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verschiedene: Die Gartenlaube (1865)

„Mein Gott, wie romantisch!“ sagte die Köhler. „Was ist daraus zu machen?“

„Ich will ihn suchen!“ sagte die junge Frau plötzlich fest, „Jacques mag mitgehen!“

„Gütiger Himmel, Kind, Du träumst! Es regnet und Du bist im Brautanzuge. Laß Jacques allein gehen oder kleide Dich wenigstens erst um. Es wird ein Scherz sein, eine Verkleidung, eine verzweifelnde Geliebte, die in Männerkleidung zu ihm kommt,“ flüsterte sie; „man kennt das Leben der jungen Elegants in Paris.“

„Warten Sie hier auf mich, ich bin gleich wieder da, liebe Köhler,“ bat Melanie, indem sie einen Regenmantel überwarf, der ihre ganze Gestalt umhüllte. Die Capuze zog sie über den Kopf.

„Komm, Jacques,“ sagte sie dann fast gebieterisch und wandte sich rasch der Treppe zu.

„Aber Melanie, ohne Ueberschuhe!“ rief das Fräulein verzweifelnd.

Keine Antwort. Unaufhaltsam eilten die kleinen Füße die Treppenstufen hinab über den Gang durch eine Seitenthür in den Park. Hier traten die Atlasschuhe auf feuchtes Laub, ein feiner Regen rieselte nieder, die junge Frau schauerte fröstelnd zusammen.

Weiter und weiter flog sie an all’ jenen Plätzen vorüber, wo sie so fröhlich gewesen, wo sie, in träumerisches Glücksgefühl versenkt, auf- und niedergegangen. Dort war die große Buche, unter deren Schatten so oft der Zeichentisch stand – da der heitere Rasenplatz, wo sie Reifen gespielt – wie ungeschickt jener Eine oft gewesen war! – hier tauchte die kleine Gruppe Trauerweiden auf, wo sie so manche Stunde verplaudert – wie Alles verwandelt aussah, so fremd und schauerlich! Immer näher kam der melancholische Tannenwald mit dem kleinen Teich und dem großen, freien Platz, in dessen Mitte die kleine Einsiedelei stand. Jacques vermochte ihr kaum zu folgen. Aber wie still war Alles, keine Antwort kam auf ihre rufende Stimme, nur das Rieseln und Tropfen des Regens schlug an ihr lauschendes Ohr. Vorwärts, weiter! Endlich bog sie um die Ecke. Still! Seufzte da nicht ein Mensch so recht aus der tiefsten Tiefe der Brust? Sie blieb stehen. Alles Blut erstarrte in ihren Adern, das Herz stand still vor Schrecken. Und jetzt noch einmal! Wieder ein unbeschreiblicher Seufzer.

„Wir hätten die Laterne mitnehmen sollen,“ stammelte Jacques furchtsam.

Sie antwortete nicht, sondern schritt zögernd weiter. Plötzlich stieß sie einen hellen Schrei aus; vor ihr am Boden, bei einer Biegung des Weges, am Eingang zum Platze der Einsiedelei, lag ein menschlicher Körper, der Körper eines Mannes, so dicht, daß ihr Fuß ihn berührte.

Die junge Frau sank neben ihm in die Kniee. Zitternd tastete sie nach dem Kopfe. Er war verhüllt in den Falten eines schwarzen Mantels. Ihre bebenden Hände rissen ihn weg, ihre Augen bohrten sich in die bleichen Züge, die ihr jetzt entgegenstarrten. Sie erkannte das Gesicht trotz der Dunkelheit, als sie mit den Fingern darüber hinglitt. „Licht, Hülfe!“ schrie sie auf.

Dann bettete sie das gesunkene Haupt an ihre Brust. Sie riß ihren Mantel ab, um ihn bequemer zu unterstützen. Ein tiefer, klagender Seufzer zog in demselben Augenblick wieder über die Lippen des Bewußtlosen. Melanie neigte ihr Gesicht zu ihm herab, dicht auf seine Stirn; sie redete zu ihm fliegende Worte voll wahnsinniger Zärtlichkeit, voll glühender Leidenschaft. Der Regen hatte aufgehört, die Wolken zerrissen, wie von einer mächtigen Hand bei Seite geschoben, ein kalter Mondschimmer flog daher und beleuchtete die todestraurige Gruppe: eine Frau von wenig Stunden, in Spitzen und Schleier neben einem Sterbenden knieend, seinen kaum hörbaren Lauten lauschend und ihre Lippen auf die seinen pressend, Stirn an Stirn, Hand in Hand mit ihm. So fanden sie die Diener, so das jammernde Fräulein, so der alte Herr und ein Theil der entsetzten Hochzeitsgäste. Die Kunde, der Bräutigam, der heitere, liebenswürdige Alphons, der unvergleichliche Gesellschafter, sei ermordet, hatte sich mit Blitzesschnelle verbreitet. Man wurde plötzlich rein menschllch und stürzte in einer Aufwallung von wirklichem, thatendurstigem Mitleid in den Garten. Licht, volles Licht fiel auf eine ohnmächtige Frau und einen Todten, den sie fest in ihren Armen hielt. Ihr Brautschleier und die Fluth ihres gelösten Haares floß über ihn hin. Aus einer Wunde in der Brust war das Lebensblut dahingeströmt. Das Spitzenkleid war in Blut getaucht, der blutgetränkte Myrthenkranz lag auf dem Saume des Mantels. Mit einem Weheschrei stürzte der Vater auf sein Kind zu, und während er sanft die Tochter aufzuheben, loszulösen versuchte, richtete eine andere Hand das todte Antlitz des Mannes empor. Ein Gemurmel des Entsetzens wurde laut, alle Augen hatten das schöne, traurige Gesicht des fremden Malers erkannt, der vor wenigen Monaten der Gast des Schlosses gewesen, der Ermordete war – Gaston Dumont.




