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verschiedene: Die Gartenlaube (1865)

Das Rom der Zukunft.
Die Lage von Washington. – Das Unfertige der Stadt. – Pennsylvania-Avenue. – Post- und Patentamt. – Das Finanzministerium. – Das weiße Haus. – Amerikanische Kunstleistungen. – Das Capitol und seine Umgestaltung. – Columbus als Kegelschieber. – Washington im Bade. – Die große Rotunde mit ihren Bänkelsängerbildern. – Der Sitzungssaal der Repräsentanten. – Scenen in den Sitzungen. – Die Manieren der Sclavenbarone. – Der Sprecher und die Abstimmung. – Die „Vorsaalmitglieder.“ – Der Senat.

Nach Westen geht der Strom der Weltgeschichte. Die Enkel der großen Emigration, welche in der Urzeit und dann wieder in den letzten Jahrhunderten Roms das alte Asien nach Europa ausgehen ließ, beherrschen jetzt Asien. Die Enkel der Auswanderer, die heutzutage in nicht abreißendem, durch nichts gehemmtem Zuge aus Europa nach Amerika ziehen, werden in der Zukunft in gleicher Weise Europa und mit ihm die Erde beherrschen.

Schon jetzt läßt der große, transatlantische Freistaat seine Existenz in dem politischen Leben der alten Welt empfinden. In fünfzig Jahren wird seine Bedeutung für dasselbe Aller Augen sichtbar sein, sein Herüberwirken auf unsere Zustände wie die Wärme der Sonne gefühlt werden. In hundert Jahren wird, wenn nicht Alles täuscht, der Schwerpunkt des politischen Lebens unter dem Mond in Nordamerika, das Centrum desselben in Washington liegen, und dessen Capitol wird für die Welt mehr bedeuten, als je das Capitol des alten Rom. Noch sieht freilich Vieles in dem Organismus des jungen Riesen, der mit dem großen Kriege in sein Jünglingsalter getreten ist, unfertig und unschön aus, und Washington ist der Spiegel dieser Unfertigkeit und Unschönheit. Die Kunst, um nur Einiges anzuführen, lebt noch vom Ideenimport aus Europa und die Manieren der zukünftigen Weltbeherrscher, ihr übergroßes Selbstgefühl, ihre Rücksichtslosigkeit in Verfolgung ihrer Zwecke, ihr mehr in die Breite als in die Tiefe gehendes Streben, ihre Hast und Unruhe sind für den gediegenen Europäer und namentlich für den zugleich gemüthlichen Deutschen eher abstoßend, als anziehend. Aber ein Zug von Größe ist in Allem.

Washington, das Rom der Zukunft, liegt in recht anmuthiger Gegend, und wenn die Tiber, an der einige seiner Häusergruppen sich hinziehen, nicht so groß ist, wie ihre italienische Namensschwester, so ist der Potomac, in dem die Stadt sich einst spiegeln wird, um so stattlicher.

Nicht das Gleiche läßt sich von der Stadt selbst sagen: sie ist fast so alt, wie die Republik, aber der großartige Plan, nach welchem sie angelegt, ist in seinen meisten Theilen bis heute Plan geblieben; denn der Handel ist’s, der in Amerika die Städte groß macht, und Washingtons Lage ist für diesen nicht günstig. Nach jenem Plan wäre das Capitol, auf einer Bodenanschwellung gelegen, der Mittelpunkt gewesen, von demselben wären nach allen Seiten strahlenförmig eine Anzahl Avenues oder Hauptstraßen ausgelaufen, welche wieder in regelmäßigen Zwischenräumen von Seitenstraßen durchschnitten worden wären. Dieser Gedanke ist nur zum kleinsten Theil verwirklicht worden. In der vornehmen Gegend um das Capitol erlangte der Grund und Boden gleich zu Anfang einen hohen Werth, in den entfernteren Regionen dagegen blieben die Bauplätze wohlfeil, und die nothwendige Folge war, daß sich hier zuerst Häuser und Gruppen von solchen erhoben, während das Capitol mitten in leeren Feldern stehen blieb und, statt das Centrum von Washington zu sein, dessen äußerster Endpunkt wurde.

