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verschiedene: Die Gartenlaube (1865)

Speisesaal plötzlich eine erhöhte Stimmung den kleinen Kreis überfluthete. Man reihte sich scherzend und lachend an die reichbesetzte Tafel. Die Diners der Cyrilla waren berühmt; man speiste vorzüglich bei ihr, der Herzog war ein Feinschmecker ersten Ranges. Melusine saß zwischen den Brüdern. Sie war jetzt eine Andere. Ihr Gesicht strahlte, von ihren Lippen strömte Scherz und reizendes Geplauder. Für Jeden fand sie ein passendes, anregendes Wort, sie setzte jede Erscheinung in die passende Beleuchtung. Man sprach von Paris.

„Ich habe Heimweh nach Paris,“ sagte Melusine. „O meine glänzende Heimath, wie liebe ich Dich! Hier ist’s so schwer, fröhlich zu sein, hier ist und bleibt im Grunde der heiterste Platz die Schreckenskammer der Madame Tussaud.“

Man lachte.

„Melusine hat eine seltsame Vorliebe für jene Räume,“ erzählte Cyrilla. „Sie besuchte sie jeden Tag, die Wachsmenschen waren ihr eine angenehmere Gesellschaft als wir. Ich selbst gehe nur hin, um die schönste Frau Frankreichs zu bewundern, die bezaubernde Madame St. Amaranthe, die kein Mann, als sie noch lebte, ungestraft anschauen konnte.“

„Man sagt, daß sie auch nach ihrem Tode einen dämonischen Zauber ausübe,“ bemerkte hier der Herzog von D. „Keine Braut erlaubt ihrem Verlobten einen Besuch bei Madame St. Amaranthe ohne ihre schützende Begleitung. Es soll allen liebenden Gefahr bringen, jenes hinreißende Gebilde von Wachs.“

„Still, redet nicht von den häßlichen Wachsfiguren,“ bat die blonde Arabella, „ich fürchte mich vor ihnen! Melusine erzählt uns eine lustige Geschichte aus Paris.“

Und Melnsine erzählte mit ihrer süßen Stimme, das Champagnerglas in der Hand, eine ihrer pikanten Theaterplaudereien aus den Foyers der Variétés. Niemand konnte graziöser erzählen. Ihre glühenden Wangen, ihre funkelnden Augen, ihr Lächeln rissen hin und brachten um alle Besinnung. Eben war ihre kleine Geschichte beendet, sie wendete sich zu Guy und wie ein blendender Lichtstrahl traf ihn ihr Blick aus den halbgeschlossenen Augen. Er sprang auf, hob sein Glas und rief in leidenschaftlichster Erregung: „Es lebe Prinzessin Champagner!“ lauter Jubel begrüßte diesen Toast. Man wiederholte ihn, die Gläser klangen, man rief und lachte durcheinander. Melusine nahm ihre Rose aus dem Haar, tauchte sie leicht in den Schaum ihres Glases und befestigte sie an der Brust Guy’s. Sie neigte ihren reizenden Kopf zu ihm hin, ihre schlanken weißen Finger spielten vor seinen Augen, und es war in dieser Stellung, als der Jüngling ihr bebend zuflüsterte: „Ich liebe Euch!“

„Für heut’ Abend!“ antwortete sie leicht hin – die Rose hatte ihren Platz gefunden.

„Für die Ewigkeit!“

„So sagen alle Männer und ich glaube keinem mehr!“

„Ihr müßt mir glauben!“

„Gebt mir eine Probe!“

„Welche Ihr wollt! Sprecht nur, sprecht – ich bin bereit Alles für Euch zu thun!“

„Die Damen der Liebeshöfe erhörten ihre Ritter allezeit nur nach einer siegreich bestandenen Liebesprobe.“

„Soll ich für Euch sterben?“

„Nein, nur Madame St. Amaranthe, die unwiderstehliche Frau von Wachs, in dieser Stunde besuchen und ihr meine Rose bringen.“

Guy wurde todtenbleich.

„Wählt etwas Anderes!“ stammelte er. „Ich muß Euch ein Geständniß ablegen, ich war nie in der Schreckenskammer der Madame Tussaud, nie in dieser schauerlichen Ausstellung menschlicher Gebilde, die das Leben nachäffen und doch todt sind. Als Kind hatte man mich dazu zwingen wollen: man trug mich ohnmächtig nach Hause.“

„Und jetzt?! Und Ihr sagt, Ihr liebtet mich? Geht, Guy, Ihr seid ein –“

„Haltet ein, still! Ich gehe! Aber, daß Keiner hier erfährt, wohin,“ sagte jetzt der junge Mann mit fliegendem Athem und düsterm Blick. „Ihr sollt in mir keinen Feigling finden. Wie aber komme ich zu dieser Stunde dort hinein?“

