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verschiedene: Die Gartenlaube (1865)

Der alte Edelmann lächelte. „Mein Knabe, es galt nicht ihr,“ sagte er besänftigend, „ich wollte Euch treffen, ich glaubte Euch eingeschlafen.“

Ein stolzer Blick war die Antwort, die Lippen des Jünglings zuckten.

„Was hast Du, Guy?“ fragte Francis sich zu ihm herabneigend. In demselben Augenblick berührte die Hand Melusine’s das dunkle Haar ihres jugendlichen Bewunderers, Fast unmerklich glitten sie darüber hin, die schmalen Finger, aber die Wirkung war eine zauberische. Guy zuckte zusammen und wendete den Kopf nach der Schauspielerin um.

„Seid ruhig!“ flüsterte sie mit halbem Lächeln und tauchte ihre Nixenaugen in die seinen. „Ich will, daß Ihr ruhig seid!“

Melusine war in diesem Augenblick die schönste Frau unter diesen blendenden Schönheiten, und nicht nur hier. Dies Lächeln, dies Aufleuchten der Augen war von dämonischem Zauber. Nichts reizt ja weniger, als die Schönheit allein, nur das Fremde, Wunderbare, Ungewöhnliche ist’s, was uns blendet und verwirrt und die Seele in jenen Strudel von Leidenschaft reißt, aus dem es kein Entrinnen giebt. Die Art der Haltung, der Gang, eine gewisse Bewegung, eine Falte zwischen den Augenbrauen, der Ton einer Stimme, der Blick, die Form eines Mundes – alle diese Einzelnheiten können einen Reiz ausüben, der zur Klippe wird, an welcher unser Herz wie unsere Sinne, Tugend und Ehre Schiffbruch leiden.

„Warum tragt Ihr nicht Weiß, wie immer, so oft ich Euch sah?“ fragte Guy jetzt.

„Weil heut’ mein Todestag ist,“ antwortete die Schauspielerin der Variétés.

„Theuerste, keine Gespenstergeschichten, sie sind nicht mehr guter Ton,“ warf Lord Francis hin.

Sie hob den Kopf, um ihn hochmüthig anzusehen. „Plaudert mit den Andern, wenn Ihr Euch fürchtet!“ sagte sie leichthin. „Ich habe eine Frage Eueres Bruders beantwortet. Ja, mein junger Freund,“ fuhr sie mit gedämpfter Stimme fort, sich wieder zu ihrem jugendlichen Anbeter wendend, „ich werde sicherlich einstmals am 2. November sterben, glaubt es mir. Jedes menschliche Geschöpf fühlt durch viele Jahre seinen Sterbetag heraus aus den anderen Tagen.“

„Wie meint Ihr das?“

„Habt Ihr nicht bemerkt, daß an irgend einem Tage Euch Alles ganz besonders schwer erscheint, daß es ohne alle äußere Veranlassung wie Bergeslasten auf Euch liegt; daß Euch nichts gelingt und Euch nichts zerstreut? Erinnert Ihr Euch nicht an Tage, wo Ihr Euch vor Euch selber fürchtet und nicht allein sein mögt? Die Kinder sind an solchen Tagen eigensinnig und trotzig oder weinen viel, die großen Menschen begehen in ihrer dumpfen Angst irgend eine Sünde oder thun einem Andern ein Herzeleid an und werden erst wieder ruhig, wenn jener bedeutungsvolle Tag vorüber. Aber er kommt wieder jedes Jahr, und immer schleicht jene seltsame Todesangst, jene schwere Mahnung durch Leib und Seele, doch wir vergessen, daß er schon einmal da war, denn es kommen oft graue, schwere Tage, und so wissen wir nicht mehr, welcher der graueste, schwerste. An solchen Tagen verräth ein Mann seine Geliebte und verleugnet seinen Freund. Und ein Weib? Nun, ein Weib zieht ein schwarzes Kleid an. Da habt Ihr die Erklärung.“

„Pfui, sei still!“ sagte Cyrilla zusammenschauernd.

„Wenn Ihr an solchen Gespenstertagen spielen solltet, wie dann?“ fragte Marino, der italienische Sänger, den alle Frauen anbeteten.

„Ich würde nie spielen, die Leute müßten sich dann vor ihrem eigenen Lachen fürchten. Aber so schwer, wie heute, war mir noch nie; ich bin wie ein Gespenst, das umherschleicht und jeden warmen Menschen mit aufgehobenen Händen bittet: erlöse mich!“

„Seid barmherzig, schöne Geisterseherin, und ringt Euch um unsertwillen aus Euren dunklen Gedanken. Wir wollen keine Kassandra sehen, wir wollen unsere Prinzessin Champagner bewundern,“ rief ein junger Douglas.

