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verschiedene: Die Gartenlaube (1865)

und kommen endlich bei den großen Deltabildungen der Ströme als Niederschlag wieder zum Vorschein.

Nachdem wir noch eine Stunde hinangestiegen waren, erreichten wir das „Jägerhäusl“, eine Hütte, welche den Eindringlingen in diese Orte der Stürme und des Verderbens einen nothdürftigen Schutz gewährt. Von hier konnte man deutlich in die zerklüfteten Wände hineinschauen, auf deren Spitzen und deren Scharten unvergängliche Schneelager sich festgesetzt haben. Zur eigentlichen Gletscherbildung kommt es in den bairischen Kalkalpen nicht; die blauen Eismassen, welche hie und da den Abfall der Wände trennen, sind eigentlich nur fest durchgefrorener Schnee. Denn das Gestein ist zu porös und auch wegen seiner Weichheit von der Atmosphäre so abgewittert, daß es nirgends die sanften Neigungen, die Kuppelform darbietet, wie die Centralalpen, auf deren krystallinischem Gestein sich das Eis leicht aufhäuft.

Eine Portion Branntwein, die den Culturmenschen in der Ebene vollständig betrunken machen würde, läßt ihn hier vollständig nüchtern. Die große Anstrengung, die feine Luft „zehren’s“ wieder weg. Eine solche Libation nahmen wir im „Jägerhäusl“ vor, und nun galt es, unsere Genossen einzuholen, die jetzt wohl auch schon an einer Stelle angekommen sein mochten, wo sie den Schlitten stehen lassen mußten.

Nach einem beschwerlichen Marsche auf den von den Wänden niedergerollten spitzigen Steinen, auf denen eben ein während der Nacht frischgefallener Schnee zerfloß, kamen wir in’s Ofenthal. Hier ist bei königlichen Gemsjagden der „Anstand“. Hunderte von Treibern haben vorher Tage lang auf den schroffsten Gebirgen eine Kette gebildet, welche das geängstigte Wild bestimmten Punkten zujagt. Mit ungeheurem Geschrei – das Hetzen macht diesen Leuten Vergnügen – scheuchen sie die Thiere nach den angegebenen Zielen. Sie haben es übrigens mit keinem zu unterschätzenden Gegner zu thun; die „Leitgeißen“ sind schlau und erspähen jede Gelegenheit, die Kette zu durchbrechen und nach sicheren Revieren zu entkommen. Auch dürfen sich die Treiber vor den Steinen in Acht nehmen, welche durch die Flucht großer Rudel von den Graten herabgewälzt werden. Oft weiß auch die Herde kein anderes Mittel der Flucht, als sich einem der Treiber gerade entgegenzustürzen; da bleibt diesem nichts übrig, als sich platt auf den Bauch zu legen und die hohlhörnigen Wiederkäuer über sich stampfen zu lassen. Er darf dann von Glück sagen, wenn er mit ein paar Löchern im Kopfe davonkommt. An solchen Punkten, wie z. B. hier in der engen Schlucht des Ofenthales, stehen dann die Cavaliere und schießen auf die vorübereilenden Thiere aus Büchsen, welche ihnen ihre hinten postirten Leibjäger fortwährend geladen überreichen. Von den Mühen der Treiber haben die vornehmen Jäger meist keinen Begriff.

Unsere Knechte, die auch dies Treiberhandwerk wohl verstanden, erwarteten uns. Der Schlitten wurde zurückgelassen und nun ging es bergan. Der eigentliche Ernst der Partie begann. Der Hirsch versteigt sich zwar selten so hoch wie dahin, wo wir eben einen todten holen wollten; in der Regel überschreitet er die Grenze des Baumwuchses nicht, da er auf dem nackten Gestein überaus unbeholfen ist. Aber bei schönem Wetter kommt es doch von Zeit zu Zeit vor, daß er in höhere Regionen geräth – und gestern war ein prachtvoller Tag gewesen. Die Baumstämme wurden spärlicher; oft hatte eine solche „Rinne“ ihren Bestand durchrissen. Häufig, wenn der Fels zu steil hinanstieg, hielten wir uns an den zuverlässigen Legföhren. Die Welt versank immer tiefer und schon kamen am Horizont, der sich in der Höhe mehr aufhellte, Eiskuppen zum Vorschein, die an dreißig deutsche Meilen entfernt sind. Es wurde bitter kalt; ein eisiger Wind trieb die Wolken unter uns umher, wie Staubsäulen auf einer Chaussee.

Endlich handelte es sich darum, auf zwei Fuß breitem Raume eine Kante zu umgehen, die in eine unabsehbare Tiefe abstürzt und an der man sich nur durch Festhalten an einigen verdorrten Latschen herumhelfen kann. Eben entstand eine Lücke im Gewölk und der Spiegel des Hintersees schaute herauf. Dann schloß sie sich wieder, eine andere tauchte daneben auf und so fort. Mir begann wirr im Kopfe zu werden; ich sah, daß ich im Begriffe stand, den horror vacui zu bekommen, das heißt, schwindelig zu werden. Aus Erfahrung wußte ich, daß hier alles Ermannen und Ermuthigen, alles Zwingenwollen nichts hilft; wohl aber, daß ich durch Herumgehen um jene Ecke mich in eine Lage versetzen könnte, in der ich weder zum Vor- noch zum Rückwärtsschreiten mehr die Besonnenheit hätte, mich so in arge Gefahr, meine Begleiter aber in bittere Verlegenheit brächte. Denn an solchen Stellen hat Jeder mit sich selbst zu thun und kann nicht einen Menschen führen, der im Stande ist, sich und ihn hinabzustürzen.

