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verschiedene: Die Gartenlaube (1865)

oder sonst nahe beisammen wohnen, und Correspondenz-Convicte, aus Brüdern bestehend, die zerstreut leben. Die Convicte und Convente führen meist biblische Namen; so heißt der Convict des Königreichs Sachsen Salem, der Convent in Moabit (Berlin), der aus sechs Convicten besteht, Ebenezer, im Rauhen Hause selbst sind die sechs Convicte Bethlehem, Nazareth, Bethel, Cana, Emmaus und Tabor, die den „Convent des Brüderhauses“ bilden. An der Spitze jedes Convicts steht ein Convictmeister, vom Oberconvict eingesetzt; ohne Concession des Oberconvicts kann sich kein Convict bilden und keiner auflösen. Die „geschlossenen“ Convicte versammeln sich regelmäßig zu gewissen Zeiten, mindestens alle sechs Wochen, sonst alle vierzehn Tage. Die Sitzungsprotokolle sendet der Convictmeister an den Bundes-Obersten, Wichern, dieser sie mit seinen Randbemerkungen versehen zurück an den betreffenden Convict. Die Verhandlungen in den Convictversammlungen gelten als Familienangelegenheiten der Brüderschaft; gegen Nichtbrüder darf davon nicht gesprochen werden.

Die sechs Convicte in Horn sind nun zugleich die Pflanzschule des Bundes. Aus jungen Männern zwischen zwanzig und dreißig Jahren, meist dem Handwerker- und Lehrerstande angehörig, natürlich vor allen Dingen vom rechten Glauben beseelt, recrutirt sich der dortige Convent, sobald der Abgang eines Mitgliedes als Sendbruder eine Lücke reißt. Sie werden vom Vorsteher Wichern, vom Inspector Rhiem und von den Oberhelfern unterrichtet und geschult, als Gehülfen der Kinderanstalt ein paar Jahre praktisch ausgebildet, um dann gleichfalls als Lehrer, als Missionäre, als Gefangenwärter, Krankenpfleger, Hausväter und Gehülfen in anderen Rettungshäusern in die Welt zu gehen. Die „Ordnungen“, nach denen Leben und Wirken der Brüder geregelt ist, zeugen sowohl von dem „frommen“ als von dem praktischen Sinne Wichern’s, der ohne Zweifel an der Aufstellung dieser Ordnungen den hervorragendsten Antheil hat. Zum täglichen Gebet und täglichen Bibelgebrauch, zur gemeinschaftlichen, periodisch zu wiederholenden Fürbitte für den Erfolg des Bundes und für die Ausbreitung des Reiches Gottes unter den Heiden, zum regelmäßigen täglichen Gebrauch der schon erwähnten „dreifältigen Schnur“, zur fleißigen Theilnahme an den sogenannten Gnadenmitteln der Kirche verpflichten sich die Brüder wie für Alles, was ich gleich anführen werde, durch Handschlag und Namensunterschrift, und werden durch Verweis vom Vorsteher Wichern, in zweiter Instanz vom Oberconvict durch Exclusion und Verlust des Anspruchs an die gemeinschaftliche Hülfscasse bestraft. Sie sind in ihrem Missionsberufe je ihren unmittelbar Vorgesetzten, resp. dem Vorsteher zu Gehorsam verpflichtet; Jedem wird bei der Entsendung bekannt gemacht, wann er sich verheirathen kann; will er zur Verlobung schreiten, so hat er dem Vorsteher der Brüderschaft zuvor vertrauliche Anzeige zu machen; Jeder hat die Verbindung mit dem Brüderhause durch Correspondenz mit dem Vorsteher, durch Entrichtung des „Bruderthalers“ an die gemeinschaftliche Hülfscasse, durch Bericht über seine Convictbrüder, wenn diese vielleicht Aergerniß geben und in Gefahr sein sollten, irre zu gehen und zu fallen, an den Vorsteher, durch Ueberwachung und sittliche Förderung der ihm etwa beigegebenen jüngeren Gehülfen, durch Anrufung des Vorstehers in Collisionsfällen, aufrecht zu erhalten; Jeder verpflichtet sich, ohne Consens seiner Vorgesetzten keinerlei fremdes Amt oder Handlung neben dem ihm anvertrauten Berufe zu treiben.

Ob man diese wohl- und festgegliederte Verbindung einen Orden nennen darf? Ich überlasse die Entscheidung dem Leser und fahre in dem Bericht über meine Wanderung fort.

An das Brüderhaus stößt das Pensionat, der westliche Flügel des mehrerwähnten Gebäudes. Hier werden Knaben bemittelter Eltern gegen Kostgeld als Zöglinge aufgenommen. Im Gegensatz zu den Eleven der eigentlichen Rettungsanstalt sind es lauter Fremde, etwa zwanzig, Hamburg hat zu dem gegenwärtigen Bestand keinen einzigen geliefert. Der Oberhelfer sagte mir mit einer gewissen Genugthuung, daß Söhne sehr vornehmer Leute, Kinder von Grafen und Baronen, darunter seien. Ein paar aus Kurland; woher die andern waren, die er nannte, habe ich vergessen. Es sind Knaben, deren Erziehung den Eltern schwierig wurde. Die Einrichtungen im Pensionat sind denen in der Kinderanstalt ähnlich, nur bemerkt man, daß bei aller Einfachheit die Rücksicht auf Sparsamkeit nicht so maßgebend war. Auch der Unterricht ist umfassender, er soll einem Gymnasialunterricht bis zur Secunda (einschließlich) ungefähr gleich stehen. Die Pensionäre unterliegen derselben religiösen Disciplin, wie die Kinder der Rettungsanstalt und werden auch in körperlicher Arbeit geschult.