Diese Worte waren kaum verhallt, als ein helles Glockenspiel ertönte, das Zeichen zum Beginn der Tafel. Man erhob sich. Guy’s Blicke hingen an seinem Bruder, Blässe und Röthe wechselten auf seinem Gesicht. Ein schwermüthiges Lächeln zuckte um die Lippen des Lord Francis. „Laß es sein, mein Liebling,“ sagte er scherzend in leisem Ton, „Feuer verbrennt.“ Und er näherte sich Melusinen, um ihr den Arm zu bieten. Sie berührte ihn mit den Spitzen ihrer Finger, aber sie wendete sich, ehe sie ihrem Führer folgte, noch einmal zu dem jungen Guy um. Wieder dies wunderbare Lächeln – wieder dieser lange flimmernde Blick. „Mein Freund,“ sagte sie dann, „dort die blonde Ellinor verwendet keinen Blick von Euch – geht, macht sie glücklich und führt sie zu Tisch.“ Aber Guy schüttelte den Kopf und schlenderte allein in den Speisesaal.




Lord Francis hatte in einem Anfall von Ueberdruß an dem Londoner high life ein Jahr in Paris verlebt. Dort ging die Sonne der Variétés, Melusine mit den seegrünen Augen, vor ihm auf, und er gerieth in eine Leidenschaft für diese wunderbare Schauspielerin, die ihn beinah dazu gebracht hätte, ihr seine Hand und seinen altaristokratischen Namen zu Füßen zu legen. Daß es nicht leicht war, bei ihr Zutritt zu erlangen, steigerte nur sein Verlangen nach ihrer Bekanntschaft. Man erzählte von ihr, daß sie in die tiefste Trauer versunken sei um einen jungen, schönen Schauspieler, der vor wenigen Monaten in Folge eines Sturzes mit dem Pferde gestorben, als er mit ihr um die Wette ritt. Sie erschien zu keinem jener Feste, deren Krone sie sonst zu sein pflegte, und zeigte sich außer auf der Bühne nur in ihrem Wagen öffentlich. In die Polster ihres kleinen eleganten Coupés gedrückt, lag sie anscheinend theilnahmlos, umgeben von Wolken von schwarzem Flor und Seide. Der Wind hob zuweilen den langen schwarzen Kreppschleier ihres Hütchens und ließ das bleiche Gesicht und die halbgeschlossenen Augen erkennen. Es war ein anmuthiges Bild der Apathie. Melusine sah aus, als ob sie sich nicht geregt haben würde, selbst wenn es den Pferden beliebt hätte, mit ihr einem Abgrunde zuzujagen. Und am Abend eines solchen Tages, an dem sie so im Bois de Boulogne erschienen war, trat sie vielleicht in einem Molière’schen Lustspiele auf. War das dieselbe Melusine?

Wer dies wunderbare Geschöpf auf der Bühne sah, in einer classischen Schöpfung oder in irgend einem jener Ephemeridenstücke, denen sie erst Leben und Seele einhauchte, der mußte daran zweifeln. Das sprudelte und vibrirte, lächelte und flog, scherzte und kokettirte, wagte und gewann – als keckster, graziösester Uebermuth, der je über die Breter gegaukelt. Ihr Geist schuf jede Rolle – sie malte jede Gestalt nach ihrer Weise – und immer war sie lebens- und effectvoll. Die Lichter und Schatten waren oft frappirend, aber immer naturwahr. Ihre Frische der Auffassung entzückte und riß den kältesten Philosophen hin. Der blasirte Lord fühlte sich bald von ihr in einer Weise gefesselt, wie ihn nichts zuvor festgehalten. Er sah, dachte und träumte nichts mehr, als die junge Schauspielerin der Variétés. Daß seine prächtigen Bouquets zurückgeschickt wurden, seine kühnen Reiterkünste vor ihren Fenstern keine Beachtung fanden, entflammte ihn nur noch mehr. Er hatte aber Glück. Melusine’s Pferde gingen eines Tages durch und er warf sich ihnen entgegen, mit fester Hand in die Zügel greifend und die wilden Thiere bändigend. Da der Kutscher vor Schrecken unfähig geworden war zu fahren, so stieg Lord Francis auf den Bock und kutschirte die Angebetete seines Herzens nach Hause mit der äußersten Gewandtheit.

Die Art, wie er nach beendigter Fahrt sich ihr vorstellte, mußte ohne Zweifel piquant genannt werden, auch war der Fremde schön genug, einer Frau zu gefallen. Melusine dankte denn auch ihrem Retter durch ihr gefährlichstes Lächeln und erlaubte, daß er sich am nächsten Tage nach ihrem Befinden erkundigen dürfe. Ihre zarten Wangen waren bei diesem Unfalle aber nicht um einen Schein blässer geworden, kein Schrei war ihren Lippen entflohen, die junge Schauspielerin hatte nur die Augen geschlossen und den kleinen Fächer in ihren Händen in Stücken gebrochen – das war Alles. Sie zeigte ihn scherzend ihrem neuen Bewunderer; Lord Francis erbat sich das zertrümmerte Spielzeug zur Erinnerung an diese erste Begegnung und erhielt es auch. Seit jenem Tage kam Lord Francis häufig und immer häufiger, und allmählich versuchte sich die Pariser jeunesse dorée darein zu finden, daß ein Ausländer ihr in der Gunst der schönen Melusine den Rang abgelaufen. Nun, die Sonne hat das unbestrittene Recht, auf Gerechte und Ungerechte zu scheinen; jetzt trafen die glühenden Strahlen einen Ungerechten, man nahm sich vor, geduldig zu warten, bis ein Gerechter wieder dieses Glückes theilhaftig werden würde. Melusine war also die erklärte Freundin des Fremden, und nie

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