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Ersatzmittel. Berbeeren, Beritzen, Rhabarberbeeren nennt man die zum Abführen gebrauchten Berberitzen, statt deren die Käufer jetzt meistens Heidel- oder Fliederbeeren erhalten, welche bekanntlich jener Wirkung keineswegs entsprechen. Als Bergkümmel muß der Dillsamenvorrath der Hausfrau herhalten – zwei Quentchen für einen Sechser, wovon das ganze Pfund nur wenige Groschen kostet! Statt Bertramblumen – Pyrethrum, die Matterpflanze des Insectenpulvers – giebt’s in den meisten Apotheken römische Camillen. Für Bisamkörner – früher Semen Abelmoschi – erhält man jetzt grobgestoßene Gewürzkörner oder dergleichen. Als Bisamstorchschnabel – ein Geranium – wird irgend ein beliebiges, mit einem Gedanken von Moschus angeduftetes Kraut gegeben.

Wir müssen hier die Leser auf einen Umstand aufmerksam machen, der leicht die Ursache zu einem Mißverständniß werden könnte. Wenn wir nämlich bei zahlreichen Beispielen immer auf den Gegensatz des Früher zum Jetzt hingewiesen, so wolle man daraus keineswegs den Schluß ziehen, daß wir etwa die ganze Fülle der alten ausrangirten Arznei- und Volksheilmittel früherer Zeiten wieder in die Apotheken zurückwünschen. Nein, im Gegentheil, auch wir erachten es als ein wahres Glück für das Wohl der Menschheit, daß dieser Wust und dies Zopfthum mindestens zum größten Theile bereits hinabgeschwunden und verbannt sind. Allein wenn in Wirklichkeit das Licht der Aufklärung und Wahrheit hier, wie auf allen Gebieten des menschlichen Wissens, immer höhere Erfolge erringt, immer größere Siege feiert – ist es dann nicht ein Frevel, diese Wohlthaten andern Menschen absichtlich vorenthalten, sie im Irrthum erhalten zu wollen, um sie ausdeuten zu können? Das ist, ohne Uebertreibung, in diesem Falle das Verhältniß des Apothekers dem Publicum gegenüber. Oder sollte man wirklich glauben wollen, daß der Apotheker in der Achtung der Menschen sinken oder ihr Zutrauen einbüßen würde, wenn er ihnen offen und ehrlich die Wahrheit sagte? Doch weiter.

Statt Bruchkraut, welches noch oft genug gefordert wird, giebt man feingeschnittenes Bärlappkraut. Mindestens ist das erstere – Herniaria – in keinem Preisverzeichniß der Droguisten, also auch wohl in keiner Apotheke so leicht mehr zu finden. Das Ersatzmittel aber, von dem Dr. Mohr sagt: „Ich habe noch von Niemandem erfahren können, wozu dieser Körper in der Heilkunst nutzbar wäre; Oekonomen versicherten, man könne ihn als Pferdestreu gebrauchen,“ wird auch noch als Harnkraut, Schlangenmoos, Sautanne und Teufelsklau vielfach gekauft und in mystischer Weise gegen allerhand Krankheiten gebraucht. Das Kraut der Brunnenkresse wird als Volksheilmittel, mit Milch abgekocht, gegen Brustwassersucht, gegen Scorbut und zur Salbe gegen den Milchschorf der Kinder angewandt. Dennoch hat es jetzt wohl kein einziger Apotheker mehr vorräthig, weil es längst ausgemerzt ist. Aber in jeder Apotheke wird es wohl zu erhalten sein – man versuche es nur!

Ihnen schließen sich eine Anzahl von Volksheilmitteln an, welche nur noch eine sprachliche Bedeutung haben: „Fette Henne“, Fiebermoos, Finger- und Fünffingerkraut, Fünfblatt, Gänsefuß, Gänserich, Glaskraut, Hasenklee, Hühnernessel, Kälberkropf, Kachinkawurzel, Canarienholz, Körbelkraut, Kratzel- und Rahmbeeren, Lab-, Läuse-, Lebens- und Peterskraut, Mauseöhrchen, Meer- und Seebohnen, Meerhirse, Nesselblüthe, Ohnblatt, Osterblumen, Parakresse und deren Tinctur, Stechlaub, Stechpalmenblätter, Steinsamen, Stempelienöl, Theriakwurzel, Todtenbein, Wassericht, Wasserkresse, Wegetritt und Wegwart. Sie werden sämmtlich noch, wenn auch seltener, gekauft und gegen diese oder jene Uebel gläubig gebraucht; da sich aber an sie gar keine bestimmten Begriffe mehr knüpfen, so ist die Wahl passender Ersatzmittel völlig dem Ermessen und Belieben des Apothekers überlassen. Daß sie in alter Zeit dennoch sämmtlich thatsächlich vorhanden waren, braucht kaum hinzugefügt werden.

