üppige Gestrüpp zu ihren Füßen, und bald lag das verlassene Schloß hinter der grünen, undurchdringlichen Wand, wie eine eingesargte Mumie.

Der glückliche Universalerbe, dem der fremde Besitz inmitten seines Waldes sehr lästig war, hätte gern für eine ansehnliche Summe das alte Haus zurückgekauft, allein die vorsichtig ausgedachte Clausel am Schluß des Vermächtnisses schnitt jede Unterhandlung ohne Weiteres ab.

Frau Ferber legte die ihr zugesandte Abschrift des Testamentes, auf die einige schwere Thränen fielen, stillschweigend auf den Schreibtisch ihres Mannes und nahm dann mit doppeltem, beinahe fieberhaftem Eifer ihre Arbeit, eine Stickerei, wieder auf. Ferber hatte trotz aller Bemühungen keine Anstellung wieder erhalten und sah sich nun genöthigt, durch schlecht bezahlte Uebersetzungen, und wenn es an diesen mangelte, mittels Acten- und Notenschreiben sein und seiner Familie Leben zu fristen, wobei ihn seine Frau durch den Erlös für Handarbeiten nach Kräften unterstützte.

So trüb nun auch Ferber’s Lebenshimmel umzogen war, ein Stern tauchte allmählich auf unter den Wolkenmassen und schien die fehlenden äußeren Gnadenbezeigungen des wetterwendischen Glückes ersetzen zu wollen. Eine Ahnung von diesem milden Strahl, welcher dereinst in ein dunkles Leben, fallen sollte, überkam Ferber schon, als er zum ersten Mal an der Wiege seines erstgeborenen Töchterchens stand und in die prächtigen Augen sah, die aus dem feinen Kinderköpfchen ihn anlachten. Sämmtliche Freundinnen der Frau Ferber waren einstimmig der Ansicht, der kleine Ankömmling sei ein reizendes Wesen, ein eigenthümlich bevorzugtes Kind, ja, es sähe so ganz und gar nicht aus, wie das gewöhnliche Menschenkind, wenn es krebsroth zum ersten Mal die Welt anschreie,

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verschiedene: Die Gartenlaube (1866). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1866, Seite 2. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1866)_002.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)