„Hier ist ein kleiner Schlüssel, er schließt die Seitenthür des ersten Saales. Nennt dem Portier im Hause meinen Namen und er wird Euch einlassen. Ich kenne den Sohn der Tussaud. Wir haben jetzt kaum zehn Uhr. Ein Wagen bringt Euch rasch nach Kensington-Garden. Ihr wißt, das Museum liegt in der Bakerstreet. Verschafft Euch eine kleine Laterne vom Diener der Cyrilla. Am Eingang der schwarz ausgeschlagenen Schreckenskammer, die alle Schauer der Guillotine und alle großen Verbrecher Englands vereinigt, steht eine Girandole mit Kerzen. Ihr werdet sie anzünden und dann Madame St. Amaranthe in dem vollsten Lichtglanz erblicken. Schaut sie wohl an, legt diese Rose in ihre Hand und erzählt mir, ob sie Euch erlaubt hat, mich ferner zu lieben. Ich erwarte Euch hier, noch diese Nacht, Guy! Geht, besiegt sie Alle, die je von Liebe zu mir geredet.“

Er fühlte einen kleinen Schlüssel in seiner Hand und erhob sich wie im Traume.

„Wohin gehst Du?“ fragte Francis, der mit wachsender Unruhe das leise Geflüster beobachtet.

„Er wird mir einen Ritterdienst erweisen und ein Buch holen, von dem wir geredet,“ antwortete die Schauspielerin der Variétés ruhig.

„Schicke doch den Diener, mein Liebling, die Nacht ist kalt und rauh und Du fieberst.“

„Ich nehme einen Wagen und bin in einer Stunde wieder hier. Lebt wohl, Francis!“ Er reichte dem Bruder die Hand, grüßte die Gesellschaft und ging. Francis machte Miene ihm zu folgen, ein lächelnder Blick Melusine’s ließ ihn bleiben. Sie rückte ihren Sessel nahe an den seinen.

„Ihr liebt ihn wohl sehr, den schönen Knaben?“ fragte sie.

„Sehr, Ihr wißt es ja längst.“

„Mehr als Lady Geraldine?“

Eine glühende Röthe schoß in sein Gesicht. Er hielt ihren grausamen Blick nicht aus.

„Viel mehr!“ stammelte er endlich, kaum hörbar.

„Singt, Marino!“ befahl Melusine jetzt sich an den schönen Italiener wendend. „Ich höre sie so gern, Eure lügenhaften Lieder von ewiger Liebe und unauslöschlicher Gluth!“

Man schlug den Flügel auf, Marino sang.

„Die Kerzen brennen heut so dunkel und Eure Lieder klingen matt und traurig,“ sagte Prinzessin Champagner nach einiger Zeit, „laßt mich singen!“ Und sie sang, das gefüllte Glas in der Hand, das Trinklied Orsino’s aus der Lucrezia Borgia. Wie reizend klang diese verschleierte Stimme, wie bezaubernd war der Vortrag der Sängerin, wie durchzuckte es die Hörer, dies übermüthige Lied; mit welchem Feuer fielen sie ein in den Refrain! Darauf folgte ein keckes Couplet dem andern; es war gesungener, sprudelnder Champagner. Ausgelassenste Heiterkeit verbreitete sich am Tage Allerseelen unter den Gästen der Cyrilla. Man stimmte mit ein, man jubelte dazwischen, man warf sich mit Blumen, man bewunderte einander, und vor Allen bewunderte man Prinzessin Champagner.

O, wie schön sie war, wie verführerisch! Wie sie glühte und leuchtete! Francis vergaß bei ihrem Anblick seinen jungen Bruder und alle Sorgen – Lady Geraldine hatte er längst vergessen.




Das weltberühmte Cabinet der Französin Madame Tussaud, der Freundin des Scharfrichters Sanson, liegt in der Bakerstreet in nicht allzugroßer Entfernung von Kensington-Garden. Jeder Fremde besucht unter seltsamen Schauern jene schweigende Versammlung von Todten, die sich mit dem Schein des Lebens geschmückt haben. Alle Berühmtheiten der Welt sind hier in täuschender Nachbildung gleichsam versteinert aufbewahrt für eine neugierige, schaulustige Nachwelt. Könige und Königinnen. Lebende und Gestorbene, Künstler, Gelehrte und Dichter, sowie Giftmischer, Mörder und Räuber haben sich hier zusammengefunden, die Letzteren freilich in jenem dunklen Raume, den man „Schreckenskammer“ nennt. Ein Besuch bei Madame Tussaud verwandelt den heitersten Tag in einen nebelvollen, die froheste Laune in ein schwermüthiges Sinnen; diese Räume haben einen Reiz ähnlich jenem süßen Grauen, dessen wir uns aus unserer Kinderzeit erinnern, wenn die Mutter uns im halbdunkeln Zimmer Märchen erzählte. Da hätten wir auch lieber um Licht, helles Licht gebeten, und doch hielt es uns im Dunkeln fest, wir wollten nicht in die Ecke am Ofen hinschauen, denn es war sicher, daß sich dort etwas Schattenhaftes regte und bewegte, und wir wendeten trotzdem unsere Augen wieder und wieder dahin. Genau so ist’s mit der Schreckenskammer, sie zieht uns mächtig an und unser Herz klopft doch so wild, wenn wir sie betreten. Eine Nacht in einer Kirche verlebt, die Mitternachtsstunde

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