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verschiedene: Die Gartenlaube (1865)

in der Anstalt Zöglinge sind, welche vor ihrem Eintrit den Diebstahl schon handwerksmäßig betrieben hatten, in die Reize eines liederlichen Vagabundenlebens und die Genüsse berauschender Getränke bereits tief eingeweiht waren, so verlieren diese ohnehin verhältnißmäßig seltenen Fälle ihr Auffallendes. Eine straffe Disciplin ist für eine solche Anstalt unerläßlich; von einer barbarischen Disciplin sind trotz der Wachsamkeit des Hamburger Publicums und trotz der offenen Thüren keine Fälle constatirt. Auch zu der landläufigen Behauptung, das Rauhe Haus erziehe die Kinder zu Kopfhängern und Pietisten, muß ich einen Vorbehalt machen. Was man für gewöhnlich Kopfhängerei nennt, der mondsüchtige, süßliche, sentimentale Pietismus der Romantiker regiert im Rauhen Hause nicht. Nicht, als ob es an Gewinsel über Sünde und Sündhaftigkeit fehlte, aber dasselbe hat ein Gegengewicht an dem Nachdruck, der auf den rechten Glauben, auf das orthodoxe Bekenntniß gelegt wird.

Endlich ist man in Hamburgs liberalen Kreisen wohl nicht immer ganz gerecht in Bezug auf die praktischen Leistungen der Kinderanstalt. Ich habe zahlreiche Hamburger Handwerker gefragt und von ihnen die einstimmige Antwort erhalten: „Man nimmt die Zöglinge des Rauhen Hauses ungern als Lehrlinge, sie werden leicht rückfällig oder sind heuchlerische Betbrüder.“ Es wird etwas Wahres hieran sein. Die Alternative, Rückfällige oder Heuchler zu werden, liegt für junge Menschen, welche aus einer mit Religion übersättigten Treibhausluft in die kühlere wirkliche Welt treten, sehr nahe. Der Unterschied ist zu groß, die meisten Zöglinge ergreifen ein Handwerk, gehen in Seedienst oder werden Knechte und Mägde – wer die religiöse, Freunde des Rauhen Hauses sagen natürlich die irreligiöse, Stimmung dieser Hamburger Kreise kennt, wird es von vornherein bezweifeln, daß die von Wichern und den „Brüdern“ gegebene Parole dort durchweg befolgt wird. Indeß muß man Zweierlei in Anschlag bringen: erstens, daß der in unserm großstädtischen Leben sonst ganz allgemeine Trieb, im Leben emporzukommen und es weiter zu bringen als es die Eltern gebracht haben, in der Kinderanstalt nicht nur nicht gepflegt, sondern eher systematisch unterdrückt wird; man giebt den austretenden Zöglingen durchschnittlich nur die dürftigsten Kenntnisse mit und predigt ihnen unter dem Namen der christlichen Demuth das bescheidene und resignirte Verharren auf den untersten Sprossen der socialen Rangleiter. Zweitens bemüht sich die Verwaltung des Rauhen Hauses nach Kräften, die Verbindung mit den entlassenen Kindern aufrecht zu erhalten, sie sorgt für deren Unterkommen bei frommen Meistern, in „christlichen“ Familien; sie versieht sie mit Lectüre, läßt sie durch Sendbrüder besuchen und heißt sie willkommen in der Anstalt, wenn sie dort Rath und Hülfe suchen oder die Festlichkeiten des Rauhen Hauses mit begehen wollen. Wie der niedrige Stand der Bildung aber ein Präservativ gegen die Heuchelei, so ist der dauernde Zusammenhang mit dem Mutterhause ein Präservativ gegen den Rückfall in alte Fehler oder Laster. Fasse ich Alles in Allem zusammen, so möchte ich dem Rauhen Hause das Verdienst nicht bestreiten, daß es jährlich zwanzig bis dreißig Kinder von der Gasse hinwegnimmt und an ein geordnetes, den Gesetzen entsprechendes Leben gewöhnt.

Und doch war die Rede von den schlimmsten Gegnern? Gewiß. Verirrt sich die in Hamburg herrschende Antipathie gegen die Rettungsanstalt auch hier und da zu schlechtbegründeten Anklagen und kleinlichen Urtheilen, so ist der antipathische Instinct im Ganzen doch nur zu wohl berechtigt. Ich habe schon einmal gesagt, daß man die Kinderanstalt nicht ablösen darf von dem Gesammtzweck des Rauhen Hauses: sie ist ein festeingefügtes Glied des Ganzen, ein integrirender Bestandtheil des großen, dem Dienste der inneren Mission geweihten Instituts.

Das Rauhe Haus mit allen seinen Verzweigungen ist ein geschlossener Cirkel. Brüder arbeiten als Missionäre in Hamburg und schaffen das lebendige Material für die Kinderanstalt; die Kinderanstalt ist das Recrutirungsmagazin für die „Brüderschaft“, denn die fähigeren unter den Kindern werden zu Gehülfen ausgebildet; die Kinder sind das Object, an dem die Brüder ihre Studien machen. Die literarische Propaganda wirkt für die Kinderanstalt; die letztere als in die Augen springendes Monument des Strebens und Schaffens für die Brüderanstalt und die Literatur des Rauhen Hauses. Dazwischen eingefügt, der Kinderanstalt coordinirt, steht das Pensionat, den höheren Sphären der Gesellschaft bietend, was jene den niederen Kreisen leistet. Alles aber – Unterricht und Literatur, Brüderschaft und Rettungsinstitut – durchdringt derselbe Sinn, derselbe Gedanke, derselbe Geist, der Geist der innern Mission.

