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verschiedene: Die Gartenlaube (1865)

Rhiem dem Rauhen Hause vindiciren wollte, konnte ich nicht gelten lassen. „Wir wollen,“ sagte Jener, „im Grunde nur dasselbe, was Schulze-Delitzsch mit seinen Genossenschaften, das Volk emporheben aus dem physischen und sittlichen Elend!“ – „Das kommt mir seltsam vor,“ entgegnete ich, „denn noch vor ein paar Tagen las ich in Wichern’s ,fliegenden Blättern aus dem Rauhen Hause (1864)’ einen von Wichern geschriebenen Aufsatz, worin derselbe constatirt, daß die Berliner Arbeiter und Genossenschafter sich auf das allen Religionen gleich heilige Gebot der Nächstenliebe und auf den Satz: .Bedenke, Mensch, wie groß Du bist, Dein Wille Dein Erlöser ist,' berufen, und in Folge deß ein Lamento anstimmt, daß man vom Christenthum nichts mehr wisse.“ – „Ich erinnere mich deß nicht,“ meinte Herr Rhiem, „aber – Wichern ist doch auch nicht das Rauhe Haus.“

Demjenigen, der das Rauhe Haus und die innere Mission kennt, wird diese, – darf ich sagen Verleugnung? – des Meisters nicht gar zu auffallend erscheinen. Die Partei weiß sich – auch darin ihrem katholischen Vorbilde ähnlich – nach dem Erforderniß des Augenblicks zu richten und nach der Decke zu strecken. „Bei Jünglingen,“ räth der Stuttgarter Prälat von Kapff, in einer vom Rauhen Hause verlegten, vom Centralausschusse der innern Mission herausgegebenen, gekrönten Preisschrift, „bei Jünglingen dürfen wir aber nicht zu fromm sein.“ Und als mein Freund Ludwig Walesrode vor mehreren Jahren die Anstalt in Horn besuchte, entschuldigte sich ihm gegenüber einer der höheren Beamten des Instituts wegen der Inverlagnahme und wegen des Vertriebs des berüchtigten schmutzigen Romans „Eritis sicut deus“ damit, daß derselbe von hoher Hand dem Rauhen Hause übermittelt worden. Eine Entschuldigung freilich, aber was für eine!

Indeß über das Wesen und die Tendenz des Rauhen Hauses kann trotz alledem für jeden nur ein wenig schärfer Hinblickenden kein Zweifel sein. Die Gesammtliteratur, der Gesammtverlag des Instituts ist eine untrügliche Quelle und ein unverdächtiger Zeuge.

Auf die eben citirte Schrift von Kapff, „die Revolution, ihre Ursachen, Folgen und Heilmittel“, mache ich vor allen Dingen aufmerksam. Sie ist ihrem Inhalte nach gleichsam das Compendium der Tendenzen der innern Mission, und der Preis, der ihr ertheilt ist, bürgt für das Ansehen, in dem sie steht. Nach ihr giebt es nur eine gemeinsame Quelle alles Bösen – den unkirchlichen, unchristlichen, ungläubigen Sinn, nur ein Heilmittel – den positiven Glauben. Zu dem grausen Bilde, das dort von der Revolution entworfen wird, haben die Schriften Heinzen’s, wie die Crawalle von 1848, die Bestrebungen der Demokratie, der liberalen Opposition und des flügellahmsten Fortschritts die Farben liefern müssen; Atheismus und Communismus, Rationalismus und Republicanismus ist bunt durcheinandergemengt; Alles, was freie Menschen lieben, wird verketzert, verdammt und denuncirt. Unsere Dichter, unsere Philosophen, unsere politischen Märtyrer werden begeifert; die Ideale Schiller’s sind nicht „hoch“ genug, weil der Glaube darin fehlt; gegen die Entwicklung der Wissenschaft, gegen die Freiheit der Presse und der Vereine ruft man das Evangelium und daneben den Polizeistaat zu Hülfe. Mit ekelerregender Lust wühlt der Prälat in den menschlichen Fehlern und Lastern, mit widerlichem Behagen verweilt er bei den einzelnen, bei jedem versichernd, daß die unchristlichen und unkirchlichen wie die rebellischen Gesinnungen daraus hervorgingen. Ich glaube, es giebt keine Gemeinheit, die der würtembergische Generalsuperintendent nicht hervorzieht. Er spricht des Breiteren von der Sünde Onan’s und setzt hinzu: „Wie bei vielen Ungläubigen, so gewiß (was wohl ein Lessing’scher Graf Appiani zu diesem „gewiß“ sagen würde?) bei vielen Revolutionären ist diese Sünde der Wurm, der das Herzblatt des Lebens zerfressen hat und taub macht gegen jede bessere Stimme.“ Er deutet auf den Gräuel Sodoms hin und fügt bei: „So beschmutzte Seelen sind natürlich Empörer gegen Gott und gegen alles göttliche und menschliche Gesetz.“ Jene jesuitische Methode, wonach die Wurzel aller freien Bestrebungen in den unfläthigsten Lastern, die Wurzel der unfläthigsten Laster im Abfall vom Glauben gesucht wird, jene Methode ist die des Prälaten Kapff und der inneren Mission überhaupt.