Ich sagte also meinen Begleitern, ich wolle sie hier erwarten. Sie waren’s zufrieden, und in wenigen Secunden standen sie jenseits des Abgrundes.

Die Zwischenzeit benützte ich, um die umgebende Vegetation zu betrachten. Das Kleinwerden der Baumformen, die Legföhre, die zwergigen Stämme lehren, daß wir der Grenze des Pflanzenwuchses näher gerückt sind. Es ist ein trauriger Anblick, dessen ich bald überdrüssig wurde. Ich nahm mein Perspectiv heraus und sah mich um. Da erblickte ich zu meiner freudigen Ueberraschung in der Entfernung fünf Murmelthiere. Eines lag auf den Pfoten und schaute gerade in meiner Richtung her, gewiß aber, ohne mich zu sehen; ein anderes stand auf den Hinterfüßen und nagte an einer Pflanze, vielleicht einem Bärenklau oder Alpenwegerich; ein drittes hockte auf einem Block und machte Männchen, wie ein Hase. Zwei andere scherzten miteinander, indem sie sich wie junge Hunde wechselseitig über den Haufen warfen. So bot selbst die hohe Wüste frohes Leben. Ich ergötzte mich sehr an den Possen dieser „Mankein“, wie sie unser Volk nennt. Es waren vielleicht vorläufig ihre letzten, denn schon der nächste tiefe Schnee kann sie in ihre Winterwohnungen treiben, welche sie vor dem nächsten Juni nicht mehr verlassen.

Mit einem Male erscholl ein gellendes Jauchzen von der Kante her; die Murmelthiere gaben ein tiefes Pfeifen von sich und verschwanden. Andrädl tauchte zuerst um die Ecke herum auf, er schwang ein Beil. Gleich darauf kam Jack mit einem ungeheuren Hirsch beladen und dicht hinter ihm Graßl, der, wie mir schien, sorgsam die Geweihe vom Boden abhielt. Es war so, ich sah nachher, daß er es thun mußte, denn jedes Verfangen der Enden an den Latschenästen und Festhaken derselben auf dem Boden konnte den armen Jack in den Abgrund schleudern. Endlich kamen sie mir nah. Andrädl mußte fortwährend die Latschen auf dem Boden aushauen, damit Jack sichern Fuß zu fassen vermochte; denn sie waren noch immer nur wenige Schritte von der Wand entfernt, wo ein Fehltritt die Wanderer unfehlbar schleunigst in die nächste Nähe des viertausend Fuß tiefer liegenden Hintersees befördert hätte. Auch ein paar große, verwitterte Stämme, die, von Blitzen getroffen, wohl schon seit einem Jahrzehnt da auf dem Felsen lagen, hatte der unermüdliche Andrädl zu beseitigen, damit sein Freund Jack nicht zu nah an die verderbliche Senkung gerieth.

Der Hirsch wog seine zwei Centner. Die Sehnen der vier Füße waren durchstochen und der eine Fuß nach Waidmannsart durch den Schlitz im andern durchgesteckt. Alle vier kreuzten sich auf Jack’s Brust. Es war wirklich ein Zehnender, den er trug.

Ich sah, daß Jack trotz der Kälte von Schweiß triefte, und fragte Graßl, ob sie sich hier nicht noch ein wenig ausruhen wollten.

„Da nicht,“ sagte dieser, „der Wind hat sich gedreht, das Gewölk wird wieder heraufgejagt und wir bekommen einen tüchtigen Schneesturm.“

Dagegen war freilich nichts einzuwenden. So stieg ich denn mit den Dreien durch das Krummholz hinab. Sie hielten immer die Ordnung ein, in der sie um das verhängnißvolle Eck gekommen waren, und ich weiß wirklich nicht, wer den mühsameren Posten hatte. Jack trug freilich die Last, aber Graßl konnte sich seiner Arme nicht frei bedienen, was beim Bergabsteigen als große Beschwerde erscheint, und Andrädl hatte es fast immer mit Latschen und Baumstämmen zu thun. Nach schweren Mühen erreichten sie im Ofenthale den Schlitten und das Gröbste war überstanden.

„Wie sieht’s denn da weiter oben aus?“ fragte ich Graßl.

„Es kommen nicht gar viel schwierige Stellen, aber manchmal kann’s eben doch schief gehen. So gingen wir z. B. im vorigen Jahre ganz hinauf auf den Hochkaltern. Sie wissen, daß er nur um wenige Fuß niedriger ist, als der Watzmann. Wie’s aber im Vergleich mit diesem zu steigen ist, das haben Sie selbst gesehen. Da war auch ein junger Maler aus Wien dabei, ein tüchtiger Bergsteiger. Als wir in’s Ofenloch kamen, war er der Letzte. Sie wissen, das Ofenloch ist eine enge Schlucht, die man nur über eine fußbreite Schneid’ erreicht, von der’s links und

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