Etwas Anderes ist’s mit den folgenden; für sie stehen die Ersatzmittel mindestens so ziemlich allgemein fest. Als Grasspiritus durch Theriakgeist erhält man zusammengesetzten Angelicaspiritus, als Hasensprung präparirte Austerschalen; Hauswurzelsaft – Rosenhonig; Hederichsaft – Altheesyrup; Hypocistensaft – Vogelbeermus; Johannisblumen – Frühlingsprimelchen; Canarienholz – weißes Sandel- oder Wachholderholz; Karmelitergeist und -Wasser – Kölnisch Wasser oder Melissenspiritus; Kornblumenwasser – gemischtes Rosenwasser; Kropfschwamm – kleine Schwammfetzen; Lilien- und Lilen-, auch Lindenbaum- und Mai-Oel – weißes Baum- oder Provenceröl; Lindenkohle – Kohlenpulver, ob von Buchen, Eichen, Fichten etc. ist thatsächlich sehr gleichgültig; Nachtschattenöl, auch Ritterspornöl – gekochtes Bilsenkrautöl; Nachtschattenwasser, auch Roggenblüthenwasser – Fliederwasser; Nußöl – Mohnöl; rothe Ochsenzunge – Alcannawurzel; Osterluzeiwasser – aromatisches Wasser; Ostritz- und Ostritschenwurzel – Meisterwurzel; Pfaffenröhrlein und Pfefferröslein – Löwenzahnkraut, das sich Jeder leicht selbst sammeln könnte; Polnischer Hafer, Polsken Hafer und Rautensamenpulver – Mutterkümmelsamen, im letztern Falle gepulvert; Rettigtropfen – Löfselkrautspiritus; Rußnußöl – Petroleum; Scharbockskraut – Wolverleikraut; Scharpion- und Scorpionöl – Lein- oder Provenceröl, in dem ein Stückchen von einem Ohrwurm (früher Scorpion) liegen muß, Storchensalbe – unser liebes bekanntes Schmalz; Schwalbenwasser – Fenchelwasser.

Dies Alles – noch einmal sei ganz besonders Gewicht auf diese Wahrheit gelegt – existirt also sammt und sonders in Wirklichkeit gar nicht mehr in den Apotheken, das Geld dafür ist daher weggeworfen. Außerdem giebt es noch eine außerordentlich bedeutende Anzahl von Arzneimitteln der mannigfachsten Art, welche, nach gewissenhafter Prüfung der betreffenden Behörden, als wirkungslos oder doch überflüssig aus dem gesetzlichen Arzneimittelschatz ausgemerzt worden sind, die sich aber als Haus- und Volksheilmittel noch allenthalben erhalten haben. Auf dieselben, welche der Apotheker nur noch gleichsam dem Volke zu Gefallen führt, kommen wir ebenfalls zu sprechen.

In Betreff der Ersatzmittel für die oben angeführten Stoffe sei noch Einiges bemerkt. Es steht fest, daß der Apotheker unter allen jenen Namen den unwissenden Leuten gerade das in die Hand drücken kann, was er will. Mit den Kräutern, welche fein zerschnitten oder gar gestoßen werden, sowie mit vielerlei anderen Gegenständen, welche die Zubereitung unkenntlich macht, ist dies ja auch so leicht. Als Beispiel hierfür wollen wir nur noch einige Thatsachen hervorheben. Der gemeine Hederich, dessen unschuldiges Kräutlein früher unter dem Namen Herba Herderae als Arzneimittel gebraucht wurde, jetzt aber bereits längst als durchaus wirkungslos aus den Pharmakopöen gestrichen ist, wird dennoch alljährlich von den Apothekern in großen Massen aufgekauft. Getrocknet, feingeschnitten und gesiebt geht das gute Kraut wohlgemuth unter folgenden Namen in die Welt: Bingelkraut, Braunelle, Brennnessel, Edel-, Eisen-, Finger-, Fünffinger-, Gänsekraut, Gänsefuß, Gänserich, Gottesheil, Gundermann, Gundelrebe, Fünfblatt, Nessel-, Sannickel-, Saunickel-, Taschen- und Todtenkraut, Osterblume, Udram und Utram, und wenn ein guter Kunde zufällig alle diese zweiundzwanzig und noch verschiedene ähnliche Namen dazu fordert, so erhält er zweiundzwanzig, resp. noch mehr saubere, niedliche Tütchen mit ebensovielmal einem Pröbchen von demselben Kraut gefüllt. Für diese Bemühung muß er freilich eine verhältnißmäßig recht erkleckliche Summe bezahlen; dafür trinkt er aber auch seinen zweiundzwanzigfach heilsamen Thee – und der Himmel wird schon helfen!

Aehnlicher Weise werden eine ganze Reihe der gewöhnlichsten und möglichst billigen – Kräuter mit großem Erfolge (für den Apotheker nämlich) benützt. Das allerwärts auf dem Sande wuchernde liebliche Feldthymiankraut wird als: Feldpolei, Lab-, Feldkümmel-Kraut, Marienbettstroh, „Unserer lieben Frauen Bettstroh“ und Quendel verabreicht. Auch das Stiefmütterchenkraut muß als Dreifaltigkeits- und Freisamkraut, Tausendschön u. s. w. herhalten. In dieser Weise könnten wir noch eine große Anzahl von unseren einheimischen Kräutern herzählen, für welche die Armuth in blindem Wahn ihr sauer erworbenes Geld fortwirkt, während sie mit geringer Mühe sie sich selbst einsammeln könnte.

Wenn nun aber bereits nach diesen Darlegungen jeder denkende Mann und Menschenfreund mit Entrüstung und Abscheu diesem Treiben gegenüber erfüllt werden muß, um wie viel mehr wird dies noch der Fall sein, wenn er hört, daß in den Apotheken noch alltäglich als Graswasser, Tremseeblumenwasser u. s. w. gewöhnliches destillirtes Wasser, als Canarien-, Vermächtniß- etc. Zucker gewöhnliches Zuckerpulver verabfolgt wird, daß man, um nur für die imaginären Namen: flüssiges Altelor-, Cager-, Durchwachs-, Glieder-, Litt-, Nerven-, Schwülken-, Recksehnen-, Riew-, Schwalben-, Upstochs- Upstocks-, Vertheilungs- etc. Oel einen Gegenstand zu haben, expreß bloßes, gewöhnliches Brenn- oder Rüböl grün färbt – und daß man dies Alles thut, „natürlich nur um das Vertrauen des Publicums sich zu erhalten“, nebenbei freilich wohl auch, um ein wenig reich zu werden.

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