Denn die Winke, die der Prälat giebt, sind in den übrigen Schriften des Rauhen Hauses nur zu gut befolgt. Ich habe die meisten dieser Schriften gelesen, darunter gegen sechszig „Schillingsbücher“. Die letzteren verdienen vor allen Dingen Beachtung. Es sind lauter kleine Hefte von wenigen Bogen, großentheils je eine tendentiöse, novellistische Erzählung enthaltend. Ich weiß nicht, was ich an ihnen mehr bewundern soll, das Geschick, auf die verschiedensten Interessen, Bedürfnisse und Ideen des Volks einzugehen, oder das Geschick zu verleumden. Die Personen, welche redend und handelnd eingeführt werden, sind aus allen Sphären des niedern Lebens: das eine Mal ein reicher Bauer, das andere Mal eine arme Näherin, dann ein paar Buchdrucker, ein Messerschmied, ein Stadtsoldat, ein Schiffer etc. Bald ist die Tendenz recht grell aufgetragen, bald so versteckt, daß sie nur der Kundige findet, etwa in einem Hinweis auf die segensreiche Wirksamkeit Wichern’s und des Rauhen Hauses. Das ganze Register der specifisch-christlichen Töne, von der drastischen und cynischen Sprache der „Kreuzzeitung“ bis zu der jeden Anstoß meidenden Redeweise des „Daheim“, kann man da studiren. Auf die ökonomischen und materiellen Verhältnisse der kleinen Leute nehmen die Schillingsbücher besondere Rücksicht. Manchmal scheint es deshalb bei flüchtiger Lectüre sogar, als sei die Empfehlung der Sparsamkeit, der Ordnung, kurz der wirthschaftlichen und bürgerlichen Tugenden der einzige Zweck, bis man genauer nachsieht und den Hinweis auf den Glauben entdeckt. Tugend ohne den Glauben ist keine Tugend. „Ehrlichkeit,“ heißt es in einer Erzählung, „ist nur ein leeres Traumbild ohne die schauerlich bestätigende Bürgschaft des Himmels und der Hölle.“ Auch die reactionäre politische Tendenz offenbart sich oft nur in scheinbar ganz beiläufig hingeworfenen Bemerkungen; so etwa, wie in der Erzählung „Mönchsküche“ am Schlusse ein Säugling auftaucht mit einer schwarz-weißen Fahne in der Hand, oder wie in dem Schillingsbuche „nur ein Schwein“ den königstreuen Sackträgern von Danzig, denen gegenüber „die Demokraten und Rebellen sich nicht hätten mucksen dürfen“, eine Standrede gehalten wird.

Viele Schillingsbücher aber gehen directer auf das Ziel der innern Mission los und lassen deren Fahne freier flattern. Die politisch-religiöse Reaction spricht aus ihnen ohne Blume und ohne Scham und behandelt in allen möglichen Nüancirungen das Thema: aus der moralischen Verkommenheit entspringen der Unglaube und der politische Liberalismus und umgekehrt. Hier macht man sich die Sache einfach: man hält sich nicht etwa bei den Abstufungen des politischen und religiösen Liberalismus auf, man verurtheilt in Bausch und Bogen; man spricht sein Schuldig auf Motive hin, welche zwar nicht der Sache selbst entnommen, aber dem Volke verständlich sind; die Personen der Gegenpartei, welche geschildert werden, entbehren aller Moralität, sie sind schlechte Haushalter, unordentliche Leute, Verschwender, Trunkenbolde, Lügner etc. Die Demokraten, die Republicaner, die Freien und Freigemeindler, diejenigen, welche die Portraits freigemeindlicher Prediger oder dasjenige Robert Blum’s auf ihrem Zimmer hängen haben, sind regelmäßig verluderte Subjecte. Die Handwerkervereine – natürlich die Jünglingsvereine der innern Mission ausgenommen – sind die Brutstätten des liederlichen und lasterhaften Lebens; der schwarze Kasten am Rathhause, wo man die Civilehen proclamirt, wird signalisirt als ein Schlupfwinkel für liederliche Dirnen und unehrliche Mädchen.

Was die Wirkung dieser vergifteten Pfeile, welche die Schillingsbücher in Gestalt von Anklagen auf Immoralität und von Denunciationen auf den gesammten Liberalismus abschießen, glücklicherweise schwächt, ist die anderweitige Inhaltlosigkeit und geistige Armuth jener Scharteken.

Auf eine Widerlegung der gegnerischen Meinungen, auf Gründe lassen sie sich nicht ein. In einem der Hefte wird einem Gläubigen eine Schrift gegeben, welche die Wunder Jesu kritisirt und von Widersprüchen in der Bibel redet; es wird sodann gefragt: „Was sagst Du dazu?“

„Gar nichts!“ sagte der Gefragte.

„Gar nichts?“

„Nein, gar nichts, denn mit Leuten, die dergleichen schreiben und die dergleichen für wahr halten, läßt sich nicht disputiren und aus dem Disputiren kommt ohnedies nichts heraus. Ich für meinen Theil thue dies nicht mehr. Wer zum Glauben nicht Lust hat, wird ihn aus dem Disputiren nicht lernen.“

Selbstverständlich sind damit die Schriften Strauß’s, Renan’s, Schenkel’s, Wislicenus’ und die Bestrebungen des Protestantentags verurtheilt.

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verschiedene: Die Gartenlaube (1865). Ernst Keil, Leipzig 1865, Seite 680. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1865)_680.jpg&oldid=- (Version vom 3.11.2022)