Seite:Die Gartenlaube (1865) 684.jpg

Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
verschiedene: Die Gartenlaube (1865)

Nahrung für seinen Geist und Anregung zu neuer That sog, so nimmt er sogar noch Theil an den methodischen Bestrebungen der Gegenwart und erfreut die vorwärtsstrebende Lehrerwelt nicht allein durch die Lichtblitze und Leuchtkugeln seiner rücksichtslosen Kritik, sondern auch noch durch eigene Schöpfungen, wodurch er die überaus zahlreichen Produkte seines Geistes noch immer zu vermehren weiß. Wer kennt sie nicht? Wer ist nicht durch sie angeregt und belehrt worden? Wer unter den strebsamen Lehrern hat nicht seinen anregenden, läuternden und erhebenden Einfluß verspürt? Sein Geist steht da in voller Blüthe, während der Leib fast als ein zu armseliger Träger dieses Geistes erscheint. Und diesen Leib schont der gegen sich rücksichtslose Mann in keiner Weise. Kaum kann er sich überwinden, dem nagenden Zahne der Zeit irgendwelchen Einfluß einzuräumen. Eine Lehrerversammlung ist in Potsdam. Er muß hinüber und mitten unter denen sein, die sich im Dienste der Sache versammeln, der er sein reiches Leben gewidmet hat. Auf der Rückreise versagt im Wartezimmer der wackelige Stuhl seinen Dienst. Er fällt und bricht den dritten Finger der rechten Hand. Der Finger blieb steif; aber er hinderte ihn nicht, mit der verstümmelten Hand die Feder eben so eifrig zu führen, wie sonst. Und jetzt, am 29. October d. J., tritt er ein in sein sechs- und siebenzigstes Lebensjahr.[1]

Diesterweg.
Marmorbüste von Albert Wolf.

Die Anerkennung, welche er im Alter in den oberen Regionen nicht gefunden, ist ihm unten zu Theil geworden. Die Stadt Berlin wählte ihn zu ihrem Stadtverordneten und wiederholt in die Kammer hinein. Seine Wirksamkeit als Abgeordneter und seine Parteistellung sind bekannt. Diesterweg ist freilich kein Politiker, sondern durch und durch Pädagoge. Schule und Erziehung bieten die eigentliche Stätte seiner Wirksamkeit; die deutsche Jugend und die deutsche Lehrerschaft genießen die Früchte seiner Saat. Darum ist es in der Ordnung, daß die deutschen Lehrer ihn nicht erst sterben lassen, um dem Todten zu räuchern, sondern ihm einen Theil der schuldigen Dankbarkeit schon bei seinen Lebzeiten abtragen und sich dadurch selber ehren. Das charakterlose und furchtsame Gesindel unter den Lehrern wird sich freilich hüten, dem Mißliebigen kund zu thun, was es für ihn empfindet; aber die Charaktervollen treten gottlob hervor. Sie haben von Meisterhand eine Büste anfertigen lassen, deren Bild hier wiedergegeben ist. Mögen sie diese Büste mit denselben Gefühlen nur tragen, wie er dereinst Pestalozzi’s Büste getragen hat! Auch in weiteren Kreisen regt sich’s, und die deutschen Lehrer werden dem deutschen Manne hoffentlich ad oculos demonstriren, „daß Dankbarkeit auf Erden nicht ausgestorben sei“.



  1. Ein ausführliches Lebens- und Charakterbild Diesterweg’s brachte die Gartenlaube bereits 1857, Nr. 10 und 11.
Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Die Gartenlaube (1865). Ernst Keil, Leipzig 1865, Seite 684. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1865)_684.jpg&oldid=- (Version vom 3.11.2022)