Alphons Dacier war zu derselben Stunde entflohen. Ein an seinen Schwiegervater am andern Tage eintreffender Brief zeigte diesem seine Reise nach Amerika an und verhieß in Kurzem nähere Aufklärung über das beklagenswerthe Ereigniß. Mittlerweile lag die junge Frau bewußtlos darnieder und die Leiche Gaston’s wurde in die M.’sche Familiengruft auf dem stillen Dorfkirchhof zur Ruhe gebracht. Als das Gitterthor des Parkes sich öffnete, um den Trauerzug hinauszulassen, saß Ludmilla Köhler am Bette ihres todtkranken Pfleglings und las in ihrer Angst und Trauer das Lied von den Schlafenden:

„Wie sie so sanft ruhn –-“

Aber das schöne Wesen mit den fieberglühenden Wangen und irren Augen hörte nicht auf die frommen Trostworte. In ihren Phantasien erschien im hellen Sonnenlicht „der heitre Garten“, wo sie seiner zu warten pflegte. Sie redete laut mit dem Geliebten, sie lächelte ihm zu, sie schalt ihn zärtlich, daß er immer den schwarzen Mantel trage.

Und das Fräulein schlug das Buch leise zu und faltete ihre Hände: da war die Tragödie, die Ludmilla Köhler zu erleben sich so frevelhaft ersehnt!




Die versprochene Aufklärung des düstern Vorfalls, der die ganze Gegend aufregte, ließ nicht lange auf sich warten. Alphons schrieb von Hamburg aus, am Bord der Helena, daß er an jenem Hochzeitstage auf die Meldung, daß ein Fremder ihn eilig zu sprechen wünsche, Gaston in seinem Zimmer gefunden habe. Seine tiefe Trauerkleidung und sein seltsam feierliches Wesen haben ihm sofort den Zweck seines Kommens erklärt. „Ich bin frei und werfe Ihnen den Feigling in’s Gesicht zurück!“ habe er ihn angeredet, „vor acht Tagen begrub ich meine Mutter. Sie starb in Frieden. Heut komme ich nur, um Sie zu fragen, wann Sie bereit sind sich mit mir zu schlagen!“

Alphons fühlte eine wilde Gereiztheit in sich aufwallen.

„Zur Stelle!“ hatte er übermüthig geantwortet.

„An Ihrem Hochzeitstage?

„Ja, ich brenne vor Verlangen, Ihren Muth zu erproben. Wer weiß, Sie kamen wohl nur in der Voraussetzung, daß ich mich nicht schlagen werde an dem heutigen Tage, und hätten nachher geprahlt in heimlichen Briefen an mein Weib!“

Ein Schlag in’s Gesicht war die Antwort.

Eine halbe Stunde später stand man mit den Waffen in der Hand auf dem Platze vor der Einsiedelei einander gegenüber.

Die entschiedene Absicht, ihn zu schonen, die aus allen Ausfällen Gaston’s hervortrat, erbitterte seinen Gegner nur noch mehr. Er haßte ihn, er wollte ihn für immer aus der Nähe Melanie’s entfernen, er ahnte, wie gefährlich er dem Herzen seiner Braut geworden war, und wenn ihn auch nicht gekränkte Liebe zu dieser Wuth stachelte, denn seine Neigung zu dem jungen Mädchen war kaum mehr als ein ziemlich lebhaftes Wohlgefallen, so trieb ihn gekränkte Eitelkeit, diesem Mann irgend einen empfindlichen Streich zu spielen. Ihn zu tödten, daran hatte er nicht gedacht; der unglückliche Streich, der Gaston niederwarf, entsetzte ihn über alle Maßen. Er schilderte den Zustand seiner Seele als einen verzweifelten und bat seine junge Frau flehentlich, ihm zu verzeihen und seinem Herzen die Hoffnung zu lassen, sie einst wiederzusehen. In Baltimore wartete er auf die Nachrichten aus dem grauen Schlosse.

Lange Zeit blieb der Zustand der jungen Frau zweifelhaft, man fürchtete abwechselnd für ihr Leben und ihren Verstand. Aber sie genas allmählich vollständig und lieferte ihrer alten Erzieherin den Beweis, daß die Menschen in der Wirklichkeit viel seltener an Herzeleid sterben, als in den Romanen, und daß der Tod nie kommt, wenn man ihn ruft. Melanie’s Ehe wurde auf ihren festen und bestimmten Wunsch, der gar keinen Widerspruch zuließ, getrennt. Sie lebte fort und fort bei ihrem Vater, der in rührender Weise bemüht war, ihren blassen Lippen

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