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verschiedene: Die Gartenlaube (1865)

gelang, die Ufer des „Meeres der Gastfreundschaft“ zu erreichen; sie haben hinter sich gelassen den immergrünen Buschwald von Imeretien und Mingrelien, die düsteren Schluchten, durch welche der Terek rauscht, die schneeigen Gipfel des Kasbek und Elbrus; den Rücken wandten sie der väterlichen Isba (Hütte) und den Auls (Dörfern) der geliebten Heimath. Denn sie ist entweiht: der ketzerische Moskof legt seine schwere Hand darauf und verbietet das Stegreifthum, den lustigen Nachtritt nach feindlichen Heerden, die Blutrache und den Weiberhandel. Da hat denn das arme, freiheitliebende, zwar bewältigte, aber unbezähmbare Volk der Berge beschlossen, dem Vaterland Valet zu geben und Schutz und Hülfe zu suchen beim Herrn der hohen Pforte, dem Beschützer aller Gläubigen. Jene Dreißigtausend, welche in Anadoli lagern, sind nur die letzten Nachzügler; andere, früher ausgewanderte Tscherkessenschaaren liegen in der Dobrudscha, zwischen Varna und Kustendsche, auf der Halbinsel Gallipoli, im Waldgebirg der Dragodina und da und dort in der Provinz Rumili; die Gesammtzahl der Heimathlosen beläuft sich weit über Hunderttausend und sie ist ungeheuer im Verhältniß der dünnen Bevölkerung des Kaukasus. Die Russen legen der Auswanderung kein Hinderniß in den Weg, sie wissen wohl warum. Die Türkei jedoch ist durch sie in große Verlegenheit gekommen. Die Regierung darf die Glaubensgenossen, welche der Herrschaft des griechischen Kreuzes entfliehen, nicht zurückweisen und doch weiß sie durchaus nicht, was sie mit ihnen anfangen soll; von Tag zu Tag häufen sich die Schwierigkeiten. Einstweilen begnügt sie sich damit, den Flüchtigen bestimmte Gebiete anzuweisen und ihnen Lebensmittel zuführen zu lassen, aber dies kann nur in höchst unzureichender Weise geschehen, zumal in Gegenden, welche kaum das Nothwendige für die eigene Bevölkerung produciren. Daher ist unter den armen Kaukasiern die höchste Noth ausgebrochen, mehr noch, die Cholera; täglich sterben Hunderte dahin und das Elend unter ihnen wächst in unbeschreiblichem Maße.

Freilich waren ihnen auch Ländereien und Saatgetreide zugetheilt worden, aber sie hatten das letztere verzehrt, ohne die ersteren zu bestellen; denn die freien Söhne der ewigen Berge erachten den Ackerbau für Schande und betreiben ihn nur vermittelst ihrer Sclaven. Als Soldaten wären sie wohl zu gebrauchen und der Regierung als solche willkommen, wenn sie nur lernen wollten sich der Disciplin fügen; das ist ihnen aber ganz unmöglich; selbst der Versuch, sie unter die Baschi-Bozuks (eine Art freiwillige Landwehr) zu bringen, ist gänzlich fehlgeschlagen. Einer ihrer Haufen hatte sich in den Dragodinawald (im Gebirge Tekir, das parallel mit den Dardanellen von Nordosten nach Südwesten läuft) geworfen, daselbst Verhaue errichtet und brandschatzte die Umgegend auf unerhörte Art; namentlich litt die Stadt Enos darunter. Der Gouverneur, Hakki-Pascha, beschloß dem Unwesen ein Ende zu machen und zog mit achtzig regulären Soldaten und ein paar Hundert Baschi-Bozuks vor das Räuberlager. Bei den ersten gewechselten Schüssen flohen die letzteren, aber die Regulären stürmten mannhaft, siegten und zersprengten, tödteten oder fingen die Meisten der ihnen an Zahl weit überlegenen Tscherkessenbande. Und doch war der Anführer der letzteren, welcher mit mehreren Getreuen zu Pferde entkam, ein berühmter Held des kaukasischen Krieges. Mohammed-Bey. Aus dieser und vielen ähnlichen Thatsachen geht sowohl die üble Lage der Pforte, als auch ihre immer größer werdende Gleichgülligkeit gegen die Leiden ihrer Gäste zur genügenden Erklärung hervor, und furchtbar sind ihre Leiden – und so sterben sie dahin, vergehen hier in der Fremde, wie dort in der Heimath, ein verlorenes, zum Untergange bestimmtes Volk. Umsonst bieten sie ihre Weiber, ihre Töchter, ihre Kinder zum Verkauf – der Sclavenhandel wird selbst in der Türkei nur geduldet, wo die Macht fern ist – umsonst geben sie selbst ihr Kostbarstes, ihre Waffen, hin für Reis und Fleisch; aber lieber verhungern sie, lieber fallen sie der Seuche zum Opfer, als daß sie den Arm heben zur Bebauung des Bodens! Sie sind verloren!

Diese Auswanderer sind so ziemlich die letzten Reste des besten Kerns jener unabhängigen Völkerstämme des Kaukasus, deren Kämpfe gegen die Bezwinger seit mehr als hundert Jahren die Aufmerksamkeit des Abendlandes auf sich gezogen haben, welches gern in ihrem bergigen Vaterland die Heimath seiner Völkerracen erblickt. Schon Peter der Große (1711), schon Potemkin (sprich Patjomkin) 1780 rüttelten an den Felsenthoren der kaukasischen Vesten, aber mit geringem Erfolg. Und längst nachdem Transkaukasien bis zum Araxes bezwungen und russischer Oberhoheit unterworfen war, hielten sich noch die kleinen, aber tapferen Stämme des Bergvolks gegen die gewaltigen Heere des Czaren, welche jeden Fußbreit eroberten Landes mit Strömen Blutes düngen, mit gebleichten Knochen übersäen mußten.

