Seite:Die Gartenlaube (1865) 794.jpg

Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
verschiedene: Die Gartenlaube (1865)

völlig unbekannt. Ein dunkler Novemberabend hemmte oft durch nicht gesehene Steinblöcke oder Gräben in diesem Hügelland den gymnastischen Lauf. Ich kannte jedoch durch einen mit der Topographie des Landes vertrauten Mitgefangenen die Richtung genau, welche ich einzuschlagen hatte, um sobald als möglich mit Umgehung der Landstraße und des militärisch besetzten Städtchens Hornbach das französische Gebiet zu erreichen. Die Nacht war völlig eingebrochen. Ohne Compaß eilte ich rüstig weiter und verlor nicht die bezeichnete Richtung. Bei einem Hofgute, in dessen Nähe ich gelangte, verfolgten instinctmäßig den Laufenden zwei Hunde mit weithin tönendem Gebelle. Durch ruhiges Gehen und Anrufen brachte ich dieselben mit Mühe zur Ruhe. Ich mußte jedes Aufsehen vermeiden, da ich wußte, daß an der Grenze die Gensd’armerieposten und die Zollwächter eine unangenehme Begegnung geworden wären. Endlich erreichte ich ein Grenzdorf.

Im Vertrauen auf das gute Glück, das mich bisher geleitet hatte, und für den Nothfall im Besitze einer Waffe, die ich getrost unter dem verhüllenden Oberrocke mit einem Händedrucke als treuen Freund bei widrigem Geschicke begrüßte, wagte ich mich entschlossen in eine schmutzige Gasse, die durch die spärlichen Strahlen erleuchtet wurde, welche die Oellampen der feiernden oder ihr Abendbrod nehmenden Landleute auf meinen Pfad ergossen. Bald entdeckte ich in einem Eckhäuschen eine Schenke. Man stieg eine kleine Treppe hinauf, um in das erhöhte Erdgeschoß einzutreten. Ich untersuchte durch das erhellte Fenster die Gaststube, und da ich keine Uniformen gewahrte, trat ich ein. Der Wirthin erzählte ich, daß ich ein Handelsmann aus dem benachbarten französischen Städtchen Bitsch wäre, von Zweibrücken komme und mich verirrt habe. Ich bat sie, mir einen jungen Burschen mitzugeben, der mich über die Grenze und auf den rechten Weg nach Hause geleiten könne. Dies geschah, und nachdem ich stehend mit einem Glas Weine mich erfrischt hatte, zogen wir von dannen. Bald hatte ich dem Burschen mitgetheilt, daß ich etwas Contrebande unter den Kleidungsstücken verborgen trage und deshalb unbemerkt über die Grenze zu kommen wünsche. Mein Führer, ermuthigt durch die Zusage eines anständigen Trinkgeldes, führte mich nun wieder querfeldein und legte von Zeit zu Zeit sein Ohr auf die Erde, um etwa in der Nähe streifende Militärpatrouillen oder Zollwächter und Grenzgensd’armen rechtzeitig zu erlauschen. Im Cantone Hornbach bestand damals noch der Kriegszustand in allem für mich und meine Situation drohenden Umfange. Bald gelangten wir in ein Wiesenthal, und zehn Minuten später überschritten wir unangefochten den Grenzbach.

Inzwischen hatte man, wie ich später erfuhr, meine Abwesenheit im Gefängnisse entdeckt. Darob ein großer Lärm im ganzen Hause und Aufregung unter den Angestellten, da es sich um die Entweichung eines der am meisten gravirten politischen Gefangenen handelte. Man machte schleunigst Anzeige auf dem Parquet der königlichen General-Staatsbehörde. Die Bureaus waren bereits geschlossen und eine Soirée hatte die ersten Beamten und Honoratioren der Stadt in den Salons des Generalstaatsprocurators versammelt, darunter mehrere meiner Verwandten und Freunde. Die Geschichte bildete sogleich den Gegenstand der Unterhaltung; man freute sich trotz der Uniform, die man trug, ob des Gelingens und lachte und scherzte über den Vorfall. Nur ein gewisser Herr soll sich sehr ungehalten geäußert haben und sogleich nach dem Gefängnisse in seiner generaladvocatorischen Dienstbeflissenheit geeilt sein. Der alte Klühenspieß, ein braver thätiger Gefängnißverwalter, war außer sich. Er war ein Soldat aus der alten tüchtigen Schule des pfälzischen Generals von Horn, unter dessen Befehlen er den Feldzug in Griechenland mitgemacht hatte. Bis jetzt war eine Entweichung noch nicht vorgekommen und ich füge bei, auch nicht später, da ich der Einzige war, dem es gelang, Klühenspieß’s Argusauge zu täuschen. Die alte strenge Soldatenehre war verletzt, der Amtspflicht und dem Befehle seiner Vorgesetzten, gute Hut zu halten, war er, wie es schien, nicht nachgekommen. In einem wahren Paroxysmus lief er mit ein Paar Pistolen in der Hand, alle Donnerwetter fluchend, im weitläufigen Gebäude herum und suchte, suchte – fand aber nichts. Der lose Vogel war seinem festen Bauer unbegreiflicher Weise entflogen. Ihm hatte sich bald der Generaladvocat beigesellt, der, wie man mir aus dem Gefängnisse nach Saargemünd schrieb, höchst eigenhändig in den verborgenen Winkeln und in den Betten umhergriff und höchst eigenäugig unter die Bettstellen lugte, indem er die erhitzten Worte ausstieß: „Er kann nicht fort sein, er ist sicher irgendwo versteckt!“ – Relata refero. Hoffentlich benahm sich Herr Sch. anständiger und in mehr seiner Amtswürde entsprechender Weise. Doch der Mensch – und ein Substitut des Generalstaatsanwaltes ist immer noch ein Mensch – ist oft ein Spielball der Leidenschaft und überlegt im Momente des Affectes nicht, was sich gebührt.