Wir gingen nun quer durch die Colonie, an im Garten arbeitenden Kindern vorüber, mit denen sich zu unterhalten dem Fremden indeß nicht gestattet ist, vom nordwestlichen Winkel nach dem südöstlichen.

„Ist das Wichern’s Wohnung?“ fragte ich, als wir in die Nähe eines schönen, leuchtend weiß angeworfenen Hauses gelangten, auf das ich schon vor meinem Eintritt in die Colonie auf der Horner Straße von einem Vorübergehenden, den ich nach dem Wege fragte, aufmerksam gemacht war.

„Das ist die Wohnung des Herrn Doctor Wichern,“ entgegnete der Oberhelfer; „er lebt im Sommer hier, den Winter über in Berlin.“

„Man darf ja wohl etwas näher treten, um sich die hübsche Villa ein bischen anzusehen ?“ sagte ich und bog auf den Weg zu, der in das die Wohnung vollständig umrahmende Gebüsch führte.

„Nein,“ sagte der Oberhelfer eilig, „das Gebäude ist lediglich Privatwohnung, das geht nicht an.“

„Nun,“ erwiderte ich stehen bleibend, „ich beabsichtige auch gar nicht, in die Privatwohnung zu dringen, aber einen Blick aus größerer Nähe auf das Haus zu werfen, wird doch verstattet sein?“

„Ich bedaure, auch der Garten ist Privatgarten,“ sagte der Candidat, „das Haus wie der Garten ist Eigenthum des Herrn Doctor Wichern und liegt zwar hier am Rande der Anstalt, gehört aber derselben nicht.“[1]

Also weiter! Ungefähr in der Mitte des Gartens liegt die Druckerei des Rauhen Hauses; abermals ein geräumiges, seinem Zwecke wohl entsprechendes Gebäude. Sie druckt zunächst die Schriften der Verlagsbuchhandlung, nimmt aber auch anderweitige Aufträge an. Sie steht unter einem Factor, und der Gewinn, den sie macht, ist für die Kinderanstalt bestimmt. In ihr, wie in der dicht dabei liegenden Buchbinderei, werden auch Zöglinge unter Leitung von Brüdern im Setzen, Drucken und Buchbinden unterwiesen.

Im südöstlichen Winkel fand ich das Häuschen, das der ganzen Anstalt den Namen gegeben hat – Rauhes Haus. Es war das einzige Gebäude, das im Jahr 1833, wo die Anstalt begründet wurde, auf dem geschenkten Terrain stand, ein Schweizerhäuschen mit Strohdach, von breitastigen, alten, schönen Bäumen beschattet. Wichern und seine Mutter wohnten hier mit den ersten Zöglingen. Um die Erinnerung an das allmähliche Emporwachsen der Anstalt aus winzigen Anfängen zu wahren, hat man es in seiner ursprünglichen Gestalt gelassen. Die Pietät ist wohlbegründet, und der Contrast zwischen einst und jetzt, wo sechzehn bis zwanzig Gebäude auf dem ehedem beinahe wüsten Terrain stehen, frappant. Das Häuschen mit Strohdach hieß eigentlich Ruge’s Haus, nach dem Namen eines früheren Besitzers; Ruge’s Haus ward im Laufe der Zeit verhochdeutscht in Rauhes Haus, und die Leiter der Rettungsanstalt adoptirten diesen Namen. Jetzt dient es als Familienhaus für Knaben.

„Für das Crucifix scheinen die Herren Brüder eine besondere Vorliebe zu hegen,“ äußerte ich zu meinem Begleiter, indem wir das Zimmer der Brüder des ,Bienenkorbs’, eines andern Familienhauses, verließen und die Treppe hinunterstiegen – über den Pulten hing nämlich hier wie fast überall ein Bild des Gekreuzigten[2]

„Aber Sie werden das doch nicht antiprotestantisch oder katholisirend finden?“ sagte der Oberhelfer.

„Darauf reflectire ich nicht,“ erwiderte ich, „ich finde es nur charakteristisch für den hier herrschenden Geschmack.“

Wir näherten uns nun wieder dem Mittelpunkt, von dem wir ausgegangen waren, dem Betsaal und der Inspectorwohnung. Damit war unser Rundgang beendet. Wohl hatte ich den Wunsch, dem Unterrichte beizuwohnen, und sprach ihn auch aus.

Mein Begleiter erklärte mir jedoch, daß das nicht gestattet sei, außer auf besondere höhere Erlaubniß, zu besonderem Zweck. Da ich keinen Zweck angeben konnte, als die Wißbegierde oder Neugierde eines Schriftstellers, so mußte ich verzichten. Der Candidat ersuchte mich noch, in das Fremdenzimmer der Inspectorwohnung zu treten, um meinen Namen in ein für diesen Zweck bestimmtes

  1. Durch die Unterstützung seiner Gönner ward Wichern Ankauf des Terrains und Bau des Hauses ermöglicht.
  2. Ein solches steht auch auf dem Arbeitstische des Inspectors Rhiem.
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verschiedene: Die Gartenlaube (1865). Ernst Keil, Leipzig 1865, Seite 651. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1865)_651.jpg&oldid=- (Version vom 22.10.2022)