Der Geist der innern Mission! Die innere Mission datirt in ihrer äußern und innern Bestimmtheit bekanntlich vom Jahre 1848. In Wittenberg trat damals eine Versammlung von etwa fünfhundert Personen, großentheils protestantische Geistliche, zusammen, das eigentliche Gegenparlament der Frankfurter constituirenden Versammlung. Sie schleuderte ihr Anathema gegen die volksthümlichen Bestrebungen, das Vaterland einig und frei zu machen, proclamirte das Festhalten am positiven, geoffenbarten Glauben als Mittel und Zweck ihres Wirkens und Strebens und setzte, energischer als das Frankfurter Parlament, sofort einen Vollziehungs-Ausschuß nieder, den Central-Ausschuß für die innere Mission. Der Central-Ausschuß hatte seinen Sitz in Hamburg und in Berlin. Wichern war die Seele des Ausschusses, wie er es noch heute ist. Was bisher an christlichen Rettungshäusern, christlichen Vereinen vereinzelt bestanden hatte, wurde nun in Zusammenhang gebracht. An die innere Mission klammerten sich alle religiösen, der freien Entwicklung feindlichen Elemente. An ihr rankten der preußische Treubund und ähnliche Vereine empor. Auf sie stützten, mit ihr verbündeten sich die Regierungen, von Manteuffel bis zu Hassenpflug und Hannibal Fischer und Bismarck. Hauptquartier und Arsenal ward das Rauhe Haus. Der geschmeidige Wichern besaß das Vertrauen Friedrich Wilhelm’s des Vierten und seiner Gemahlin Elisabeth; er wußte auch die höchsten Persönlichkeiten des jetzt regierenden Königshauses zu gewinnen. Er schlich sich mit bewundernswerther Gewandtheit von der Manteuffelei durch die „neue Aera“ zur neuesten Reactionsperiode. Er spielt, mutatis mutandis, bei den Hohenzollern der Gegenwart die Rolle des Pater Joseph bei dem Habsburger Ferdinand des siebzehnten Jahrhunderts. Von Missionswegen predigt man Gehorsam gegen die factisch bestehende Obrigkeit; von Regierungswegen empfiehlt man die Schriften der inneren Mission, leistet ihr Vorschub an allen Ecken und Enden und nimmt die Dienste der „Brüder“ in Anspruch.

Es ist eine ganz unverkennbare Aehnlichkeit zwischen dem Jesuitismus in der katholischen Kirche und der innern Mission in der protestantischen Welt. Beide bezeichnen ein krampfiges Emporraffen der altgläubigen gegen die ungläubige Welt. Die innere Mission will gleich der Gesellschaft Jesu den großen welthistorischen Proceß der Entwicklung aufhalten; als eine geharnischte Glaubensarmee wirft sie sich in die Bresche, welche Wissenschaft und Leben in die Dogmatik der protestantischen Secten, in den Buchstabenglauben, in die Lehren der Bibel gebrochen. Alles, was noch fest hält am Bekenntniß, am Buchstaben der Schrift, will sie sammeln; sammeln unter einer Fahne, in einem großen Heer, gegen einen Feind. Darum erscheint sie und erscheinen ihre Jünger in gewissem Sinne vorurtheilslos. Die Parole der innern Mission ist: kein Zank und Zwiespalt unter den Gläubigen; kein Streit um die alten Differenzpunkte unter den protestantischen Parteien, keine Polemik gegen den Katholicismus; fechten die Parteien immerhin unter den alten Fähnlein, wenn sie nur zusammenstehen unter der großen Fahne, als eine geschlossene Phalanx im Kampf gegen die rationalistische, ungläubige und halbgläubige, fortschrittliche oder indifferente Menschheit. So saßen oder sitzen Stahl und Wichern, Nathusius und Bethmann-Hollweg, Nitzsch und v. Tippelskirch, Snethlage und Senfft v. Pilsach (Oberpräsident von Pommern) brüderlich vereint im Central-Ausschuß für die innere Mission. Mögen sie abweichender Meinung sein in Bezug auf diese oder jene dogmatische Subtilitäten oder in Bezug auf einzelne politische Fragen: in der Hauptsache, in der Bekämpfung des gemeinsamen Gegners, sind sie einig.

Diese allerdings sehr begrenzte Vorurtheilslosigkeit hob der Inspector Rhiem, als ich mich mit ihm über die Tendenz des Rauhen Hauses unterhielt, sehr nachdrücklich hervor. „Man identificirt uns häufig mit der Kreuzzeitungspartei,“ sagte er, „aber das ist unrichtig.“ Ich fand keinen Grund, diese Behauptung zu bestreiten; denn in der That steht die Sache so, daß das Rauhe Haus und die innere Mission allerdings nicht eine Fraction der Kreuzzeitungspartei sind, daß die Kreuzzeitungspartei aber eine Fraction der Partei der innern Mission ist. Eine über die oben skizzirten Grenzen hinausreichende Vorurtheilslosigkeit jedoch, die der Inspector

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