Und so verhält sich’s in der Hauptsache noch heute. Nur an einigen Stellen zusammenhängende Häusermassen. Sonst in einer Ausdehnung von nahezu einer deutschen Meile von Nordwest nach Südost und einer halben deutschen Meile von Nordost nach Südwest nur einzelne Gebäude oder Gebäudegruppen. Hier und da eine Straße mit nur einer Häuserzeile, da und dort eine Villa oder auch ein armseliges Hüttchen, dem Anschein nach vom Zufall hierher gestellt, und dazwischen hin und wieder ein großer, weißer Marmorbau, in dem wir nähertretend ein Regierungsgebäude erkennen, und die Thürme mehrerer Kirchen aus röthlich-grauem Sandstein. Das ist ungefähr Washington, und in der That, die langweilige Regelmäßigkeit Karlsruhes und Darmstadts ist, um Kleines mit Großem zu vergleichen, fast erfreulich neben dieser Regellosigkeit der Ausführung in der Regelmäßigkeit des Planes. Ein Theil der Stadt macht ein sehr anspruchsvolles, großstädtisches Gesicht, andere Theile gleichen den zerstreuten Dorfschaften unserer Marschen, die bei weitem größere Hälfte des Areals, welches der Plan umfaßt, ist unbewohnte, weg- und brückenlose Wildniß, in der man eher Schnepfen schießen, als Menschen begegnen kann, und in der bei nassem Wetter nicht fortzukommen ist. Die großen Avenuen sind, bis auf zwei oder drei, bloße Namen; die Squares und Blocks, die bei der Anlage projectirt wurden, wird man der Mehrzahl nach mit ebensoviel Erfolg im Monde, als hier suchen können. Vieles in den Staaten Amerikas ist unfertig und es giebt eine Masse unbesetzten Landes da, aber kein Stück Land möchte sich in öderem Zustande befinden, als drei Viertheile des Bodens, welcher das Stadtgebiet von Washington bildet. Wäre das Straßennetz ausgefüllt, so könnte die Stadt nicht unter einer Million Einwohner haben; wie die Dinge liegen, hat sie in der Saison, d. h. wenn der Congreß versammelt ist, etwa achtzigtausend, in der stillen Zeit nicht viel über sechszigtausend.

Der dichteste Theil des unvollendeten Gewebes, welches der Plan von Washington zeigt, liegt westlich von dem Hügel, den das Capitol krönt, und hat zur Basis die einzige fast ganz in’s Leben getretene von jenen projectirten Hauptstraßen, die Pennsylvania-Avenue, welche, einige hundert Schritt vom Capitol beginnend – wirklich beginnend, denn ihre Fortsetzung östlich vom Capitol ist Mythe – in der Nähe des Hauses endigt, wo der Präsident wohnt.

Pennsylvania-Avenue ist für Washington, was die Linden für Berlin sind. Eine Viertelmeile lang und etwa dreihundert Fuß breit, ist sie mit ihren meist hübschen, oft prächtigen Häusern und manchem eleganten Laden der Stolz der Einwohner. Der in der Mitte hinlaufende Fahrweg wird von Bäumen beschattet, auch giebt es hier nicht blos Trottoirs, sondern auch Straßenpflaster, eine Wohlthat, deren sich von den übrigen Straßen nur noch einige erfreuen.

Von den öffentlichen Gebäuden sind fast nur die, welche der Regierung gehören, unserer Beachtung werth. Die Kirchen sind weder groß, noch schön, oft Muster von Geschmacklosigkeit, und was von Theatern, Hotels und Privathäusern Anspruch macht, besehen zu werden, will nicht viel bedeuten. Dagegen bleiben wir vor dem Postamt und dem Patentamt einen Augenblick stehen, die sich in weniger Entfernung von Pennsylvania-Avenne in der F-Street und zwar einander vis-à-vis befinden. Das Generalpostamt, aus weißem, marmorartigem Kalkstein in griechischem Stil erbaut, ist ein ziemlich großes Viereck ohne bestimmte Front mit korinthischen Säulen geschmückt und von gefälligen Proportionen, dessen Wirkung aber seiner ungünstigen Lage wegen verloren geht. Da die Briefe nicht ausgetragen werden, sondern abgeholt werden müssen, so konnte man hier während des Krieges Massen von Nachfragenden vor dem Eingang zur Briefausgabe Queue bilden sehen, wie bei Hungersnoth die Brodholenden vor dem Bäckerladen. Auch das Patentamt ist ein großer Bau. Freitreppen führen auf drei seiner Seiten zu einem Porticus mit dorischen Säulen hinauf, und das Ganze würde imposant sein, wenn die Straßen umher fertig wären. Der Schönheit des Gebäudes thut Eintrag, daß man ihm Fenster und zwar auch unter dem Porticus gegeben hat, was gewiß recht nützlich, aber nur nach den Begriffen amerikanischer Architekten zugleich geschmackvoll ist.

Ein Stück weiter endlich liegt die Treasury oder das Finanzministerium, ein noch nicht ganz vollendetes Gebäude von mächtigen Dimensionen, dessen östliche Front mit ihren zweiundvierzig ionischen Säulen eine der längsten Colonnaden der Welt zeigt. Die Granitmassen, die man dazu verwendet hat, sind aus dem Staate Maine hierher gebracht und geben dem Bau ein massives Aussehen, welches vortrefflich für dessen Bestimmung paßt, den Staatsschatz aufzunehmen.

Nicht fern von hier, weiter nach dem Potomac hin, erhebt sich auf einem Hügel, umgeben von schönen, alten Bäumen, „the white house“, das „weiße Haus“, die Wohnung des Präsidenten. Es ist von demselben Gestein wie das Postamt erbaut, zweistöckig, nicht besonders groß, aber recht nett und geschmackvoll gebaut. Die Façade kehrt es dem Lafayette-Platz, einem öffentlichen Garten mit hübschen Büschen und Rasenplätzen, zu, der zu dem Anziehendsten

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verschiedene: Die Gartenlaube (1865). Ernst Keil, Leipzig 1865, Seite 778. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1865)_778.jpg&oldid=- (Version vom 11.12.2022)