Meine Freunde, die Kenntniß der Entweichung hatten, schwiegen trotz der mit Drohungen und Derbheiten begleiteten Fragen des gestrengen Herrn. Der Commandant der Militärwache erklärte, daß Niemand habe entfliehn können etc. Kurzweg, die Sache war unerklärlich, und doch war der Gefangene verschwunden, aus der unheimlichen Citadelle hinweggezaubert oder escamotirt, wie durch Bosco’s Meisterhand.

Man suchte mich vergeblich im Gefangenenhause, sodann in der Stadt und Umgegend. Man beorderte die Grenzwachen und die gesammte Gensd’armerie und alle Polizeibehörden zur eifrigsten Vigilanz. Alles umsonst!

Zwei Tage darauf löste ein Schreiben, das an den Generalstaatsprocurator aus Frankreich adressirt war, das Räthsel und enthüllte das Mysterium. Ich zeigte meine glückliche Ankunft auf freier Erde an und bat um Zusendung eines Briefes, den ich von einem befreundeten Kammermitgliede aus München erwartete, welcher Bitte man auch entsprach. Ich fügte bei, daß die Angestellten sich keiner Nachlässigkeit schuldig gemacht und daß ich blos das Militär getäuscht hätte. Nach der am Rhein gültigen französischen Gesetzgebung bestehen ziemlich harte Strafen gegen die Inspectoren und Beschließer eines Gefängnisses, wenn durch ihr Verschulden eine Entweichung gelingt. Ich mußte die factische Aufklärung im Interesse der Wahrheit und zu Gunsten des alten braven Klühenspieß ertheilen.

Wie ich vernahm, erhielt die ganze Wachmannschaft von Oben bis Unten eine gehörige Strafe. Nun, sie war vielleicht wohl verdient, da die Herren so gütig waren, mich für einen königlichen Untersuchungsbeamten anzusehen. Diese Arreststrafe der guten, leichtgläubigen Jäger nahm ich denn getrost auf mein Gewissen und setze hinzu, daß diese Last mich bis heute noch wenig gedrückt hat.

Leider wurde fortan die Aufsicht im Gefängnisse eine sehr strenge und die armen Freunde hatten einige Wochen die Quälereien, welche der überstrenge Generaladvocat Sch. anbefahl, zu erdulden. Doch bald ging Alles wieder im alten Gleise. –

Die französische Erde, der vom Kaiser und Reich abgetrennte Boden des alten deutschen Lothringens, bot dem Flüchtlinge ein rettendes Asyl. Mit welchen Gefühlen ich nun am Ziele meines glücklich vollführten Fluchtabenteuers das fremde Land begrüßte, will ich hier nicht schildern! Freudige und wehmüthige Saiten erklangen zusammen: das eigne Glück, die Freiheit gewonnen zu haben, der tröstende Gedanke an die sich mitfreuende theure Familie, auf der andern Seite der Schmerz bei der Erinnerung an die Freunde, welche noch der Kerker in seinen finstern Räumen barg, und die Ungewißheit einer neuen Lebensperiode, das Dunkel der Zukunft mit einer in der kalten Fremde fern vom geliebten Vaterlande neu zu schaffenden Existenz! –




Die Luft-Eisenbahnen in London.[1]
Von Friedrich Althaus.

Vor Kurzem wurde ein neues Glied in der Kette der merkwürdigen Unternehmungen vollendet, welche bestimmt sind, theils die Fluth des entschieden unbequem gewordenen Weltverkehrs in den Straßen von London auf gewisse Grenzen zu reduciren, theils

die Nachtheile zu mindern, welche die ungeheuern räumlichen Entfernungen der Hauptstadt der Locomotion und dem geschäftlichen Verkehr auferlegen. Die unterirdische Eisenbahn, welche seit zwei Jahren einen Theil der City mit dem Westende verbindet, kann in

Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Die Gartenlaube (1865). Ernst Keil, Leipzig 1865, Seite 794. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1865)_794.jpg&oldid=- (Version vom 14.12.2022)