Die Nation, welche wir unter dem Namen „Tscherkessen (Cirkassier)“ begreifen, existirt nicht, oder vielmehr, wir fassen darunter eine ganze Reihe von verschiedenen Völkerstämmen zusammen. Im westlichen Kaukasus bilden die eigentlichen Tscherkessen, deren Wohnsitze sich vom Kuban bis zum Flusse Bu unweit Gagra erstrecken, den Kern der Bevölkerung, um welchen in geringer Zahl Stämme der Abchasen, Ubichen, Dshigeten, Kabarden und Tataren vom Elbrus (Karatschai) sich gruppiren. Im östlichen Kaukasus sind die Tschetschenzen das Hauptvolk; sie wohnen in dem Gebiet des Terekflusses; an sie reihen sich südöstlich vom Koisu die Lesghier in Daghestan, welche wiederum in viele kleinere Stämme zerfallen. Alle diese Völkerschaften, namentlich aber die letztgenannten, hatten sich seit Jahrhunderten mannhaft gegen Eroberer zu wehren; Ritter, der große Geograph, sagte von ihnen: „Die Kriege Timur’s, Peter’s des Großen und Nadir Schah’s gegen die Völker des östlichen Kaukasus haben bewiesen, daß die Localitäten von Daghestan und Lesghistan zu den großen isolirten Weltburgen für Völkerstämme gehören, welche ihre Besitzer und Vertheidiger vor jedem Andrange von Völkerwogen zu schützen vermögen, vor welchen selbst die Schaaren von Kriegsknechten der mächtigsten Gewalthaber zurückstieben, wie die wogenden Brandungen an den Küstenklippen oceanischer Eilande.“ – Er hat sich im Irrthum befunden; die force majeure der Kanonen und das diplomatische „Theile und herrsche“ kennen keine unbezwingbaren Vesten mehr. Und so ist auch nach dreißigjährigem hartnäckigem Kriege endlich ganz Kaukasien von den Russen erobert worden und wird ihnen schwerlich jemals wieder entrissen werden. Die Tscherkessen kämpften, bald in einzelnen Stämmen, bald verbunden, unverdrossen und mit bewundernswürdiger Tapferkeit unter ihren Feldherren und Propheten, deren größter Schamyl ist, der Imam (Prophet) und Häuptling der Tschetschenzen, mit den „Blitzen in den Augen und Blumen auf den Lippen“, wie der daghestanische Dichter sagt; der Achilles des Kaukasus, der, umringt von der heiligen Schaar seiner Müriden, unversehrbar im Streite schien; der das begeisternde Banner des Religionskrieges entfaltete und darauf schrieb: „Muhamed ist Allah’s erster Prophet, Schamyl der zweite!“ Diesen Tscherkessenhelden fochten die ausgezeichnetsten der russischen Generale gegenüber.

Hin und her schwankte die Woge des Kampfs; die Russen führten ihn mit zäher Ausdauer, indem sie einen Streifen Landes nach dem andern eroberten und sofort mit kleinen Festungen bepflanzten; in offener Feldschlacht blieben sie gewöhnlich Sieger. Allein zu dieser kam es selten. Die Bergvölker kämpfen in berittenen Horden, deren Anprall furchtbar, oft unwiderstehlich ist; wird derselbe aber ruhig empfangen, tapfer geworfen, dann ist auch sofort das Loos des Tages entschieden, die Tscherkessen wenden sich zur Flucht, während welcher sie, gleich den Arabern, die Gewehre laden und gegen die Verfolger brauchen. Der Artillerie vermochten sie niemals Stand zu halten, freilich war anfangs deren Gebrauch in ihren Bergschluchten sehr beschränkt. Seitdem aber verbesserte Berggeschütze und Raketenbatterieen bei den Russen eingeführt worden waren, verdoppelten sich ihre Erfolge. Des Sieges im Voraus gewiß, mit furchtbarem Geschrei, stürmten in rasendem Galopp die gepanzerten Murtosigaten (Elitecorps) oder die bunten Stämme der Aule auf die langsam in Schlachtordnung heranrückende russische Infanteriecolonne. Aber ehe die Tscherkessen nahe genug sind, um ihre langen Flinten im Galopp abzudrücken, auf den Rücken zu werfen und den furchtbaren Schaschka (Säbel) schwingend in die Colonne einzubrechen, öffnet sich diese, und eine maskirte Batterie schleudert den tollkühnen Reitern einen schweren Eisenhagel entgegen. Mit gellem Aufschrei der Wuth und der Verzweiflung – denn viele ihrer Brüder sind gestürzt – pariren sie auf dem Fleck ihre hageren, unschönen, doch flüchtigen Rosse und stieben in regelloser Flucht durch den hohen Burian (Unkraut, Ried) der Berghalden, bis sie sich wiederum sammeln, um einen neuen Angriff zu wagen oder günstigere Gelegenheit abzupassen.

Eine derartige Scene veranschaulicht das lebhaft bewegte

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verschiedene: Die Gartenlaube (1865). Ernst Keil, Leipzig 1865, Seite 790. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1865)_790.jpg&oldid=- (Version vom 14.12.2022)